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»Der Frauenfußballverein aus Neuenahr will sie haben«, freute sich Wang San, während er neben Bruni am Ahrufer entlang ging. Sie waren auf dem Weg zurück zu ihren Restaurants. Nach langer Pause hatten sie heute zum ersten Mal wieder zusammen auf das Jadekissen geklopft.
Wang San brauchte die Qi-Gong-Übungen zurzeit mehr denn je, denn auch er konnte, wie alle anderen Familienmitglieder, den Schock des Anschlags noch nicht ganz überwinden. Qi Gong half ihm dabei, seine Nervosität im Griff zu behalten und seine Lebensenergie, die enorm ins Stocken geraten war, wieder in Fluss zu bringen.
Außerdem rückte der Termin, an dem die Kreisverwaltung über die Baugenehmigung für den Tempel entscheiden sollte, näher, was seine innere Unruhe verstärkte. Das Restaurant war immer noch geschlossen, und Wang San vertrieb sich die Zeit ausschließlich mit Müßiggang, wie er fand. Er las viel, ging spazieren, praktizierte Qi Gong, und zweimal am Tag meditierte er. Im Grunde erkannte er sich selbst nicht wieder. Manchmal betrachtete er sein Gesicht aufmerksam auf der Suche nach sich selbst im Spiegel, und er entdeckte Spuren innerer und äußerer Veränderung an sich. Seine Augen blickten nicht mehr so offen wie früher in die Welt, und um seinen Mund herum hatte sich ein bitterer Zug eingeschlichen. Auch fiel ihm auf, dass er blasser geworden war und schmaler. Wang San fand, er sah irgendwie verhärmt aus.
»Das freut mich«, erwiderte Bruni und fügte hinzu: »Wang Ai ist sicher sehr stolz auf sich.«
»Vor allem sind wir sehr stolz auf sie«, erwiderte Wang San.
»Und? Hat sie sich schon entschieden?«, fragte Bruni. »Bleibt sie hier?«
»Das Visum ist schon beantragt.«
Unwillkürlich blieb sie stehen. »Das ging aber schnell.«
Wang San nickte. »Zumindest hat sie vor, zu bleiben, aber noch ist unklar, wie ihr Aufenthalt finanziert werden kann.«
»Ist immer noch kein neuer Sponsor für den Verein in Sicht?«
»Nein.« Wang San schüttelte den Kopf. »Parallel hat sie vorsichtshalber ein Stipendium beantragt.«
»Gute Idee.«
»Leicht ist ihr die Entscheidung, hier zu bleiben, übrigens nicht gefallen, aber ich glaube, sie empfindet so etwas wie Sippenhaft, und das hat den Ausschlag gegeben. Du kannst es auch Solidarität mit der Familie nennen, ganz wie du willst.« Er sah Bruni an. In seinen Augen war kein Glanz. »Hast du noch einen Moment Zeit?«, fragte er.
Sie zögerte, nickte dann aber zustimmend. John half Ulrike in der Küche, also kam es auf ein paar Minuten nicht an.
Bruni sah an sich hinunter, und auf einmal schämte sie sich dafür, dass sie heute ihre älteste Jogginghose trug. Sie war grau und schlabberig, und an der Außennaht vom linken Bein hatte sie soeben auch noch ein Loch entdeckt.
Sie betraten die Wiese am Ufer, die um diese Zeit noch feucht vom Morgentau war. An Grashalmen glitzerten Wassertropfen wie Diamanten im Licht, und die klare Unschuld des frühen Tages versetzte Bruni einen schmerzhaften Stich. Still beobachtete sie Wang San, der für sie beide einen halbwegs trockenen Platz suchte, an dem sie sich niederlassen konnten. Schließlich führte er sie unter das Blätterdach einer riesigen Birke, das sich hoch über dem Boden ausbreitete wie ein luftiges Zelt. In den Wipfeln der Bäume, die das Ufer umsäumten, turnten Vögel umher und sangen fröhlich ihr Lied, obwohl die Zeit der Balz und der Paarung längst vorüber war. Bruni stellte fest, dass ihr Gesang sich tatsächlich nicht mehr ganz so enthusiastisch anhörte wie noch vor wenigen Wochen.
Sie zogen ihre Jacken aus und ließen sich nieder, und Bruni schlang ihre Arme um die Knie, als ob sie sich daran festhalten wollte.
»Wang Ai will euch nicht im Stich lassen, ist es das?«, fragte sie.
»Ich glaube schon.« Wang San machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. »Und irgendwie ist sie hier ja auch unser Aushängeschild. Mit ihr können wir punkten.«
»Du meinst, ohne Wang Ai gelänge euch das nicht?«
»Nicht so einfach jedenfalls.« Wang San nickte, und Bruni fand, dass er in diesem Moment unglaublich traurig aussah. Sie verspürte die Regung, ihm über den Arm zu streicheln, ihn zu trösten, aber sie unterließ es. Seit dem Abend im Western Saloon hatte sich eine Kluft zwischen ihnen aufgetan, die sie erst einmal überwinden mussten, und die eine neue, vorsichtige Art des Umgangs bewirkte. Bislang hatten sie noch kein einziges Mal offen über den Abend gesprochen, und vielleicht war es auch besser so.
»Natürlich ist es für Wang Ai nach wie vor auch verlockend, in Deutschland zu studieren und nebenbei in einer deutschen Frauenmannschaft Fußball zu spielen«, relativierte Wang San das zuvor Gesagte.
»Viel Zeit für das Studium wird ihr aber nicht bleiben. Es wartet doch sicher ein straffes Trainingsprogramm auf sie, oder?«
»Ja, aber wir Chinesen sind fleißig, wie du weißt.«
Zum ersten Mal sah sie ihn heute lächeln, aber sein Lächeln war voller Selbstironie. Es tat ihr weh, ihn so traurig zu sehen.
»Wir alle hoffen darauf, dass bald ein neuer Sponsor gefunden wird«, meinte er und lehnte den Kopf in den Nacken. Inzwischen war das blasse Blau des Morgenhimmels einem tieferen Blau gewichen, keine Wolke war weit und breit zu sehen. »Mei Ling und Wang Ai studieren schon ständig im ›Kölner Blick‹ die Wohnungsanzeigen.«
»Und was sagen deine Eltern dazu?«
»Es gefällt ihnen nicht, dass Mei Ling ausziehen will, aber was sollen sie machen? Sie ist erwachsen, und wir sind in Deutschland und nicht in China. Wenn sie und Wang Ai ihren Weg zusammen gehen wollen, sollen sie ihn gehen. Meine Mutter hofft natürlich, dass Mei Ling in Köln dann öfter den Sohn einer befreundeten Familie trifft, den sie schon seit Längerem als potenziellen Kandidaten ins Auge gefasst hat. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen.«
»Weiß Mei Ling von den Plänen eurer Mutter?«
»Natürlich, sie liegt ihr oft genug damit in den Ohren.«
Bruni nickte. »Und wer wird sie im Restaurant ersetzen?«
»Sie wird weiterhin mithelfen, zumindest an einem Tag am Wochenende. Aber natürlich wird sie uns an allen Ecken und Enden fehlen, nicht nur im Restaurant.«
Bruni lehnte den Kopf in den Nacken und sah durch das Blätterdach nach oben. Das Blau des Himmels war immer intensiver geworden, inzwischen hatte es einen azurfarbenen Ton angenommen. Wenn es eine Farbe gab, die etwas in ihr zum Klingen brachte, dann diese. Doch schrieb man die Farbe Blau nicht eher kopflastigen Menschen zu? Bruni lächelte. Eigentlich war heute ein Tag für Orange.
»Für die Arbeit im Restaurant müssen wir vermutlich bald noch jemanden einstellen.«
Sie musterte Wang San. »Was hältst du von Jobsharing?«, fragte sie.
Er wandte den Kopf. »Jobsharing?«
»Zwei Betriebe teilen sich eine Arbeitskraft.«
»Das weiß ich. Na, und?«
»Wir könnten uns John teilen.«
Wang San zögerte einen Moment. »Keine schlechte Idee. Ich werde es mit Wang Yi und unserem Vater besprechen.«
»Gut.«
Er ließ seinen Oberkörper wieder auf die Wiese sinken und beobachtete den Grünfink, der direkt über ihnen auf einem Ast saß. »Bruni?«
»Ja?«
»Mit Caro, das tut mir leid.« Er hielt den Blick immer noch gen Himmel gewandt.
Sie schluckte. »Schon gut, es braucht dir nicht leid zu tun.« Nur wenige Sekunden später fragte sie nach: »Was überhaupt?«
»Ich wollte dich nicht verletzen, es ist nur …«
»Ja?«
»Ach, nichts.«
Nun ließ auch Bruni sich wieder ganz zurück auf ihre Jacke fallen.
»Wann habt ihr das letzte Mal zusammen getanzt?«, fragte sie, und sie hätte sich im selben Moment für diese Indiskretion die Zunge abbeißen mögen.
»Seit dem Abend, als du im Western Saloon warst, haben wir es nicht mehr getan.«
Sie biss sich auf die Lippen.
»Ich war nicht mehr im Western Saloon«, versicherte Wang San.
»Warum nicht?« Bruni spürte einen heißen Knoten im Bauch.
»Keine Lust.«
Über ihr Gesicht glitt ein Lächeln, doch als würde der Teufel sie reiten, hörte sie sich sagen: »Dann solltest du aber ganz schnell wieder dorthin.«