19
Rot leuchtend stand er am Straßenrand, als habe er schon immer dort gestanden, würdevoll und majestätisch, unmittelbar neben dem Restaurant der Wangs. Er schien aus dem Nichts der Nacht gekommen zu sein, und das erste Licht des Tages enthüllte seine anmutige Schönheit. Die verzierten Ecken des Dachs sprangen in leichtem Bogen dem Himmel entgegen, und im Eingangsbereich konnte man die Statue eines goldfarbenen, lachenden Buddhas erkennen, dessen Schemen im hinteren Teil des Tempels im Halbdunkel verschwand. Er saß auf einem altarähnlichen Podest, von Blumen umrankt. Etwas weiter vorne befanden sich rechts und links von ihm Opferschalen, aus denen Weihrauchschwaden den Weg nach draußen suchten. Das Gebäude war nicht groß, vielleicht fünf mal drei Meter, und die, die es aufgebaut hatten, mussten einen Pakt mit den Göttern geschlossen haben. Niemand hatte von den Bauarbeiten etwas bemerkt, nicht das leiseste Hämmern hatte die Nachtruhe der Einwohner Altenahrs gestört. Ein Meisterstreich. Vor dem Tempel schwammen in einem quadratisch angelegten Teich mehrere Goldfische, und diverse Steine, auf denen chinesische Schriftzeichen prangten, zierten die Gartenanlage mit neu gepflanzten Bäumen und Sträuchern.
Es war 7 Uhr morgens, und die vier Freundinnen sahen neugierig aus dem Fenster, der Lärm der vielen Stimmen vor ihrem Haus hatte sie aufgescheucht. Mit je einer Kaffeetasse in der Hand gingen sie hinaus, um das Prachtstück zu bestaunen. Ein ganzer Pulk Menschen stand bereits davor.
»Wie haben die das denn gemacht?«, fragte jemand und fügte ärgerlich, so als sei es eine persönliche Beleidigung, hinzu: »In Windeseile so ein Ding aufzubauen.«
»In Shanghai ziehen die über Nacht ganze Wolkenkratzer hoch!«, erklärte eine andere Stimme.
Weitere Kommentare ließen nicht auf sich warten.
»Chinesen sind fleißig wie die Ameisen, das weißt du doch.«
»Bald haben wir hier auch noch einen chinesischen Waschsalon!«
»Oder noch schlimmer, eine chinesische Schule!«
»In unsere Kirchen gehen sie nicht, da mussten sie sich ja etwas eigenes bauen. Was haben die überhaupt für eine Religion?«
»Die Wangs sind Buddhisten«, erwiderte Bruni knapp. Sie war völlig fasziniert von dem Gebäude. Wang San hatte kein Sterbenswörtchen verlauten lassen. Sie blickte sich um. Von den Wangs war weit und breit niemand zu sehen.
»Sie nehmen sich immer mehr raus, mir wird das langsam zu bunt.« Ines Schmitz verzog ärgerlich das Gesicht.
»Alle mal herhören, bitte!« Bürgermeister Hubertus Hohenstein, der soeben eingetroffen war, sah mit hektischen Blicken in die Menge. »Meines Wissens wurde nie eine Baugenehmigung erteilt, lange wird dieser Tempel also nicht hier stehen.«
»Dann reißen wir ihn doch gleich ab«, schrie jemand.
»Das geht noch schneller als ihn aufzubauen! Die werden staunen«, geiferte ein anderer.
»Wer macht mit? Ich bin dabei«, rief Volker Stur und krempelte sich entschlossen die Ärmel hoch, so als wolle er gleich anfangen. Sein Sohn Ben, der neben ihm stand, funkelte den Vater an. Die beiden stritten, aber so sehr Caro sich auch darum bemühte, sie verstand kein Wort. Es war mittlerweile zu laut geworden um sie herum.
»Beruhigt euch!« Die Stimme des Bürgermeisters klang autoritär. »Ruhe, habe ich gesagt!« Er sah in die Menge und machte eine eindrucksvolle Kunstpause, bevor er weitersprach. »Damit kommen die Wangs nicht durch. Aber …« Er machte eine ausladende Handbewegung: »Wir regeln das auf korrektem Weg. Keiner legt hier Hand an. Und die Wangs lasst ihr auch in Ruhe.« Das war ein Befehl.
Ein missmutiges Murmeln erklang und der Bürgermeister rief: »Es ist mein Ernst. Niemand tut etwas Unüberlegtes!«
»Sollen sie sich doch endlich zeigen!«, rief Bens Vater. Er drückte mehrfach auf den Klingelknopf, aber die Haustür der Chinesen blieb verschlossen. Nichts regte sich in ihrem Haus. Bruni fragte sich, von wo aus sie das Geschehen wohl beobachteten.
»Ich finde den Tempel supergeil.« Ben Stur hatte die Stimme erhoben und sah seinen Vater herausfordernd an.
»Spinnst du?«, mischte sich ein Jugendlicher ein, der mit Ben zusammen im Fußballverein war.
»Der hat sie ja nicht mehr alle«, sagte ein Mädchen, ebenfalls in Bens Alter.
Jetzt ergriff Bea das Wort. »Der Tempel muss stehen bleiben. Er ist Zeichen des chinesischen Kulturerbes, das auch in Altenahr seine Existenzberechtigung hat!«
Caro, Ulrike und Bruni klatschten.
»Ihr vier Weiber habt euch doch sowieso schon mit den Schlitzaugen eingelassen, stimmt’s?«
»Sie haben ganz recht, die Familie Wang und wir verstehen uns gut«, erwiderte Bruni scharf.
»Das Problem ist nur, dass er illegal hier steht, und wir müssen das eine vom anderen trennen«, erläuterte der Bürgermeister und ergänzte: »Wir haben nichts gegen fremde Kulturen oder fremde Religionen, aber wir haben etwas gegen illegale Aktionen. Außerdem haben wir eine Verantwortung.« Er sah sich um. »Wir haben die Verantwortung, das Brauchtum unseres schönen Ortes an der Ahr nicht von fremden Sitten untergraben zu lassen.«
»Jawoll«, tönte es zustimmend von allen Seiten.
»Eine Baugenehmigung hätten die Wangs doch nie gekriegt«, schrie Ben Stur aufgebracht. Er hatte sich von seinen Eltern entfernt und stand nun bei Caro und ihren Freundinnen. »Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, oder stimmt das etwa nicht?«
Der Bürgermeister ging auf seinen Einwand zunächst nicht ein, überlegte es sich dann aber anders. »Was beschlossen worden wäre, ist reine Spekulation, aber eins steht fest: Mit dieser Aktion haben sich die Chancen, dass der Tempel der Wangs stehen bleibt, nicht gerade verbessert. Da haben sie sich schlicht und ergreifend verkalkuliert. Sie haben einen Fehler gemacht. Einen gravierenden Fehler.«