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Mehrere Tage waren vergangen, bevor sie wieder hinunter zum Ahrufer ging. Selbstbewusst warf sie den Kopf in den Nacken, als sie vor ihm stand, und lächelte ihn an. Er nickte ihr jedoch nur kurz zu, versunken in seine Übung, und sie fühlte einen leichten Stich.
Mit einem knappen Handzeichen forderte er sie auf, ihre Ausgangsposition einzunehmen und seinen Bewegungen zu folgen.
»Den Bogen spannen und auf den Adler schießen«, erklärte er kurz und machte ihr vor, wie diese Brokatübung aus dem Qi Gong funktionierte.
Wie du willst, dachte sie.
Mit einer langsamen, nach rechts ausgerichteten Drehung spannte sie einen imaginären Bogen und zielte. Wieder und wieder, und Bruni war klar, dass der Adler, den sie langsam aber sicher im Geiste erlegte, niemand anders war als Wang San. Die Übung tat gut. Sie verhalf ihr zu dem nötigen Abstand und ermöglichte es, ihre Gefühle für ihn auseinanderzudividieren. Den potenziellen Liebhaber hatte sie soeben erschossen, den Freund ließ sie am Leben.
Dieser Übung folgten weitere, und nach einer halben Stunde etwa griff sie, erfüllt von einem tiefen Gefühl innerer Zufriedenheit, zu ihren Schuhen und zog sie an. Wang San beschäftigte sich ebenfalls mit seinen Schuhen. Mit keinem Wort fragte er nach, warum sie in den letzten Tagen nicht erschienen war, und mit keinem Wort erwähnte er den Abend im Western Saloon.
Während sie sich gemeinsam auf den Weg zurück zu ihren Restaurants machten, sagte er: »Wang Ai hat hin und her überlegt, aber inzwischen ist sie von der Idee, gleich hier zu bleiben, zu studieren und für die ›Eintracht Neuenahr‹ zu spielen, ganz angetan.«
»Das freut mich«, sagte Bruni. Ihre Stimme klang etwas reserviert.
»Ihr Verein in China und der chinesische Fußballverband müssen sie freigeben, aber vor allem muss erstmal der Verein aus Neuenahr sie wirklich haben wollen. Dann sehen wir weiter. Sie hat sich übrigens schon vorgestellt und probehalber beim Training mitgemacht.«
Brunis Blick glitt über das Wasser der Ahr, das heute besonders schnell floss und dabei ein rauschendes, gurgelndes Geräusch von sich gab. »Wie schätzt du die Chance, dass man sie gehen lässt, ein?«
»Fifty, fifty. Einerseits wird sie in ihrer Mannschaft und in der chinesischen Nationalmannschaft gebraucht, andererseits ist es für die VR China auch eine Ehre, wenn sie in Deutschland spielt. Außerdem kann sie hier wertvolle Erfahrungen sammeln.« Wang San machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. »Für nächsten Sonntag ist in Bad Neuenahr ein Freundschaftsspiel mit der männlichen B-Jugend aus Köln angesetzt worden.«
»Ein Test für Wang Ai?«
»Genau. Danach wird entschieden, ob sie sie haben wollen, oder nicht.« Mit einem Seitenblick versuchte Wang San herauszufinden, ob irgendetwas mit Bruni nicht stimmte. Sie ging ungewohnt schnell.
»Ach, die nehmen sie doch mit Kusshand. Der Verein ist froh, wenn er so eine gute Spielerin kriegen kann. Das Problem ist das Geld. Es muss endlich ein neuer Sponsor her.«
»Und wenn sie den nicht finden, können sie auch Wang Ai nicht bezahlen.« Er seufzte. »Der chinesische Verband übernimmt die Kosten für ihren Aufenthalt in Deutschland bestimmt nicht zu 100 Prozent. Aber …« Er blieb stehen. »Bei uns gibt es ein ganz interessantes Sprichwort, abgeleitet von einem chinesischen Schriftzeichen.«
Verblüfft sah Bruni ihn an, denn er hielt ihr seinen Handteller vor die Nase und begann, mit den Fingern seiner rechten Hand ein Zeichen hineinzumalen.
»Das ist das Sinnbild für Krise«, erklärte er, während Bruni ihm zusah. »Und das«, unerwartet griff er nach ihrer Hand und hielt sie einen Moment fest. »Schau …«
Bruni verspürte den Impuls, ihm ihre Hand zu entziehen, überlegte es sich dann aber anders und ließ es zu, dass er sie festhielt und streckte, und langsam damit begann, mit seinem Finger in ihre Handfläche zu malen.
»Das ist das Zeichen für Chance«, sagte er aufblickend, als er fertig war.
»Und was willst du mir damit sagen?«
»In jeder Krise steckt auch eine Chance. Komm in den nächsten Tagen einfach wieder zum Qi Gong.«