59

 

Am späten Nachmittag des nächsten Tages saß Lao Wang still in seinem Arbeitszimmer. Nachdem er einen Stein, den er kürzlich erst an der Ahrschleife gefunden hatte, mit kalligrafischen Schriftzeichen verziert hatte, fühlte er sich gelassen genug, um nach dem zierlichen Brieföffner aus hellgrüner Jade zu greifen, den seine Frau ihm vor etlichen Jahren geschenkt hatte. Er hatte den Umschlag, der vor zwei Tagen mit der Post gekommen war, ungeöffnet in einer Porzellanschale auf seinem Schreibtisch liegen lassen, denn er traute dem Inhalt des Schreibens nicht. Warum, konnte er nicht genau sagen, aber wie bislang alle Briefe von der Verbandsgemeinde Altenahr war auch dieser hier von einer unheilvollen Aura umgeben, die sich mit nichts messen, sondern nur erahnen ließ. Der blaue Drachen, der die Schale verzierte, hatte nichts an der düsteren Ausstrahlung des Umschlags zu ändern vermocht, obwohl er inzwischen mehr als 40 Stunden direkt auf ihm gelegen hatte.

Der alte Chinese nahm den Brief vorsichtig in die Hand. Er kam aus China, war relativ dick und den Absender kannte er gut. Wieso hatte die Reisegesellschaft aus Shanghai keine E-Mail geschickt? Was war so wichtig, dass es als ordentliches Briefdokument versandt werden musste? Normalerweise korrespondierten sie per Mail. Auf einmal kam Lao Wang sich vor wie ein kleiner Junge, der schon vieles spürte, aber noch nichts begriff. Bedächtig neigte er den Kopf und lauschte den Stimmen seiner Singvögel, die um diese Zeit wieder munter vor sich hinzwitscherten, nachdem sie ausgiebig Mittagsruhe gehalten hatten.

Seit ihr Restaurant wieder geöffnet war, hatten sie kaum Umsatz gemacht. Es war still geworden im Gastraum, trotz der Presseberichte und obwohl sie ihrem chinesischen Vertragspartner längst mitgeteilt hatten, dass sie wieder betriebsbereit waren. Die wenigen Einheimischen wie Christine Schäfer mit Familie oder Dorothée Maar vom Supermarkt, die bei ihnen hereinschauten, kamen aus Solidarität. Sie aßen eine Frühlingsrolle oder bestellten Schweinefleisch süß-sauer, aber das war es auch schon. Jeden Abend, wenn sie schlossen und Zhang Liu die Einnahmen zählte, schüttelte sie sorgenvoll den Kopf, denn das Klappern der Kasse klang nicht mehr so süß in ihren Ohren wie vor wenigen Wochen noch. Deutsche Touristen zogen die einheimische Küche vor. Der Kegelverein hatte zwar neugierig ihren Hof inspiziert und den goldenen Buddha fotografiert, aber anschließend waren sie nicht bei ihnen, sondern im ›Ahrstübchen‹ eingekehrt. Lao Wang strich sich über sein Kinn und beobachtete versonnen den Singvogel, der in der Voliere akrobatische Übungen vollführte und in halsbrecherischem Tempo von Stange zu Stange hüpfte. Dann gab er sich einen Ruck und schlitzte den Umschlag auf. Das reißende Geräusch fuhr ihm in die Glieder. Es verstärkte seinen Eindruck, dass die Kette unglücklicher Wendungen noch nicht abgerissen war. Langsam entfaltete er das Schreiben, dann beugte er sich darüber und las.

 

Die ganze Familie war in ihrem Wohnzimmer versammelt, und lange Zeit sagte niemand ein Wort. Selbst die Kinder saßen still. Erst vor wenigen Minuten hatte Lao Wang ihnen mitgeteilt, dass das chinesische Reiseunternehmen den Vertrag gekündigt hatte.

 

Begründung:

1. Vertragsverletzung durch vorübergehende Schließung des Restaurants.

2. Die der Schließung zugrunde liegende Fremdenfeindlichkeit in Altenahr sei unzumutbar für ihre Kunden.

Genausogut hätte Lao Wang seiner Familie auch sagen können, dass er Insolvenz beantragt habe.

»Vertragsverletzung, dass ich nicht lache. Die paar Tage, die wir geschlossen hatten!«, empörte sich Wang San, in dessen Gesicht langsam die Farbe zurückkehrte. »Als sei es ein Problem gewesen, in Dernau einzukehren. Wir hatten doch alles geregelt. Der Schmidt-Räkel hat ein unerwartetes Geschäft gemacht, unsere Landsleute waren zufrieden, und alles lief völlig unproblematisch.«

»Es war doch mit der Reisegesellschaft abgesprochen?« Fragend sah Mei Ling ihren Vater und ihre Brüder an. Neben Wang San saßen Wang Yi und seine Frau, und alle nickten.

»Natürlich«, erklärte Wang Yi. Er hob seine Jüngste auf den Schoß und fügte hinzu: »Wo denkst du hin. Wir hätten sie niemals sich selbst überlassen.«

»Dann verstehe ich die Reaktion nicht«, seufzte Mei Ling.

»Wisst ihr was?«, fragte Wang Ai. »Ich vermute, dass sie sauer darüber sind, dass ich bei einem deutschen Frauenfußballverein spielen werde, da sie ja die chinesische Frauenfußball-Nationalmannschaft sponsern. Demnächst ist Frauen-Fußball-WM!«

»Aber du hast das offizielle O.k.!«, wandte Wang Yi ein.

»Na und? Dem Reiseunternehmen ist es egal, was die Vereine untereinander ausklüngeln und ob die chinesischen Behörden den Weg ebnen. Die wollen einfach nur, dass die Chinesinnen Weltmeister werden, schließlich haben sie einiges dafür investiert.«

»Gut möglich«, überlegte Wang San und sagte: »Fakt ist, dass sie uns ausbooten. Du meinst, die wollen, dass du das Angebot von der ›Eintracht Neuenahr‹ ausschlägst?«

Wang Ai nickte.

Lao Wang hielt Zhang Liu seine Teetasse hin, und sie schenkte noch einmal nach. Das halblange, weit geschnittene Hemd, das sie über ihrer Hose trug, war an den Ärmeln dezent mit bunten Stickereien verziert, die den Blick des Betrachters auf die Anmut ihrer Bewegungen lenkten. Trotz ihres hohen Alters konnte man erkennen, dass sie einmal eine sehr schöne Frau gewesen war.

»Wir hätten das Restaurant nicht schließen dürfen«, stöhnte Wang Yi mit sorgenvoller Miene.

»Haben wir aber«, erwiderte Mei Ling. In ihrer Stimme lag eine Heftigkeit, die man kaum von ihr kannte. Am liebsten wäre sie weggerannt, hätte sich auf ihre Kawa geschwungen und wäre all dem mit Vollgas entflohen.

»Und nun?«, fragte ihre Cousine. »Was machen wir nun? Das Beste ist, ich gehe zurück nach China.«

»Jetzt dreh mal nicht durch. Keiner weiß, ob du mit deiner Vermutung überhaupt richtig liegst«, erwiderte Mei Ling.

»Solange die ›Eintracht‹ noch keinen Sponsor hat, ist meine Zukunft hier sowieso nicht gesichert. Und wenn ich weiter in China spiele, wäre ich mit Sicherheit auch bei der WM dabei.«

»Meinst du?«

»Ziemlich sicher, und nach all dem, was ich hier erlebt habe, ist das immer noch sehr verlockend für mich.«

»Fang jetzt bitte nicht wieder damit an«, sagte Mei Ling. »Das haben wir schon tausendmal gehört. Ich denke, du willst hier studieren? Für die ›Eintracht Neuenahr‹ zu spielen bedeutet eine tolle Chance für dich, du weißt das …« Sie merkte, dass sie wütend auf Wang Ai war. Da sie aber kein Magengeschwür bekommen wollte, beherrschte sie sich. Wer seine Wut herausschrie, wurde krank. Oft hatte sie sich gefragt, wer richtig lag, die Chinesen oder die Deutschen, die glaubten, dass man krank würde, wenn man den Ärger in sich hineinfraß. Irgendwann hatte sie sich für die chinesische Sicht der Dinge entschieden, zumal Unbeherrschtheit immer auch Gesichtsverlust bedeutete.

»Wang Ai, ich glaube nicht, dass du bei der ganzen Sache eine so große Rolle spielst«, sagte Wang San sanft zu Wang Ai. »Du bist bestimmt nicht der Grund für die Vertragsauflösung, dich trifft keine Schuld.« Insgeheim war er jedoch nicht so sicher. Er hielt es durchaus für möglich, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag.

»Ich könnte morgen bei der Reisegesellschaft anrufen und nachfragen, ob sie nicht noch einmal darüber nachdenken wollen. Schließlich habe ich auch dafür gesorgt, dass der Vertrag zwischen uns und ihnen überhaupt zustande kam«, schlug Mei Ling vor.

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.« Wang San strich sich über die Stirn.

»Ich könnte ihnen versichern, dass hier alles beim Alten ist. Ich meine, unser Service stimmt nach wie vor, unsere Gerichte sind ausgezeichnet, und im Zweifel gehen wir auch mit dem Preis noch ein bisschen runter …«, insistierte Mei Ling.

Lao Wang nickte bedächtig.

Er hält die Teetasse in der Hand, als wäre sie sein Halt, dachte Wang San.

Nach einer Weile flüsterte sein Vater: »Wir machen uns vor niemandem klein.« Seine Worte kamen leise, aber in aller Deutlichkeit über seine Lippen, und so weich sie auch klangen, so waren sie doch unverkennbar ein Befehl. Die Familie starrte ihn an. Langsam schlürfte er noch etwas von dem Tee, der nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele wärmte. Es war der zweite Aufguss, und er schmeckte ganz so, wie er ihn liebte, mild, blumig und zart. Den ersten Aufguss fand er streng und unausgewogen, weswegen er seit jeher darauf bestand, dass er weggeschüttet wurde.

»Wir akzeptieren die Vertragsauflösung, auch wenn wir noch nicht wissen, welche Konsequenzen sie für uns hat«, entschied er und fügte mit erhobenem Kopf hinzu: »Bitte bedenkt: Ein tiefer Fall führt oft zu höherem Glück.«

Mit 50 hat man noch Träume
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