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Innerlich bebte er noch immer, obwohl bereits eine halbe Stunde vergangen war und er sich längst wieder hätte beruhigen müssen.
Ben Stur saß zu Hause vor seinem PC und starrte auf den Monitor. Sein Hirn fühlte sich an wie aus Watte, und ihm war, als habe sich sämtliches Blut daraus verflüchtigt und sei woanders hingeflossen. In den Solar Plexus vielleicht, mutmaßte er, denn der brannte wie Hölle. Er straffte sich, drückte den Rücken durch und sah auf die Uhr. Er musste es schaffen, den Deutschaufsatz zu Ende zu schreiben, bevor er zum Fußballtraining aufbrach. Wie zur Ablenkung strich er sich über die Wade, die Caro neulich massiert hatte, aber sie war immer noch bretthart und schmerzte. Er versuchte erneut, die letzten Sätze so zu formulieren, dass sie Sinn machten, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Nach einigen Minuten klappte er Stefan Zweigs ›Schachnovelle‹ zu und schob sie ebenso frustriert wie wütend in die äußerste Ecke seines Schreibtischs. Er konnte sich jetzt einfach nicht konzentrieren. Ben biss sich so heftig auf die Lippe, dass es schmerzte. Sein Vater machte ihn wahnsinnig. Was glaubte er eigentlich, wer er war? Für ihn stand es inzwischen fest: Sein Vater war ein Idiot, nichts anderes, und Ben fragte sich, womit er ihn verdient hatte. Die Wut über ihn pulsierte immer noch in seinen Adern und ließ ihn innerlich zittern.
Immer wieder gerieten sie aneinander, wegen seiner Leistung in der Schule, die nie gut genug war, wegen der vielen Stunden, die er mit Fußballspielen verbrachte und wegen seines Engagements im Verein Gegen Rechts. Vor allem deswegen. Der Verein half Caro und ihren Freundinnen dabei, Unterschriften für den Erhalt des Tempels zu sammeln, und sein Vater hatte ihn dabei erwischt. Ben lächelte bitter. Aber es war ja auch klar, dass es seinem Erzeuger nicht in den Kram passte. Das Engagement seines Sohnes betrachtete er als Affront gegen die eigenen Überzeugungen und damit gegen sich als Person. Er hatte etwas gegen Ausländer, und kein Argument der Welt konnte ihn eines Besseren belehren. Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg und belasten unser Sozialsystem, außerdem vergiften sie die deutsche Gesellschaft mit fremdem Kulturgut. So war es für ihn und nicht anders.
Seit der Tempel auf dem Grundstück der Wangs stand, spuckte er jedes Mal, wenn er dort vorbeiging, verächtlich auf die Straße, und Ben schämte sich dafür in Grund und Boden.
Er holte tief Luft. Wenn es nur beim Spucken blieb, aber er traute seinem Vater nicht. Früher hatte er ihn manchmal geschlagen, aber seitdem Ben über mindestens so viel Muskelmasse verfügte wie er, und sich eines Tages erfolgreich gewehrt hatte, blieb er auf Abstand. Ben überlegte, ob er sich auch einmal zu einem solchen Choleriker entwickeln würde, und musste sich instinktiv schütteln. Insgeheim betete er fast täglich darum, dass dies niemals passieren würde. Er wusste, dass auch er schnell in Rage geriet und dieses Gen in sich trug, aber im Vergleich zu seinem Vater hatte er sich bislang immer noch beherrschen können.
Vor seinem inneren Auge tauchte seine Mutter auf, eine grazile, ruhige Frau, die oft genug von ihrem Mann eingeschüchtert worden war.
Sie stand zwischen ihnen. Ben sah aus dem Fenster hinaus in den Garten, wo sie Unkraut jätete, und er wusste nicht warum, aber ihr gebeugter Rücken und die schwerfälligen Bewegungen, mit denen sie das Unkraut auszupfte, trieben ihm die Tränen in die Augen. Lange Jahre hatte sie versucht, auszugleichen, wo es nur ging, aber in letzter Zeit hatte sie oft genug die Vergeblichkeit dieser Mühe erfahren müssen. Wenn er und sein Vater sich anbrüllten, waren ihre vorsichtigen Schlichtungsversuche untergegangen im Lärm und im Handgemenge, und irgendwann hatte sie nur noch mit den Schultern gezuckt und war einfach in ein anderes Zimmer gegangen. Ben seufzte. Eine Sprachlosigkeit hatte sich zwischen ihm und seiner Mutter eingeschlichen, die sie sich beide nicht eingestehen wollten, von der sie aber wussten, dass sie existierte, und die sie täglich ein Stückchen weiter voneinander entfremdete. Wie bei zwei rohen Eiern, die man davor bewahrte, dass sie einander zu nahe kamen, gab ihnen der sichere Abstand Schutz.
Ben holte tief Luft. Er vermisste ihre frühere Vertrautheit, aber ihm war klar, dass die distanzierte Haltung seiner Mutter auch mit Caroline Neumann zusammenhing. Erst hatte sie ihm Vorwürfe gemacht, als sie erfuhr, dass er gerne mit Caro im Garten des ›Ahrstübchens‹ plauderte. Dann war sie missbilligend still geworden, als sie erfuhr, dass Caro ihm die Wade massiert hatte. Und jetzt strafte sie ihn mit Schweigen und hielt sich von ihm fern. Ben seufzte. Seine Mutter war eifersüchtig, das war’s.
Trotzig strich er sich die Locken aus dem Gesicht. Es passte ihr nicht, dass er sich für eine ältere Frau interessierte, aber er tat, was er wollte. Sollte seine Mutter ihre Machtlosigkeit ruhig spüren, dachte er. Ben schloss die Augen. Ines Schmitz goss mit ihrem Gerede natürlich Öl ins Feuer. Sie verbreitete hartnäckig das Gerücht, Caro mache sich an ihn heran. Es war so albern, so unsagbar albern. Mit einem lauten Türknallen verließ er sein Zimmer.