SIEBENUNDDREISSIG
»Die Klauenwelt! Ich sehe sie,
Pham!«
Das Hauptfenster zeigte eine Direktansicht des Systems: eine Sonne in weniger als zweihundert Millionen Kilometern Entfernung, Tageslicht, das auf das Steuerdeck strömte. Die Positionen identifizierter Planeten waren mit blinkenden roten Pfeilen markiert. Doch einer von ihnen – gerade mal zwanzig Millionen Kilometer weit entfernt – trug das Etikett ›erdähnlich‹. Wenn man aus einem interstellaren Sprung hervortrat, konnte man nicht viel besser positioniert sein.
Pham antwortete nicht, er starrte nur aus dem Fenster, als ob mit dem, was er sah, etwas nicht stimme. Etwas in ihm war nach der Schlacht mit der PEST zerbrochen. Er war sich seiner Gottsplitter so sicher gewesen – und so von den Folgen überrascht. Danach hatte er sich mehr als je zuvor zurückgezogen. Nun schien er zu glauben, wenn sie sich nur schnell genug bewegten, könnte ihnen der überlebende Feind kein Leid tun. Mehr denn je misstraute er Blaustiel und Grünmuschel, als ginge von ihnen irgendwie eine größere Gefahr aus als von den Schiffen, die sie noch verfolgten.
»Verdammt«, sagte Pham schließlich. »Seht euch die Relativgeschwindigkeit an.« Siebzig Kilometer pro Sekunde.
Die Positionsabstimmung war kein Problem, aber: »Die Geschwindigkeiten anzugleichen, wird uns Zeit kosten, Herr Pham.«
Phams starrer Blick wandte sich Blaustiel zu. »Das haben wir vor drei Wochen mit den Einheimischen durchgesprochen, weißt du noch? Du hast den Raketenbrand gesteuert.«
»Und Sie haben meine Arbeit kontrolliert, Herr Pham. Da muss noch ein Fehler im Navigationssystem sein…, obwohl ich nicht erwartet habe, dass mit der gewöhnlichen Ballistik etwas nicht stimmen könnte.« Ein umgekehrtes Vorzeichen, siebzig Kilometer pro Sekunde Endgeschwindigkeit anstelle von null. Blaustiel schwebte zum zweiten Steuerpult.
»Vielleicht«, sagte Pham. »Ich möchte dich jetzt nicht auf dem Deck haben, Blaustiel.«
»Aber ich kann helfen! Wir sollten jetzt mit Jefri Verbindung aufnehmen, die Geschwindigkeiten angleichen und…«
»Verschwinde vom Deck, Blaustiel! Ich habe keine Zeit mehr, dich im Auge zu behalten.« Pham setzte mit einem Sprung über den Zwischenraum und traf auf Ravna, kurz vor dem Fahrer.
Sie schwebte zwischen den beiden und sprach schnell: »In Ordnung, Pham. Er wird gehen.« Sie strich mit der Hand über einen von Blaustiels heftig vibrierenden Wedeln. Eine Sekunde später erschlaffte Blaustiel. »Ich gehe. Ich gehe.« Sie ließ ermutigend die Hand auf ihm – und hielt sich zwischen ihm und Pham, während Blaustiel niedergeschlagen das Deck verließ.
Als der Skrodfahrer draußen war, wandte sie sich Pham zu. »Kann es denn kein Fehler im Navigator gewesen sein, Pham?«
Der andere schien die Frage nicht zu hören. Sobald sich die Luke geschlossen hatte, war er ans Steuerpult zurückgekehrt. Nach der letzten Schätzung der ADR blieben ihnen noch dreiundfünfzig Stunden bis zur Ankunft der PEST. Und nun mussten sie Zeit auf eine Korrektur der Geschwindigkeitsanpassung verschwenden, von der sie geglaubt hatten, sie hätten sie vor drei Wochen erledigt. »Irgendjemand, irgendetwas hat uns reingelegt…« Pham murmelte auch noch, als er mit der Steuersequenz fertig war. »Vielleicht ist es ein Fehler. Dieser nächste verdammte Brand wird so manuell gesteuert, wie es nur geht.« Beschleunigungssignale hallten durchs Innere der ADR. Pham klickte durch Monitorfenster und suchte nach losen Gegenständen, die groß genug waren, um Schaden anrichten zu können. »Schnall dich jetzt auch fest.« Er langte nach dem Pult, um die fünf Minuten Wartefrist zu umgehen.
Ravna sprang quer übers Deck, entfaltete dabei den Schwerelosigkeits-Sattel zum Sitz und schnallte sich an. Sie hörte, wie Pham über den allgemeinen Meldungskanal vor der Ausschaltung der Wartefrist warnte. Dann schaltete sich das Impulstriebwerk ein, ein träger Druck zurück in das Gespinst. Vier Zehntel Ge – alles, was die arme ADR noch zustande brachte.
Wenn Pham ›Handsteuerung‹ sagte, dann meinte er es auch so. Wie sich zeigte, war das Hauptfenster jetzt achsenzentriert. Der Ausschnitt verschob sich nicht nach der Laune des Piloten, und es gab keine hilfreichen Beschriftungen und Schemata. Soweit möglich, sahen sie eine Direktansicht entlang der Hauptachse der ADR. Die Randfenster wurden in fester Anordnung gegenüber dem Hauptfenster gehalten. Phams Augen huschten von einem zum anderen, während seine Hände über das Steuerpult glitten. Soweit es möglich war, flog er nach seinen Sinneseindrücken und traute niemandem sonst.
Doch Pham hatte noch Verwendung für den Ultraantrieb. Sie waren zwanzig Millionen Kilometer vom Ziel entfernt, einen submikroskopischen Sprung weit. Pham manipulierte die Antriebsparameter und versuchte, einen exakten Sprung kleiner als das Standardintervall zu machen. Alle paar Sekunden verschob sich das Sonnenlicht um ein Stück; erst kam es über Ravnas linke Schulter und dann über die rechte. Damit wurde es nahezu unmöglich, die Verbindung zu Jefri wiederherzustellen.
Plötzlich war das Fenster unter ihren Füßen von einer Welt ausgefüllt, groß und mit einer fast vollen Tagseite in Blau und wirbelndem Weiß. Wie Jefri Olsndot gesagt hatte, war die Klauenwelt ein normaler erdähnlicher Planet. Nach den Monaten im Raum und dem Verlust von Sjandra Kei überwältigte der Anblick Ravna. Ozean, die Welt bestand größtenteils aus Ozean, doch nahe an der Tag-Nacht-Grenze lagen dunklere Schattierungen von Land. Ein einzelner winziger Mond war über dem Globus zu sehen.
Pham holte tief Luft. »Er ist ungefähr zehntausend Kilometer entfernt. Perfekt. Außer dass wir uns mit siebzig Kilometer pro Sekunde nähern.« Selbst während sie hinsah, schien die Welt anzuwachsen, ihnen entgegenzufallen. Pham beobachtete den Planeten noch ein paar Sekunden lang. »Keine Sorge, wir treffen nicht auf, wir werden knapp an der, äh, Nordhalbkugel vorbeifliegen.«
Der Globus schwoll unter ihnen an und verdeckte den Mond. Sie hatte es immer geliebt, wenn bei Sjandra Kei Herte erschien. Doch jene Welt hatte kleinere Ozeane und war kreuz und quer mit Dirokim-Pfaden überzogen. Dieser Ort hier war so schön wie Relais und schien wirklich unberührt zu sein. Die kleine Polarkappe lag im Sonnenlicht, und sie konnte die Küstenlinie verfolgen, die südlich davon zum Terminator hin verlief. Ich sehe die Nordwestküste. Da unten ist Jefri! Ravna langte nach ihrer Tastatur und forderte das Schiff auf, sowohl Ultrawellenkontakt als auch Funkverbindung zu versuchen.
»Ultrawellenkontakt«, sagte sie eine Sekunde später.
»Was ist zu hören?«
»Es ist gestört. Wahrscheinlich nur ein Rufzeichen«, eine Empfangsbestätigung auf das Signal der ADR hin, das Äußerste, was seit der Flutwelle möglich gewesen war. Jefri war jetzt sehr nahe beim Schiff untergebracht; manchmal hatte sie fast auf der Stelle Antwort erhalten, selbst wenn bei ihm Nacht war. Es wäre gut, wieder mit ihm zu sprechen, auch wenn…!
Die Klauenwelt füllte jetzt den halben Bildschirm aus, mit einem kaum gekrümmten Horizont anstelle des Planetenrunds. Himmelsfarben standen vor ihnen und verschwammen ins Schwarz des Weltraums. Die Eiskappe und Eisberge ließen vor dem Hintergrund des Meeres Einzelheiten über Einzelheiten erkennen. Sie sah Wolkenschatten. Sie verfolgte die Küste südwärts, Inseln und Halbinseln so dicht aneinander, dass man eine von der anderen nicht sicher unterscheiden konnte. Schwärzliche Berge und schwarzgestreifte Gletscher. Grüne und braune Täler. Sie versuchte sich an die Geographie zu erinnern, die sie von Jefri erfahren hatte. Die Verborgene Insel? Doch da waren so viele Inseln.
»Ich habe Funkkontakt zur Planetenoberfläche«, erklang die Stimme des Schiffs. Gleichzeitig zeigte ein blinkender Pfeil auf eine Stelle ein kleines Stück landeinwärts von der Küste. »Wollen Sie den Ton in Echtzeit?«
»Ja. Ja!«, sagte Ravna und schlug dann auf ihre Tastatur, als das Schiff nicht sofort antwortete.
»Hei, Ravna. O Ravna!« Die Stimme des kleinen Jungen sprang aufgeregt übers Deck. Er klang genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Ravna verlangte mit ein paar Tastenanschlägen zweiseitige Verbindung. Sie waren jetzt weniger als zweitausend Kilometer von Jefri entfernt, auch wenn sie mit siebzig Kilometern pro Sekunde vorüberflogen. Nahe genug für ein Gespräch über Funk. »He, Jefri!«, sagte sie. »Wir sind endlich da, aber wir brauchen…« Wir brauchen alles an Mitarbeit, was deine vierbeinigen Freunde uns geben können. Wie sagte man das schnell und wirksam?
Doch der Junge da unten hatte schon etwas mitzuteilen: »… brauchen die Hilfe jetzt, Ravna! Die Holzschnitzer greifen uns jetzt an.«
Es gab ein dumpfes Geräusch, als ob das Sprechgerät herumgeworfen würde. Dann eine andere Stimme, hoch und sonderbar undeutlich. »Hier Stahl, Ravna. Jefri Recht. Holzschnitzerin…« Die fast menschliche Stimme löste sich in zischendes Gekoller auf. Einen Augenblick später hörte sie Jefris Stimme: »›Überfall‹, das Wort heißt ›Überfall‹.«
»Ja… Holzschnitzerin hat großen, großen Überfall gemacht. Sie überall um uns. Wir sterben in Stunden, wenn ihr nicht helfen.«
Holzschnitzerin hatte niemals ein Krieger sein wollen. Aber ein halbes Jahrtausend lang zu regieren, erfordert eine Reihe von Fertigkeiten, und sie hatte gelernt, wie man Krieg führt. Manches davon – wie den eigenen Leuten zu vertrauen – hatte sie in den letzten paar Tagen zeitweise wieder verlernt. Es hatte wirklich einen Hinterhalt am Margrum-Steig gegeben, aber nicht den, den Fürst Stahl geplant hatte.
Sie blickte über die zeltbestandenen Felder zu Feilonius hinüber. Das Rudel war von gedämpften Geräuschen halb verdeckt, doch sie sah, dass es nicht so munter wie früher war. Wenn er peinlich befragt wird, verliert jeder ein wenig die Selbstbeherrschung. Feilonius wusste: Sein Überleben hing davon ab, dass die Königin ein Versprechen hielt. Dennoch – es war ein schrecklicher Gedanke, dass Feilonius leben würde, nachdem er so viele ermordet und verraten hatte. Sie wurde sich bewusst, dass zwei von ihr vor Wut leise winselten, die zusammengebissenen Zähne gebleckt. Ihre Welpen drängten sich im Gefühl unsichtbarer Bedrohungen an sie. Das zeltbestandene Gebiet stank nach Schweiß und den Denkgeräuschen von zu vielen Leuten auf zu engem Raum. Sie musste wirklich ihren Willen anspannen, um sich zu beruhigen. Sie leckte die Welpen und gab sich eine Weile friedvollen Gedanken hin.
Ja, sie würde das Versprechen halten, das sie ihm gegeben hatte. Und vielleicht würde es den Preis wert sein. Feilonius konnte nur Vermutungen über Stahls innere Geheimnisse anstellen, doch er hatte viel mehr über Stahls taktische Lage herausgefunden, als die andere Seite ahnen konnte. Feilonius hatte gewusst, wo sich die Flenseristen verborgen hielten und in welcher Stärke. Stahls Leute hatten zu sehr auf ihre Superkanonen und ihren geheimen Verräter vertraut. Als Holzschnitzerins Truppen sie überrumpelten, war der Sieg leicht gewesen – und nun besaß die Königin ein paar von den wunderbaren Kanonen.
Von jenseits der Hügel dröhnten diese Kanonen noch immer und fraßen sich durch die Munitionsvorräte, die die gefangen genommenen Kanoniere offenbart hatten. Feilonius als Verräter hatte sie viel gekostet, aber Feilonius als Gefangener brachte ihr vielleicht dennoch den Sieg.
»Holzschnitzerin?« Es war Scrupilo. Sie winkte ihn näher. Ihr Oberster Kanonier ging aus der Sonne und setzte sich in der intimen Entfernung von fünfundzwanzig Fuß hin. Unter den Bedingungen der Schlacht waren alle Erwägungen der Ehrerbietung weggeweht worden.
Scrupilos Denkgeräusche waren ein eifrig besorgtes Durcheinander. Er sah zu verschiedenen Teilen erschöpft und freudig erregt und entmutigt aus. »Es ist ungefährlich, den Burgberg hinauf vorzurücken, Euer Majestät«, sagte er. »Das gegnerische Feuer ist fast erstickt. In Teile der Burgmauern sind Breschen geschlagen worden. Hier ist Schluss mit Burgen, meine Königin. Sogar unsere eigenen armseligen Geschütze würden dafür sorgen.«
Sie ließ die Köpfe zustimmend wippen. Scrupilo verbrachte den größten Teil seiner Zeit mit dem Datio, um zu lernen, wie man Dinge machte – insbesondere Kanonen. Holzschnitzerin wendete ihre Zeit auf, um zu erfahren, was diese Erfindungen letzten Endes mit sich brachten. Inzwischen wusste sie viel mehr als sogar Johanna über die soziale Wirkung von Waffen, von den primitivsten bis hin zu derart sonderbaren, dass sie überhaupt keine Waffen zu sein schienen. Tausend Millionen Male waren Burgbau-Techniken solchen Dingen wie Geschützen unterlegen; warum sollte es auf ihrer Welt anders sein?
»Wir werden dann hinauf marschieren…«
Von jenseits des Zeltschattens drang ein schwaches Pfeifen her, ein einzelner, näherkommender Laut. Sie legte ihre Welpen in ihrer Mitte nieder und hielt für einen Moment inne. Zwanzig Ellen weiter sank Feilonius in tief geduckte Haltung. Doch als sie schließlich kam, war die Explosion ein gedämpftes Krachen am Berg über ihnen. Es kann sogar eine von unseren eigenen gewesen sein. »Unsere Truppen müssen jetzt die Zerstörungen ausnutzen. Stahl soll wissen, dass die alten Spiele von Erpressung und Folter ihm nur zum Schaden gereichen.« Höchstwahrscheinlich werden wir das Sternenschiff und das Kind zurückgewinnen. Die Frage war nur: Würden sie beide heil sein, wenn sie sie bekamen? Sie hoffte, dass Johanna niemals von den Bedrohungen und Risiken erführe, die sie für die nächsten paar Stunden einplante.
»Ja, Majestät.« Doch Scrupilo machte keine Anstalten zu gehen und wirkte plötzlich verwahrloster und sorgenvoller als je. »Holzschnitzerin, ich fürchte…«
»Was? Das Blatt hat sich zu unseren Gunsten gewendet. Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen.«
»Ja, Majestät… Aber während wir vorrücken, ziehen ernsthafte Gefahren an unseren Flanken und im Rücken herauf. Die Fernspäher des Feindes und die Brände.«
Scrupilo hatte Recht. Die Flenseristen, die hinter den Fronten operierten, waren tödlich. Es waren ihrer nicht viele; die feindlichen Truppen beim Margrum-Steig waren größtenteils getötet oder versprengt worden. Die wenigen, die an Holzschnitzerins Flanken fraßen, waren mit gewöhnlichen Armbrüsten und Äxten bewaffnet – aber sie waren außergewöhnlich gut koordiniert. Und ihre Taktik war brillant; sie erblickte die Schnauzen und Klauen des Flensers selbst hinter dieser Brillanz. Irgendwie lebte ihr böses Kind. Wie eine Seuche aus vergangenen Jahren erschien er allmählich wieder auf der Welt. Wenn sie genug Zeit hatten, würden diese Partisanen-Rudel Holzschnitzerins Fähigkeit, ihre Truppen zu versorgen, ernsthaft schädigen. Wenn sie genug Zeit hatten. Zwei von ihr standen auf und sahen Scrupilo in die Augen, um den Worten mehr Nachdruck zu verleihen: »Um so mehr müssen wir jetzt vorrücken, mein Freund. Wir sind es, die sich fern von Daheim befinden. Wir sind es, deren Zahl und Vorräte begrenzt sind. Wenn wir nicht bald siegen, werden wir nach und nach zerschnitten.« Geflenst.
Scrupilo stand auf und nickte ergeben. »Das sagt Wanderer auch. Und Johanna möchte glatt durch die Burgmauern stürmen… Aber da ist noch etwas, Euer Majestät. Selbst wenn wir mit ganzer Kraft voranstürmen müssen: Ich habe zehn Zehntage gearbeitet und jeden Hinweis, den ich im Datio verstehen konnte, ausgenutzt, um unsere Geschütze herzustellen. Majestät, ich weiß, wie schwer es ist, so etwas zu tun. Trotzdem haben die Kanonen, die wir am Margrum erbeutet haben, die dreifache Reichweite und ein Viertel des Gewichts. Wie konnten sie das schaffen?« Zorn und Scham klangen in seiner Stimme. »Der Verräter« – Scrupilo wies mit einer Schnauze in Feilonius’ Richtung – »glaubt, dass sie vielleicht Johannas Bruder haben, aber Johanna sagt, dass sie kein Datio oder dergleichen besitzen. Majestät, Stahl hat einen Vorteil, den wir noch nicht kennen.«
Selbst die Hinrichtungen nützten nichts. Tag für Tag fühlte Stahl seine Wut anwachsen. Allein auf dem Wehrgang hieb er hin und her auf sich selbst ein, kaum zu einer anderen Empfindung als seiner Wut fähig. Niemals, seit ihn der Flenser unterm Messer gehabt hatte, war die Wut derart durchdringend gewesen. Komm zu dir, ehe er dich wieder schneidet, schien die Stimme eines früheren Stahl zu sagen.
Er klammerte sich an den Gedanken, riss sich zusammen. Er starrte hinab auf blutigen Geifer und schmeckte Asche. Drei von seinen Schultern waren mit Rissen von Zähnen gezeichnet – er hatte sich selbst verletzt, noch eine Gewohnheit, von der ihn Flenser vor langer Zeit geheilt hatte. Füge nach außen hin Verletzungen zu, niemals dir selbst. Stahl leckte mechanisch an den klaffenden Wunden und trat näher an den Rand des Wehrgangs.
Am Horizont verdüsterte schwarzgrauer Dunst Meer und Inseln. Die letzten Tage über waren die Sommerwinde ein heißer Atem gewesen, der nach Rauch schmeckte. Jetzt glichen die Winde selbst Bränden, die an der Burg vorbeischlugen und Asche und Rauch mit sich führten. Den ganzen letzten Tag über war die andere Seite der Bitterschlucht ein Feuermeer gewesen; heute konnte er die Bergflanken sehen: sie waren schwarz und braun, gekrönt von Rauch, der zum Meereshorizont hinüberwehte. Im Hochsommer gibt es oft Busch- und Waldbrände. Doch dieses Jahr, als sei die Natur ein göttliches Kriegsrudel, waren die Feuer überall gewesen. Die verdammten Kanonen waren schuld daran. Und dieses Jahr konnte er nicht in die Kühle der Verborgenen Insel zurückweichen und das Küstenvolk sich selbst überlassen.
Stahl ignorierte seine schmerzenden Schultern und lief tief in Gedanken über die Steine, fast analytisch zur Abwechslung. Die Kreatur Feilonius war nicht käuflich geblieben, er hatte sich zum Verräter an seinem Verrat gewendet. Stahl hatte damit gerechnet, dass Feilonius entdeckt werden könnte; er verfügte über andere Spione, die derlei hätten melden müssen. Doch es hatte kein Anzeichen gegeben – bis zur Katastrophe vom Margrum-Steig. Nun hatte die Wendung von Feilonius’ Messer all ihre Pläne auf den Kopf gestellt. Holzschnitzerin würde sehr bald hier sein, und nicht als Opfer.
Wer hätte ahnen können, dass er wirklich die Raumleute brauchen würde, damit sie ihn vor Holzschnitzerin retteten? Er hatte so viel daran gesetzt, den Südländern gegenüberzutreten, ehe Ravna eintraf. Doch jetzt brauchte er jene Hilfe vom Himmel – und sie war mehr als fünf Stunden entfernt. Bei dem Gedanken wäre Stahl beinahe wieder in den Zustand der Raserei verfallen. Sollte letzten Endes all das Herumgeschmuse mit Amdijefri vergebens gewesen sein? Oh, wenn das vorbei ist, wie ich es genießen werde, die beiden umzubringen. Mehr als jeder andere verdienten sie den Tod. Sie hatten so viel Scherereien gemacht. Sie hatten ständig sein freundliches Verhalten notwendig gemacht, als ob sie über ihn herrschten. Sie hatten ihn mit mehr Unverschämtheiten überschüttet als zehntausend normale Untertanen.
Aus dem Burghof drang das Geräusch von arbeitenden Rudeln herauf, das Knarren von Winden, das Schurren und Knirschen von versetzten Steinen. Der professionelle Kern von Flensers Imperium hielt stand. In ein paar Stunden würden die Breschen in den Mauern repariert und neue Kanonen aus dem Norden herbeigeschafft sein. Und der große Plan kann immer noch gelingen. Solange ich beisammen bin, egal, was sonst verloren geht, kann er gelingen.
Fast vom Lärm verschluckt, hörte er das Klicken von Krallen auf der Innentreppe. Stahl wich zurück, wandte alle Köpfe dem Geräusch zu. Sreck? Aber Sreck hätte sich erst gemeldet. Dann entspannte er sich; es war eine Gruppe von Krallengeräuschen. Es war ein Solo, das die Stufen heraufkam.
Flensers Glied erschien oben und verbeugte sich vor Stahl, eine unvollständige Geste, da sie nicht von anderen Gliedern mitvollzogen wurde. Der Radioumhang des Gliedes schimmerte rein und dunkel. Die Armee war voller Ehrfurcht vor diesen Umhängen und vor den Solos und Duos, die klüger zu sein schienen als das intelligenteste Rudel. Sogar Stahls Leutnants, die begriffen, worum es sich bei den Umhängen wirklich handelte – sogar Sreck –, waren in ihrer Gegenwart vorsichtig und zurückhaltend. Und nun brauchte Stahl das Flenser-Fragment mehr als je zuvor, mehr als alles andere, ausgenommen die Leichtgläubigkeit des Sternenvolks. »Was gibt’s?«
»Darf ich mich setzen?« Stand das sardonische Lächeln Flensers hinter der Bitte?
»Genehmigt«, warf Stahl hin.
Das Solo machte es sich auf den Steinen bequem. Doch Stahl sah, als der andere zusammenzuckte; das Fragment war nun seit fast zwanzig Tagen über das Reich zerstreut. Ausgenommen kurze Zeitabschnitte, war es die ganze Zeit in die Umhänge gehüllt. Dunkle und goldene Folter. Stahl hatte dieses Glied ohne seinen Umhang gesehen, wenn es gebadet wurde. Sein Fell war an Schultern und Hüften völlig abgeschabt, wo die Last des Radios am größten war. Blutige Wunden hatten sich in der Mitte der kahlen Stellen gebildet. Allein ohne Umhang, hatte das geistlose Solo seinen Schmerz herausgeplappert. Stahl genoss solche Gelegenheiten, obwohl dieses Glied sich nicht besonders gut ausdrücken konnte. Fast war es, als sei er, Stahl, nun Der, Der Mit Einem Messer Lehrt, und Flenser sein Schüler.
Das Solo schwieg einen Moment lang. Stahl konnte sein schlecht verhohlenes Keuchen hören. »Der letzte Tag ist gut gegangen, mein Fürst.«
»Hier nicht! Wir haben fast alle Geschütze verloren. Wir sind in diesen Mauern gefangen.« Und das Sternenvolk kommt vielleicht zu spät.
»Ich meine das draußen.« Das Solo streckte die Nase in Richtung der freien Räume jenseits des Wehrgangs. »Deine Kundschafter sind gut ausgebildet, mein Fürst, und haben ein paar kluge Kommandeure. Eben jetzt bin ich über Holzschnitzerins Rücken und Flanken ausgebreitet.« Das Solo machte seine rudimentäre Geste eines Lachens. ›»Rücken und Flanken‹. Komisch. Für mich ist Holzschnitzerins ganze Armee wie ein einziges feindliches Rudel. Die Einheiten unserer Angriffsinfanterie sind wie Klauen an meinen eigenen Pfoten. Wir reißen tiefe Wunden in die Königin, mein Fürst. Ich habe das Feuer in der Bitterschlucht gelegt. Nur ich sah genau, wo es sich ausbreitete, wie man damit töten konnte. In vier Tagen wird von den Reserven der Königin nichts mehr übrig sein. Sie wird uns gehören.«
»Zu lange hin, wenn wir diesen Abend tot sind.«
»Ja.« Das Solo reckte Stahl den Kopf entgegen. Er lacht mich aus. Ganz wie all die Male unter Flensers Messer, wenn eine Aufgabe gestellt und ein Versagen mit dem Tode bestraft wurde. »Aber Ravna und ihre Leute müssten in fünf Stunden hier sein, nicht wahr?« Stahl nickte. »Gut, ich garantiere dir, dass das Stunden vor Holzschnitzerins Hauptangriff sein wird. Du hast Amdijefris Vertrauen. Anscheinend brauchst du deinen früheren Zeitplan nur vorzuverlegen und zusammenzudrängen. Wenn Ravna verzweifelt genug ist…«
»Die Sternenleute sind verzweifelt. Ich weiß das.« Ravna mochte vielleicht ihre wahren Motive verschleiern, doch ihre Verzweiflung war offensichtlich. »Und wenn du Holzschnitzerin bremsen kannst…« Stahl setze sich mit allen seinen hin, um sich auf die allernächsten Pläne zu konzentrieren. Halb wurde ihm bewusst, wie seine Ängste wichen. Pläne zu schmieden war immer angenehm. »Das Problem ist, dass wir jetzt zwei Dinge tun müssen, und zwar perfekt aufeinander abgestimmt. Früher ging es einfach darum, eine Belagerung vorzutäuschen und das Sternenschiff zwischen die Kiefer unserer Burg zu locken.« Er wandte einen Kopf zum Burghof hin. Die Steinkuppel über dem gelandeten Sternenschiff war seit Mitte des Frühlings an Ort und Stelle. Sie wies jetzt etliche Schäden vom Beschuss auf, die Marmorverkleidung war weggesprengt worden, doch sie hatte keine direkten Treffer abbekommen. Daneben lag das Feld der Kiefer: groß genug, um das Rettungsschiff aufzunehmen, doch von Steinsäulen umringt, den Zähnen der Kiefer. Beim richtigen Gebrauch von Schießpulver würden die Zähne auf die Retter fallen. Das würde das letzte Mittel sein, falls man die Menschen nicht töten und gefangen nehmen konnte, wenn sie herauskamen, um ihren lieben Jefri zu treffen. Dieser Plan war viele Zehntage lang liebevoll gehegt worden, unterstützt von Amdijefris Mitteilungen über menschliche Psychologie und sein Wissen darüber, wie Raumschiffe normalerweise landeten. Jetzt aber: »… Jetzt brauchen wir wirklich ihre Hilfe. Worum ich sie bitte, muss zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: sie zu übertölpeln und Holzschnitzerin zu vernichten.«
»Schwer, das alles auf einmal zu tun«, stimmte das Vermummte zu. »Warum nicht in zwei Schritten spielen, wobei der erste mehr oder weniger ohne Täuschung auskommt: sie Holzschnitzerin vernichten lassen und sich dann darum kümmern, wie wir uns ihrer bemächtigen?«
Stahl ließ geistesabwesend eine Klaue gegen den Stein klicken. »Ja. Das Problem ist, wenn sie zu viel sehen… Sie können unmöglich so naiv wie Jefri sein. Er sagt, dass die Menschheit in ihrer Geschichte Zeiten mit Burgen und Kriegen hatte. Wenn sie zu viel herumfliegen, werden sie Dinge sehen, die Jefri niemals erblickt oder nie verstanden hat… Vielleicht könnte ich sie dazu bringen, innerhalb der Burg zu landen und Waffen auf den Mauern in Stellung zu bringen. Sie werden meine Geiseln sein, sobald sie zwischen unsern Kiefern stehen. Verdammt. Das würde ein bisschen geschickte Arbeit mit Amdijefri erfordern.« Die Wonnen der abstrakten Planung verblassten für einen Moment voller Wut. »Es fällt mir immer schwerer, mich mit diesen beiden abzugeben.«
»Um des Großen Rudels willen, sie sind doch beide noch ganz und gar Welpen.« Das Fragment schwieg kurz. »Natürlich mag Amdiranifani ein größeres Intelligenz-Potential als jedes andere Rudel besitzen, das ich jemals gesehen habe. Du meinst, er könnte sogar schlau genug sein, um durch seine Kindlichkeit« – er benutzte Samnorsk-Wort – »hindurch die Täuschung zu sehen?«
»Nein, das nicht. Ich habe ihre Hälse zwischen den Kiefern, und sie merken es noch immer nicht. Du hast Recht, Tyrathect, sie lieben mich wirklich.« Und wie ich sie dafür hasse. »Wenn ich bei ihnen bin, hängt das Pfahlwesen ständig an mir, nahe genug, um mir die Kehle durchzuschneiden oder die Augen auszustechen, dabei umarmt und streichelt er mich nur. Und erwartet, dass ich seine Liebe erwidere. Ja, sie glauben mir jedes Wort, aber der Preis ist eine endlose Unverschämtheit.«
»Ruhe bewahren, lieber Schüler. Das A und O der Manipulation ist, sich einzufühlen, ohne innerlich berührt zu werden.« Das Fragment hielt wie üblich kurz vor dem Abgrund inne. Doch diesmal fühlte Stahl sich eine Antwort zischen, ehe ihm seine Reaktion überhaupt zu Bewusstsein kam.
»Halt… mir… keine Vorträge! Du bist nicht Flenser. Du bist ein Fragment. Scheiße! Du bist jetzt das Fragment eines Fragments. Ein Wort, und du wirst in Stücke geschnitten, in tausend kleine Stücke.« Er versuchte das Zittern zu unterdrücken, das sich über seine Glieder ausbreitete. Warum habe ich ihn denn nicht früher getötet? Ich hasse Flenser mehr als alles in der Welt, und es wäre so einfach. Aber das Fragment war immer so unersetzlich, irgendwie das Einzige, was zwischen Stahl und dem Misserfolg stand. Und Stahl hatte ihn wirklich unter Kontrolle.
Und das Solo duckte sich in sehr zufrieden stellender Angst. »Setz dich auf! Gib mir deinen Rat anstatt deiner Vorträge, und du wirst leben… Warum auch immer, ich kann unmöglich das Rätselraten mit diesen Welpen fortführen. Ein paar Minuten lang kann ich es vielleicht tun, oder wenn andere Rudel zugegen sind, die sie von mir fern halten, aber nicht dieses endlose Geliebe. Noch eine Stunde davon, und ich… ich weiß, dass ich sie umbringen werde. So. Ich will, dass du mit Amdijefri sprichst. Erkläre die ›Situation‹. Erkläre…«
»Aber…« Das Solo blickte ihn erstaunt an.
»Ich werde zuschauen; ich denke nicht daran, dir diese beiden zu überlassen. Du sollst nur die Unterredungen aus der Nähe führen.«
Das Fragment ließ die Schultern hängen und verbarg nicht den Schmerz darin. »Wenn das dein Wunsch ist, mein Fürst.«
Stahl bleckte alle seine Zähne. »Das ist es. Aber denke daran, ich werde bei allem Wichtigen zugegen sein, insbesondere bei direkten Funkverbindungen.« Er winkte dem Solo zu, den Wehrgang zu verlassen. »Geh jetzt und lass dich von den Kindern umarmen, lerne selber etwas Selbstkontrolle.«
Nachdem das Vermummte gegangen war, rief er Sreck auf den Wehrgang hinauf. Die nächsten paar Stunden verbrachte er mit der Inspektion der Verteidigungsanlagen und in Planbesprechungen mit seinem Stab. Stahl war sehr überrascht, wie sehr die Regelung des Welpen-Problems seine geistige Verfassung verbessert hatte. Seine Berater schienen das zu empfinden, sie entspannten sich so weit, dass sie gehaltvolle Vorschläge unterbreiteten. Wo die Breschen in den Mauern nicht repariert werden konnten, würden sie Todesfallen bauen. Die Geschütze aus den Werkstätten im Norden würden vor Tagesende eintreffen, und einer von Srecks Leuten hatte einen Ersatzplan für die Nahrungs- und Wasserversorgung ausgearbeitet. Berichte von den Fernspähern zeigten stetige Fortschritte, ein Ausdünnen der feindlichen Nachhut; sie würden den größten Teil ihrer Munition einbüßen, ehe sie den Schiffsberg erreichten. Selbst jetzt fiel kaum ein Schuss auf dem Berg.
Als die Sonne sich im Süden erhob, war Stahl wieder auf den Wehrgängen und legte sich zurecht, was er den Sternenleuten sagen würde.
Es war fast wie früher, als die Pläne sich gut entwickelten und der Erfolg wunderbar, aber erreichbar schien. Und dennoch – all die Stunden seit seinem Gespräch mit dem Solo hatten im Hintergrund seines Denkens die kleinen Krallen der Furcht gesteckt. Stahl schien zu herrschen. Das Flenser-Fragment schien zu gehorchen. Doch obwohl es über Meilen ausgebreitet war, schien das Rudel besser beisammen zu sein als jemals zuvor. Oh, früher hatte das Fragment oft Ausgeglichenheit vorgetäuscht, doch seine innere Spannung hatte immer durchgeschimmert. Neuerdings schien es mit sich selbst zufrieden zu sein, fast… selbstgefällig. Das Flenser-Fragment war verantwortlich für die Streitkräfte des Reichs südlich des Schiffsbergs, und ab heute – nachdem Stahl ihm die Zuständigkeit aufgezwungen hatte – würden die Vermummten jeden Tag bei Jefri sein. Egal, dass die Motive dafür aus Stahls Innerem gekommen waren. Egal, dass sich das Fragment offensichtlich in einem Zustand qualvoller Erschöpfung befand. Im Vollbesitz seines Genies hätte der Große einen Waldwolf glauben machen können, Flenser sei seine Königin. Und weiß ich wirklich, was er den Rudeln jenseits meiner Hörweite sagt? Kann es sein, dass mir meine Spione Lügen über ihn auftischen?
Nun, da er für einen Augenblick frei von den unmittelbaren Sorgen war, gruben sich diese kleinen Krallen tiefer. Ich brauche ihn, ja. Aber mein Spielraum für Irrtümer ist jetzt kleiner. Nach einer Weile rührte er eine frohe Saite an und akzeptierte das Risiko. Notfalls würde er anwenden, was er an dem zweiten Satz Umhänge gelernt und kunstreich vor Flenser Tyrathect verborgen hatte. Notfalls würde das Fragment erfahren, dass der Tod so schnell wie das Radio sein kann.
Selbst als er den Geschwindigkeitsausgleich flog, benutzte Pham den Ultraantrieb. Das würde ihnen Stunden für den Rückflug ersparen, aber es war ein riskantes Spiel, für das die ADR niemals konstruiert worden war. Die ADR sprang im ganzen Sonnensystem herum. Ein wirklich glücklicher Sprung war alles, was sie brauchten, und ein wirklich unglücklicher, in den Planeten hinein, würde sie das Leben kosten – ein guter Grund, warum dieses Spiel normalerweise nicht gespielt wurde.
Nachdem er stundenlang an der Flugautomatik herumgefummelt oder mit dem Ultraantrieb Roulette gespielt hatte, zitterten dem armen Pham sachte die Hände. Jedesmal, wenn die Klauenwelt wieder in Sicht kam – oft nur ein ferner blauer Lichtpunkt –, starrte er sie eine Sekunde lang an. Ravna sah, wie in ihm der Zweifel wuchs: Seine Erinnerung sagte ihm, dass er sich gut mit Technik auf niedrigem Niveau auskennen sollte, doch manche der einfachsten Anlagen auf der ADR waren fast nicht zu durchschauen. Oder vielleicht waren seine Erinnerungen an seine Sachkenntnis, an die Dschöng Ho, ein billiger Schwindel.
»Die Pestflotte. Wie lange noch?«, fragte Pham.
Grünmuschel beobachtete das Navigationsfenster aus der Kabine der Skrodfahrer. Es war in der letzten Stunde das fünfte Mal, dass die Frage gestellt wurde, dennoch klang ihre Antwort ruhig und geduldig. Vielleicht erschienen ihr die wiederholten Fragen sogar natürlich. »Abstand neunundvierzig Lichtjahre. Geschätzte Ankunftszeit achtundvierzig Stunden. Sieben weitere Schiffe sind ausgefallen.« Ravna konnte substrahieren: Einhundertundzweiundfünfzig waren noch unterwegs zu ihnen.
Blaustiels Voder übertönte den seiner Partnerin. »In den letzten zweihundert Sekunden sind sie etwas schneller als zuvor geworden, aber ich glaube, das ist eine örtliche Abweichung in den Bedingungen des Grundes. Herr Pham, Sie machen es gut, aber ich kenne mein Schiff. Wir könnten ein bisschen mehr Zeit herausholen, wenn Sie mir die Steuerung erlauben würden. Bitte…«
»Ruhe!« Phams Stimme war scharf, die Worte aber kamen fast automatisch. Es war ein Wortwechsel – oder der Abbruch davon –, der fast ebenso oft vorkam, wie Phams Frage nach dem Stand der Pestflotte.
In den ersten Wochen ihrer Reise hatte sie angenommen, die Gottsplitter seien irgendwie übermenschlich. Statt dessen waren sie Stückwerk, eine Automatik, die in großer Panik geladen worden war. Vielleicht funktionierten sie richtig, vielleicht aber liefen sie auch Amok und zerrissen Pham mit ihren Irrtümern.
Der alte Zyklus von Furcht und Zweifel wurde plötzlich von weichem blauem Licht durchbrochen. Die Klauenwelt! Endlich ein wunderbar exakter Sprung, fast ebenso gut wie der Hammer vor fünf Stunden: In zwanzigtausend Kilometern Entfernung hing eine große schmale Sichel, der Rand der Tagseite. Der Rest war ein dunkler Fleck vor dem Sternenhimmel, außer am Südpol, wo ein Ring von Nordlicht schwach grün glühte. Jefri Olsndot war auf der von ihnen abgewandten Seite der Welt, im arktischen Tag. Sie würden keine Funkverbindung haben, bis sie am Ziel eintrafen – und sie hatte nicht herausgefunden, wie man die Ultrawelle auf Kurzstreckenübertragungen einstellen könnte.
Sie wandte sich von dem Anblick ab. Pham starrte noch immer hinauf in den Himmel hinter ihr. »… Pham, was nützen uns achtundvierzig Stunden? Werden wir das GEGENMITTEL einfach vernichten?« Was wurde aus Jefri und Herrn Stahls Leuten?
»Vielleicht. Aber es gibt andere Möglichkeiten. Es muss welche geben.« Die letzten Worte leise. »Ich bin schon früher gejagt worden. Ich habe tiefer in der Klemme gesteckt.« Seine Augen wichen ihrem Blick aus.