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Bea schloss die Augen, presste die Lider zusammen und stellte im Geiste die Frage, die sie am meisten beschäftigte. Dann warf sie das Orakel mit eckiger Bewegung, hastig und ungelenk, wobei die Geste ihre Angst davor auszudrücken schien, diesem Unsinn Glauben zu schenken. Die Hölzer fielen klackend in einer bizarren Anordnung auf den Boden, dann herrschte Stille. Sie und Mei Ling beugten die Köpfe darüber und starrten einen Moment auf das vor ihnen am Boden liegende Gebilde. Beas halblanges Haar verdeckte ihr Gesicht.
»Sieht interessant aus«, meinte Mei Ling nach einer Weile und legte die Stirn in Falten. Im Innern des Tempels sprach sie unbewusst leise. Vielleicht vertrug Buddha, auch wenn es sich über dem Altar um den lachenden Buddha handelte, der Glück und Wohlstand brachte, keine allzu lauten Stimmen und erwartete huldvolle Ehrerbietung.
Bea strich sich nervös über den Hals. »Ich kann nichts damit anfangen.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Mei Ling und fügte hinzu: »Aber genau dafür gibt es ja Interpretationshilfen.« Sie prägte sich das Bild des Orakels ein, ging hinüber zur Wand, an der ein hölzerner Kasten mit Papierstreifen hing und zog nach einigem Suchen und Blättern einen Streifen daraus hervor.
Eine gewisse Spannung ergriff von Bea Besitz, die dazu führte, dass ihre Hände unruhig und feucht wurden. »Na, hast du etwas herausgefunden?« Mit dem Kopf deutete sie Richtung Orakel.
»Ich glaube, ich habe den falschen Papierstreifen erwischt.« Mei Ling verglich die gezeichnete Orakelanordnung auf dem Papier mit den vor ihnen liegenden Stöckchen, schüttelte den Kopf und ging noch einmal zum Holzkasten zurück. Nach einem Augenblick kehrte sie mit einem anderen Stück Papier in der Hand wieder.
»Hier steht frei interpretiert …« Aufmerksam sah sie Bea an: »Nur wenige Kilometer entfernt von dir gibt es jemand, der eine wichtige Rolle in deinem Leben spielen wird.«
»Aha.« Bea dachte sofort an Johannes Frier. Sie wagte fast nicht, es sich einzugestehen, aber sie hoffte jeden Tag, dass er wieder anrufen würde. Bislang hatte sie der Versuchung widerstanden, selbst zum Hörer zu greifen. Sie wollte unnahbar bleiben, nicht zu eindeutig werden, und damit der geheimnisvollen Anziehungskraft zwischen ihnen noch mehr Tiefe verleihen. Der Abend in Köln, im ›Kap am Südkai‹ und der flüchtige Kuss, den er ihr zum Abschied gegeben hatte, beflügelten ihre Fantasie.
»Warte, das war noch nicht alles.« Mei Ling sah auf.
»Dann spann mich bitte nicht länger auf die Folter.«
»Eine derzeit prekäre finanzielle Lage entpuppt sich als Ausgangssituation für monetären Segen.«
»Das Ahrstübchen!« Bea lachte. »Aber das ist derartig vage formuliert, dass du die Sätze auf jeden x-beliebigen Menschen anwenden könntest, egal, wie die Hölzchen gefallen sind. Auf dich genau wie auf mich.«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht«, sagte die Chinesin und fügte hinzu: »Weder habe ich Geldprobleme noch gibt es jemanden, der nur wenige Kilometer von hier entfernt lebt und auf mich wartet.«
»Vielleicht weißt du nur noch nichts davon!«, neckte Bea. Sie schmunzelte. »Komm, jetzt bist du dran. Wirf das Orakel für dich.«
»Nein …«
»Du musst.«
Mei Ling zierte sich noch ein bisschen, aber dann sammelte sie die Hölzchen auf, schloss die Augen und konzentrierte sich. Mit einem Schwung warf sie die Stäbe auf die Erde, und das Procedere wiederholte sich. Nachdem sie das Bild genau betrachtet hatte, ging sie erneut zum Holzkasten und zog nach einigem Suchen das dazu passende Papier daraus hervor. »Also, hier steht …« Mei Ling runzelte die Stirn, dann wurde sie auf einmal blass.
»Was denn?« Bea fühlte Mei Lings Schreck und bekam Angst.
Mei Ling schluckte. »Vergiss es. Das willst du nicht wissen.« In einer plötzlichen Regung knüllte sie das Papier zusammen, stopfte es in ihre Hosentasche und sagte mit gesenktem Blick: »Lass uns jetzt lieber gehen, bitte.«