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»Am Montagabend tagt der Gemeinderat«, beantwortete Marianne Hohenstein die Frage der Verkäuferin im Café, das direkt gegenüber dem Rathaus lag, und deutete mit dem Finger auf die gläserne Scheibe der Kuchenvitrine. »Zwei Stück von dem Käsekuchen und zweimal Erdbeertorte bitte.«
Die Verkäuferin platzierte das Gewünschte auf einem Pappteller und schlug einen Bogen Papier darum. Das Café war gut besucht, leises Stimmengewirr und das Klappern von Tellern und Besteck drangen nach vorn in den Verkaufsraum. Marianne Hohenstein mochte den Kuchen hier, und wenn sie einmal keine Zeit hatte, selbst zu backen, gönnten Hubertus und sie sich am Freitagnachmittag ein Stück oder zwei. Wenn sie an die Figuren der Frauen aus dem ›Ahrstübchen‹ dachte, und an die Blicke, die inzwischen auch Hubertus ihnen heimlich zuwarf, wäre es allerdings vielleicht besser, darauf zu verzichten.
»Eine außerordentliche Sitzung«, erklärte sie und in dem Bewusstsein, mehr zu wissen als viele andere hier im Ort, fügte sie bedeutungsvoll hinzu: »Der reguläre Termin hätte normalerweise erst Ende nächster Woche stattgefunden, aber die Dringlichkeit der Situation erfordert selbstverständlich eine frühere Zusammenkunft.«
Die Verkäuferin nickte zustimmend. »Gut. Je früher sie etwas beschließen, desto besser. Wir lassen uns von denen doch nicht unser Ortsbild verschandeln, und unsere Sitten. Die essen ja nicht einmal Kuchen.«
»Nein?« Christine Schäfer, die mit Schwung das Café betreten und die letzten Sätze der Verkäuferin mitbekommen hatte, stellte sich neben Marianne Hohenstein an die Kuchentheke und grüßte unbeschwert. Sich an die Verkäuferin wendend, sagte sie leichthin: »Solange genug deutsche Touristen bei euch einkehren, ist das doch nicht dramatisch, oder?« Ihre Stimme trug trotz der Leichtigkeit eine Schärfe in sich, die jeden Versuch einer Erwiderung im Keim erstickte und dazu führte, dass die Verkäuferin den Kopf senkte und etwas Unverständliches vor sich hin murmelte.
»Was hältst du davon, wenn wir das Thema Tempelbau bei unserem nächsten Landfrauentreffen besprechen?«, wandte sich Christine Schäfer an die Frau des Bürgermeisters.
Marianne Hohenstein sah sie erstaunt an, benötigte aber einen Moment, um eine Antwort zu formulieren, und so wandte sich Christine Schäfer zunächst an die Verkäuferin und bemerkte wie nebenbei: »Übrigens leben die Chinesen erheblich gesünder als wir, weil sie oft auf Leckereien verzichten. So viel ich weiß, sind in China Süßigkeiten vor allem Kindern vorbehalten. Wenn Erwachsene Süßes essen, gilt das als unpassend und undiszipliniert.«
Marianne Hohenstein und die Verkäuferin sahen sie verblüfft an.
»Du scheinst dich ja auszukennen«, antwortete Marianne spitz.
»Ja, ich habe mich mit den Wangs darüber unterhalten«, antwortete Christine. »Deswegen sind die meisten Chinesen auch schön schlank.« Wie unabsichtlich ließ sie ihren Blick über Marianne Hohensteins Bauch gleiten, der in einer deutlichen, wenn auch gut proportionierten Wölbung unter ihrem Rock sichtbar war und sich in einer kleinen Speckrolle darüber Geltung verschaffte.
Christine Schäfer hatte das Bedürfnis, die Chinesen vor dem Gerede zu schützen. Die negative Stimmung, die seit dem Tempelbau im Ort noch stärker ausgeprägt war als schon zuvor, missfiel ihr und so war sie in den letzten Tagen demonstrativ mit ihren Kindern bei den Wangs eingekehrt, um Frühlingsrollen und Schweinefleisch süß-sauer zu essen. Sie billigte den Tempel zwar nicht, da er unrechtmäßig erbaut worden war, aber rein optisch hatte sie nichts gegen das Bauwerk einzuwenden. Und auch nicht religiös-kulturell. »Also, was meinst du?«, wandte sie sich erneut an die Frau des Bürgermeisters. »Sollen wir den Tempel bei unserem nächsten Treffen nicht thematisieren?«
Marianne Hohenstein schwieg eine Weile, aber schließlich sagte sie: »Warum nicht, es geht uns ja alle an.« Die Antwort kam zögernd.
»Dann organisiere ich einen kleinen Vortrag zur Integration von Fremden in bestehenden Gemeinschaften«, antwortete Christine Schäfer schnell.
Marianne Hohenstein brummte etwas vor sich hin und griff nach ihrem Portemonnaie. Eine ganze Weile war nur das Knistern des Papiers zu hören, in das die Verkäuferin den Kuchen einwickelte. Während die Frau des Bürgermeisters ihr Geld abzählte und auf die Verkaufstheke legte, sagte sie mit einem Seitenblick zu Christine Schäfer: »Hast du schon gehört?«
»Was denn?«
»Die ›Eintracht‹ ist tot.«
Christine Schäfer schluckte, Marianne hatte bei ihr mit diesem Thema einen wunden Punkt getroffen. Sie dachte an das Gespräch, das sie erst gestern mit ihrer Cousine Miriam geführt hatte, die Zukunft des Vereins schien tatsächlich rabenschwarz zu sein. Es war immer noch kein neuer Sponsor in Sicht. Die Hoffnung, dass ein großer Ahrtalwinzer das finanzielle Loch stopfen würde, hatte sich zerschlagen.
Christine Schäfer hatte keine Lust auf eine Erwiderung. Daher nickte sie nur knapp, bezahlte ihr Brot und sah zu, dass sie schnell noch vor Marianne Hohenstein das Geschäft verließ.