40

 

Mehrere Tage waren vergangen, bevor sie wieder hinunter zum Ahrufer ging. Selbstbewusst warf sie den Kopf in den Nacken, als sie vor ihm stand, und lächelte ihn an. Er nickte ihr jedoch nur kurz zu, versunken in seine Übung, und sie fühlte einen leichten Stich.

Mit einem knappen Handzeichen forderte er sie auf, ihre Ausgangsposition einzunehmen und seinen Bewegungen zu folgen.

»Den Bogen spannen und auf den Adler schießen«, erklärte er kurz und machte ihr vor, wie diese Brokatübung aus dem Qi Gong funktionierte.

Wie du willst, dachte sie.

Mit einer langsamen, nach rechts ausgerichteten Drehung spannte sie einen imaginären Bogen und zielte. Wieder und wieder, und Bruni war klar, dass der Adler, den sie langsam aber sicher im Geiste erlegte, niemand anders war als Wang San. Die Übung tat gut. Sie verhalf ihr zu dem nötigen Abstand und ermöglichte es, ihre Gefühle für ihn auseinanderzudividieren. Den potenziellen Liebhaber hatte sie soeben erschossen, den Freund ließ sie am Leben.

Dieser Übung folgten weitere, und nach einer halben Stunde etwa griff sie, erfüllt von einem tiefen Gefühl innerer Zufriedenheit, zu ihren Schuhen und zog sie an. Wang San beschäftigte sich ebenfalls mit seinen Schuhen. Mit keinem Wort fragte er nach, warum sie in den letzten Tagen nicht erschienen war, und mit keinem Wort erwähnte er den Abend im Western Saloon.

Während sie sich gemeinsam auf den Weg zurück zu ihren Restaurants machten, sagte er: »Wang Ai hat hin und her überlegt, aber inzwischen ist sie von der Idee, gleich hier zu bleiben, zu studieren und für die ›Eintracht Neuenahr‹ zu spielen, ganz angetan.«

»Das freut mich«, sagte Bruni. Ihre Stimme klang etwas reserviert.

»Ihr Verein in China und der chinesische Fußballverband müssen sie freigeben, aber vor allem muss erstmal der Verein aus Neuenahr sie wirklich haben wollen. Dann sehen wir weiter. Sie hat sich übrigens schon vorgestellt und probehalber beim Training mitgemacht.«

Brunis Blick glitt über das Wasser der Ahr, das heute besonders schnell floss und dabei ein rauschendes, gurgelndes Geräusch von sich gab. »Wie schätzt du die Chance, dass man sie gehen lässt, ein?«

 »Fifty, fifty. Einerseits wird sie in ihrer Mannschaft und in der chinesischen Nationalmannschaft gebraucht, andererseits ist es für die VR China auch eine Ehre, wenn sie in Deutschland spielt. Außerdem kann sie hier wertvolle Erfahrungen sammeln.« Wang San machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. »Für nächsten Sonntag ist in Bad Neuenahr ein Freundschaftsspiel mit der männlichen B-Jugend aus Köln angesetzt worden.«

»Ein Test für Wang Ai?«

»Genau. Danach wird entschieden, ob sie sie haben wollen, oder nicht.« Mit einem Seitenblick versuchte Wang San herauszufinden, ob irgendetwas mit Bruni nicht stimmte. Sie ging ungewohnt schnell.

»Ach, die nehmen sie doch mit Kusshand. Der Verein ist froh, wenn er so eine gute Spielerin kriegen kann. Das Problem ist das Geld. Es muss endlich ein neuer Sponsor her.«

»Und wenn sie den nicht finden, können sie auch Wang Ai nicht bezahlen.« Er seufzte. »Der chinesische Verband übernimmt die Kosten für ihren Aufenthalt in Deutschland bestimmt nicht zu 100 Prozent. Aber …« Er blieb stehen. »Bei uns gibt es ein ganz interessantes Sprichwort, abgeleitet von einem chinesischen Schriftzeichen.«

Verblüfft sah Bruni ihn an, denn er hielt ihr seinen Handteller vor die Nase und begann, mit den Fingern seiner rechten Hand ein Zeichen hineinzumalen.

»Das ist das Sinnbild für Krise«, erklärte er, während Bruni ihm zusah. »Und das«, unerwartet griff er nach ihrer Hand und hielt sie einen Moment fest. »Schau …«

Bruni verspürte den Impuls, ihm ihre Hand zu entziehen, überlegte es sich dann aber anders und ließ es zu, dass er sie festhielt und streckte, und langsam damit begann, mit seinem Finger in ihre Handfläche zu malen.

»Das ist das Zeichen für Chance«, sagte er aufblickend, als er fertig war.

»Und was willst du mir damit sagen?«

»In jeder Krise steckt auch eine Chance. Komm in den nächsten Tagen einfach wieder zum Qi Gong.«

Mit 50 hat man noch Träume
titlepage.xhtml
Mit_50_hat_man_1.htm
Mit_50_hat_man_2.htm
Mit_50_hat_man_3.htm
Mit_50_hat_man_4.htm
Mit_50_hat_man_5.htm
Mit_50_hat_man_6.htm
Mit_50_hat_man_7.htm
Mit_50_hat_man_8.htm
Mit_50_hat_man_9.htm
Mit_50_hat_man_10.htm
Mit_50_hat_man_11.htm
Mit_50_hat_man_12.htm
Mit_50_hat_man_13.htm
Mit_50_hat_man_14.htm
Mit_50_hat_man_15.htm
Mit_50_hat_man_16.htm
Mit_50_hat_man_17.htm
Mit_50_hat_man_18.htm
Mit_50_hat_man_19.htm
Mit_50_hat_man_20.htm
Mit_50_hat_man_21.htm
Mit_50_hat_man_22.htm
Mit_50_hat_man_23.htm
Mit_50_hat_man_24.htm
Mit_50_hat_man_25.htm
Mit_50_hat_man_26.htm
Mit_50_hat_man_27.htm
Mit_50_hat_man_28.htm
Mit_50_hat_man_29.htm
Mit_50_hat_man_30.htm
Mit_50_hat_man_31.htm
Mit_50_hat_man_32.htm
Mit_50_hat_man_33.htm
Mit_50_hat_man_34.htm
Mit_50_hat_man_35.htm
Mit_50_hat_man_36.htm
Mit_50_hat_man_37.htm
Mit_50_hat_man_38.htm
Mit_50_hat_man_39.htm
Mit_50_hat_man_40.htm
Mit_50_hat_man_41.htm
Mit_50_hat_man_42.htm
Mit_50_hat_man_43.htm
Mit_50_hat_man_44.htm
Mit_50_hat_man_45.htm
Mit_50_hat_man_46.htm
Mit_50_hat_man_47.htm
Mit_50_hat_man_48.htm
Mit_50_hat_man_49.htm
Mit_50_hat_man_50.htm
Mit_50_hat_man_51.htm
Mit_50_hat_man_52.htm
Mit_50_hat_man_53.htm
Mit_50_hat_man_54.htm
Mit_50_hat_man_55.htm
Mit_50_hat_man_56.htm
Mit_50_hat_man_57.htm
Mit_50_hat_man_58.htm
Mit_50_hat_man_59.htm
Mit_50_hat_man_60.htm
Mit_50_hat_man_61.htm
Mit_50_hat_man_62.htm
Mit_50_hat_man_63.htm
Mit_50_hat_man_64.htm
Mit_50_hat_man_65.htm
Mit_50_hat_man_66.htm
Mit_50_hat_man_67.htm
Mit_50_hat_man_68.htm
Mit_50_hat_man_69.htm
Mit_50_hat_man_70.htm
Mit_50_hat_man_71.htm
Mit_50_hat_man_72.htm
Mit_50_hat_man_73.htm
Mit_50_hat_man_74.htm