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Nachdem Bea und Mei Ling das Orakel geworfen hatten, kehrte Bea verstört ins ›Ahrstübchen‹ zurück, wo sie die Freundinnen am Küchentisch versammelt vorfand. Ihre starren Mienen sprachen Bände, und sie hatte das Gefühl, als herrsche dicke Luft. Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch und hörte, dass Bruni vorhatte, dem ›Ahrstübchen‹ den Rücken zu kehren. Die anderen schienen zumindest unentschlossen, ob sie ihrem Beispiel folgen sollten.
Matt lehnte sie sich zurück an das Polster der Küchenbank und massierte müde ihre Schläfen. Für heute hatte sie mehr als genug. Sie fühlte sich hohl und leer, ausgepumpt wie ein Gartenteich, der darauf wartete, von Schlick und Algen befreit zu werden. Vielleicht ist es das einzig Richtige, dachte sie. Wir begraben das Projekt und wenden uns wieder unserem alten Leben zu. Allerdings wäre ihres dann wohl um einige Freundinnen ärmer.
Resigniert versuchte sie, den sich weiter entspinnenden Wortwechsel zu lenken, gegenseitige Vorwürfe zu relativieren und zu entkräften, und ihnen die Schärfe zu nehmen. Wenn Emotionen Wellen schlugen, war es klüger, sich zu distanzieren, so hatte sie immer gehandelt, nicht nur in geschäftlichen Besprechungen, und diese Herangehensweise schien auch jetzt ein Rettungsanker zu sein. So hatten sie wenigstens die Chance, sich nicht gegenseitig mit der Wucht ihrer Vorwürfe zu erschlagen, in ihnen unterzugehen wie Schwimmer in der Brandung. Aber so ganz gelang es Bea nicht, die Diskussion zu lenken. In der folgenden halben Stunde versuchte sie es immer wieder, aber im Grunde war es zwecklos. Sie sprachen durcheinander, waren empört und aufgebracht und erst, als alle Worte gesagt, alle Gebärden erschöpft und alle Blicke verschleudert waren, kamen sie endlich zur Ruhe. Es wurde still, und in diese Stille hinein schlich sich eine leise Spur der Versöhnlichkeit.
»Selbst wenn wir unsere Differenzen in den Griff bekommen, bezweifle ich, dass wir die Probleme mit den Einheimischen geregelt kriegen«, mutmaßte Bruni.
»Solange die Frauen im Ort uns als Männer fressende Weiber betrachten, gewiss nicht«, schimpfte Caro bitter.
Die anderen nickten.
»Bleibt die Frage: Wie können wir allen hier klar machen, dass wir nur unsere Ruhe und eine gute Nachbarschaft wünschen?«
»Keine Ahnung«, Ulrike schüttelte den Kopf.
»Immerhin haben wir uns bereits viel Mühe gegeben«, sagte Bruni.
»Und manche haben es ja auch richtig verstanden«, antwortete Bea.
»Jetzt mal ehrlich«, sagte Caro. »Wir haben sie zwar eingeladen, aber wir verhalten uns auch ein kleines bisschen überheblich, oder? Wir quatschen von Emanzipation und ökonomischer Unabhängigkeit, laufen mit bunten Ketten herum, sehen dadurch schon einmal ein bisschen exotisch aus, und irgendwie verhalten wir uns auch so. Vier Kölnerinnen um die 50, allein unterwegs. Kein Wunder, dass wir ihnen suspekt sind.«
»Verdammt noch mal«, Bruni war ärgerlich. »Das entschuldigt noch lange nicht diese Wandschmierereien.«
»Hm.«
»Auf jeden Fall sollten wir nicht einfach die Segel streichen und klein beigeben. Außerdem sind die Wetterprognosen gut. Was haltet ihr davon, wenn wir uns eine Frist setzen?«, fragte Bea.
»Meinetwegen«, stimmte Ulrike zu.
»Vielleicht hast du recht«, gab Bruni nach und sagte nachdenklich: »Wie hat Bertolt Brecht es noch gleich ausgedrückt?« Sie sah die Freundinnen an und zitierte: »Wer kämpft, kann verlieren, aber wer nicht kämpft, hat schon verloren.«
»Da ist etwas dran«, Caro und Ulrike nickten.
»Als Verlierer haben wir uns doch nie gefühlt, oder?«, fragte Bea, die plötzlich Auftrieb bekam, und blickte mit erhobenem Kopf in die Runde.
Bruni und Caro schüttelten entschieden den Kopf, doch Ulrike, die an ihren Mann dachte, sagte voller Selbstironie: »Bis vor Kurzem jedenfalls nicht.«
»Dann sollten wir auch in Zukunft auf der Gewinnerspur bleiben!«, schlussfolgerte Bea.
»Außerdem wäre es unsolidarisch, wenn wir mitten in unserer Plakat- und Unterschriftenaktion für den Erhalt des Tempels die Flucht ergreifen«, gab Caro zu bedenken.
»Das ist ein Argument.« Bruni zupfte am Kragen ihres Rollkragenpullovers.
»Also?« Bea sah erwartungsvoll in die Augen der Freundinnen, und sie war froh, darin den Schein wiederkehrenden Elans und neu erweckter Zusammengehörigkeit zu erkennen.
»Wir sehen uns alles noch exakt drei Monate an«, schlug sie rasch vor und sagte: »Wenn das ›Ahrstübchen‹ dann läuft, wir uns verstehen und wider Erwarten hier doch noch wohl fühlen sollten, machen wir weiter. Wenn nicht, hören wir auf. Einverstanden?«
Die Freundinnen überlegten, und nach einer Weile hieß es mehr oder weniger euphorisch von allen Seiten: »Einverstanden.«
Bea war die Erste, die ihre Hand auf den Tisch legte. Dann folgte Ulrike, und schließlich bauten auch Caro und Bruni mit am Händeturm. Ihre Augen blitzten.
Es fühlt sich gut an, so viel geballte Kraft zu spüren, dachte Bea und merkte, wie eine zentnerschwere Last von ihren Schultern fiel.
»Ihr lasst euch doch nicht etwa einschüchtern?« Mit einem demonstrativen Lächeln im Gesicht betraten Christine Schäfer und eine junge Frau, die sie beim Fußballspiel auf dem Platz in Bad Neuenahr gesehen hatten, den Raum. In der Hand hielt Christine ein Strohblumengesteck, das sie den Freundinnen überreichte.
»Damit ihr seht, dass es auch Menschen hier gibt, die euch mögen«, lächelte sie. »Den Wangs habe ich auch schon eines gebracht.«
Die Freundinnen waren gerührt, und obwohl das Gesteck optisch eher ein Problem war, erhielt es einen Ehrenplatz auf der Theke.
»Darf ich vorstellen? Meine Cousine Miriam. Sie spielt bei ›Eintracht Neuenahr‹«, sagte Christine.
»Vielleicht solltest du besser sagen spielte«, erwiderte Miriam. Sie schüttelte ihre hellbraunen Locken und begrüßte Bea, Bruni, Caro und Ulrike mit Handschlag. Das Gespräch drehte sich sofort um Fußball. Caro erzählte von ihrer Tätigkeit für den 1. FC Köln, und Miriam und Christine kamen relativ schnell auf die Misere beim Frauenfußballverein aus Neuenahr zu sprechen.
»Wenn wir nicht innerhalb der nächsten vier Wochen einen neuen Sponsor finden, gehört der Verein der Vergangenheit an«, flüsterte Miriam mit ernstem Gesicht. »Außerdem fehlt uns eine Top-Spielerin.«
»Kann der DFB nicht helfen?«, fragte Caro.
»Sie behaupten zumindest, dass sie uns bei der Suche unterstützen, aber ich habe meine Zweifel. Wir sind ja nur ein kleiner Verein und nicht wirklich bedeutend.«
»Aber ihr spielt doch Bundesliga.«
»Ja, aber es ist doch etwas ganz anderes, ob Frauen oder Männer in der Bundesliga spielen«, erklärte Miriam.
Caro zog die Stirn in Falten, dann wandte sie sich an Bruni. »Sag mal, diese Wang Ai, die spielt doch in der chinesischen Nationalmannschaft, oder?«
Bruni nickte.
»So viel ich weiß, überlegt sie, in Köln zu studieren?«, fragte Caro.
»Aber erst im nächsten Jahr«, antwortete Bruni.
»Vielleicht möchte sie jetzt schon bleiben?« Caro sah in die Runde. »Mit ihrer Hilfe könnte die ›Eintracht Neuenahr‹ zumindest spieltechnisch wieder nach vorne kommen.«
»Ich weiß nicht, ob die VR China ihr das nötige Visum erteilen würde …?«, nahm Bea den Gedanken auf.
»Das wird mit Sicherheit schwierig, und wer weiß, ob ihre Mannschaft sie überhaupt hergibt«, argwöhnte Christine.
Caro spürte, wie der Ehrgeiz sie packte. »Aber: Einen Versuch ist es wert«, erwiderte sie. »Es wäre doch gelacht, wenn sich da nicht etwas machen lässt.«