SECHS

 

Wenn sie zurückblickte, sah Ravna Bergsndot, wie unausweichlich sie hatte Bibliothekarin werden müssen. Als Kind auf den Welten von Sjandra Kei war sie in Geschichten aus dem Zeitalter der Fürstinnen verliebt gewesen. Da gab es richtige Abenteuer, eine Zeit, in der eine Handvoll tapfere Fürstinnen die Menschheit zur Größe getrieben hatte. Sie und ihre Schwester hatten zahllose Nachmittage damit verbracht, die Großen Zwei zu spielen und die Gräfin vom See zu befreien. Später begriffen sie, dass die Nyjora und ihre Fürstinnen im Nebel der Vergangenheit verschollen waren. Schwester Lynne wandte sich praktischeren Dingen zu. Doch Ravna verlangte es noch immer nach Abenteuern. Als Halbwüchsige hatte sie davon geträumt, in den Straumli-Bereich zu emigrieren. Das war etwas sehr Reales. Man stelle sich nur vor: eine neue und größtenteils menschliche Kolonie, direkt an der Obergrenze des Jenseits. Und Leute aus der Mutterwelt waren auf Straum willkommen; die Kolonie war noch keine hundert Jahre alt. Sie oder ihre Kinder würden als erste Menschen in der ganzen Galaxis ihr eigenes Menschsein transzendieren. Sie könnte ein Gott werden, und reicher als eine Million Jenseitswelten. Der Traum war real genug, um fortwährend ein Streitpunkt zwischen ihr und ihren Eltern zu sein. Denn wo ein Himmel ist, kann es auch eine Hölle geben. Der Straumli-Bereich lag nahe am Transzens, und die Leute dort spielten mit ›den Tigern, die jenseits der Gitterstäbe hin und her gehen‹. Vater hatte dieses abgegriffene Bild tatsächlich benutzt. Der Streit entzweite sie für etliche Jahre. Dann, als sie ihre Kurse in Computerwissenschaft und Angewandter Theologie absolvierte, begann Ravna, etwas über manche von den alten Schrecknissen zu lesen. Vielleicht, vielleicht… sollte sie ein bisschen vorsichtiger sein. Sich lieber erst einmal umschauen. Und es gab einen Weg, in alles Einblick zu nehmen, was Menschen im Jenseits nur verstehen konnten:

Ravna wurde Bibliothekarin. »Das Nonplusultra an Dilettantismus!«, hatte Lynne sie gefoppt. »Stimmt, na und?«, hatte Ravna geknurrt, doch der Traum von weiten Reisen lebte in ihr weiter.

Das Leben an der Herte-Universität bei Sjandra Kei hätte eigentlich wie für sie geschaffen sein müssen. So hätte es hier ein Leben lang glücklich weitergehen können – nur dass im Jahr ihrer Abschlussarbeit der Wettbewerb der Vrinimi-Organisation für eine Reiseaspirantur stattgefunden hatte. Der Preis war ein dreijähriges Arbeitsstudium am Archiv bei Relais. Ihn zu gewinnen, war eine einmalige Chance; sie würde mit mehr Erfahrung zurückkehren, als jeder Akademiker am Ort besaß.

So kam es, dass sich Ravna Bergsndot mehr als zwanzigtausend Lichtjahre von Zuhause wiederfand, im Zentrum des Netzes, das eine Million Welten verband.

 

Es war eine Stunde nach Sonnenuntergang, als Ravna über Parkstadt zum Sitz von Grondr Vrinimikalir schwebte. Sie war seit ihrer Ankunft im Relais-System nur ein paarmal auf dem Planeten gewesen. Den Großteil ihrer Arbeit machten die Archive selbst aus – mehr als tausend Lichtstunden weiter draußen. In diesem Teil von DaUnten herrschte Frühherbst, obwohl die Farben der Bäume in der Dämmerung zu Grau verblasst waren. In Ravnas Höhe von einhundert Metern lag in der Luft ein Vorgeschmack von Frost. Zwischen ihren Füßen sah sie Lagerfeuer und Spielfelder. Die Vrinimi-Organisation gab nicht viel für den Planeten aus, doch es war eine schöne Welt. Solange sie den Blick auf den dunkelnden Erdboden gerichtet hielt, konnte sich Ravna sogar vorstellen, irgendwo in ihrem heimatlichen Terraneum von Sjandra Kei zu sein. Wenn man jedoch gen Himmel schaute… dann wusste man sofort, dass man weit weg von Zuhause war: zwanzigtausend Lichtjahre entfernt sprühte der galaktische Strudel zum Zenit empor.

In der Dämmerung war er zwar nur schwach, und er würde diese Nacht vielleicht nicht viel heller werden: Tief am Westhimmel leuchtete eine Gruppe von Fabriken innerhalb des Systems heller als jeder Mond. Ihre Arbeitsabläufe waren ein strahlendes Flackern von Sternen und Strahlen, manchmal so intensiv, dass die Berge von Parkstadt scharfe Schatten nach Osten warfen. In einer halben Stunde würden die Docks aufgehen. Die Docks waren nicht so hell wie die Fabriken, doch zusammen würden sie alles Licht von den fernen Sternen überstrahlen.

Sie verschob sich in ihrem Agrav-Harnisch und schwebte tiefer. Der Geruch nach Herbst und Lagerfeuern wurde stärker. Plötzlich stand rings um sie klickendes Kalir-Gelächter; sie war in ein Luftball-Spiel hineingeraten. Ravna breitete in gespielter Scham die Arme aus und wich den Spielern aus.

Ihr Streifzug durch den Park war fast zu Ende, vor sich sah sie ihr Ziel. Der Sitz von Grondr ’Kalir war eine Rarität in der Landschaft von Parkstadt: ein erkennbares Gebäude. Es stammte aus der Zeit, als sich die Org in das Relais-Unternehmen eingekauft hatte. Aus nur acht Metern Höhe gesehen, war das Haus eine eckige Silhouette vor dem Himmel. Wenn Lichter der Fabriken aufblitzten, glänzten die glatten Wände des Monolithen in öligen Schattierungen. Grondr war der Chef vom Chef ihres Chefs. Sie hatte innerhalb von zwei Jahren genau dreimal mit ihm gesprochen.

Keine Verzögerungen mehr. Nervös und sehr neugierig glitt Ravna tiefer und ließ sich von der Elektronik des Hauses über die Baumwipfel zum Eingang leiten.

Grondr Vrinimikalir behandelte sie mit der in der Organisation üblichen Höflichkeit, dem gemeinsamen Nenner zwischen den verschiedenen Rassen der Org: Das Konferenzzimmer verfügte über Möbel, die von Menschen wie von Vrinimi benutzt werden konnten. Es gab Erfrischungen und Fragen nach ihrer Arbeit am Archiv.

»Gemischte Ergebnisse, Herr Direktor«, antwortete Ravna aufrichtig. »Ich habe eine Menge gelernt. Die Aspirantur erfüllt alle Erwartungen. Ich fürchte aber, die neue Teilung wird eine zusätzliche Indexschicht erfordern.« Das stand alles in Berichten, die der alte Knabe augenblicklich hätte einsehen können.

Grondr rieb sich geistesabwesend mit der Hand über die Augensprenkel. »Ja, eine absehbare Enttäuschung. Mit dieser Erweiterung sind wir an der Grenze der Informationsverwaltung. Egravan und Derche« – das waren Ravnas Chef und der Chef des Chefs – »sind recht froh über Ihre Fortschritte. Sie sind mit guter Ausbildung hergekommen und haben schnell gelernt. Ich glaube, Menschen haben ihren Platz in der Organisation.«

»Danke, Herr Direktor.« Ravna errötete. Grondrs Einschätzung, so beiläufig sie ausgesprochen wurde, war für sie sehr wichtig. Und wahrscheinlich würde das bedeuten, dass weitere Menschen herkamen, vielleicht sogar, ehe ihre Aspirantur vorüber war. War das also der Grund für das Gespräch?

Sie gab sich Mühe, den anderen nicht anzustarren. Mittlerweile hatte sie sich an die Rasse, die die Mehrheit der Vrinimi stellte, recht gut gewöhnt. Von weitem sahen die Kalir humanoid aus. Aus der Nähe betrachtet, war der Unterschied gravierend. Die Rasse stammte von einer Art Insektenwesen ab. Als sie größer wurden, hatte die Natur notwendigerweise die Stützelemente ins Körperinnere verlegt, bis außen eine Mischung aus larvenartiger Haut und Lappen von bleichem Chitin blieb. Auf den ersten Blick war Grondr ein nicht weiter bemerkenswertes Exemplar seiner Rasse. Wenn er sich jedoch bewegte, sei es auch nur, um seine Jacke zurechtzurücken oder sich an den Augensprenkeln zu kratzen, lag in ihm eine sonderbare Exaktheit. Egravan sagte, er sei sehr, sehr alt.

Grondr wechselte abrupt das Thema. »Sie sind informiert über die… Veränderungen im Straumli-Bereich?«

»Sie meinen den Untergang von Straum? Ja.« Obwohl es mich wundert, dass Sie davon wissen. Der Straumli-Bereich war eine wichtige Zivilisation der Menschen, hatte aber nur winzigen Anteil am Informationsfluss von Relais.

»Ich darf Sie meines Mitgefühls versichern.« Ungeachtet der optimistischen Botschaften von Straum war es klar, dass der Straumli-Bereich einer totalen Katastrophe zum Opfer gefallen war. Fast jede Rasse tappte früher oder später ins Transzens, und die meisten davon wurden dort zur Superintelligenz, zu einer MACHT. Doch mittlerweile war deutlich geworden, dass die Straumer eine MACHT geschaffen oder erweckt hatten, die tödliche Neigungen zeigte. Ihr Schicksal war so schrecklich wie nur je etwas von dem, was Ravnas Vater vorhergesagt hatte. Und ihr Unglück war jetzt zu einer Katastrophe geworden, die den ganzen ehemaligen Straumli-Bereich erfasste.

Grondr fuhr fort: »Werden sich diese Nachrichten auf Ihre Arbeit auswirken?«

Es wurde immer spannender; sie hätte schwören können, dass der andere allmählich zum Kern der Sache käme. Vielleicht war das schon der Kern? »Ah… nein, Herr Direktor. Die Sache mit Straumli ist schrecklich, vor allem für die Menschheit. Aber meine Heimat ist Sjandra Kei. Der Straumli-Bereich stammt von uns ab, aber ich habe keine Verwandten dort.« Obwohl ich dort hätte sein können, wären nicht Mutter und Vater dagegen gewesen. In Wahrheit war Sjandra Kei, als Straumli Haupt vom Netz abfiel, fast vierzig Stunden lang nicht zu erreichen gewesen. Das hatte sie sehr beunruhigt, da jedes Umschalten auf eine andere Route augenblicklich hätte erfolgen müssen. Schließlich war die Verbindung wiederhergestellt worden; das Problem hatte in verwahrlosten Routen-Tabellen auf einem anderen Pfad gelegen. Ravna hatte sogar die Ersparnisse eines halben Jahres für eine Botschaft mit Rückantwort geopfert. Lynne und ihren Eltern ging es gut, für die Leute bei Sjandra Kei war das Debakel von Straumli die Nachricht des Jahrhunderts, aber dennoch eine Katastrophe in großer Entfernung. Ravna fragte sich, ob wohl jemals Eltern einen besseren Rat erteilt hatten, als sie von ihren erhalten hatte!

»Gut, gut.« Seine Mundpartien bewegten sich in einer Weise, die dem Nicken eines Menschen entsprach. Sein Kopf neigte sich, sodass nur noch die äußeren Sprenkel sie anblickten: der Bursche schien tatsächlich zu zögern! Ravna erwiderte den Blick schweigend. Grondr ’Kalir war vielleicht der seltsamste Direktor in der Org. Offiziell unterstand ihm eine Sektion der Archive; in Wahrheit leitete er die Vrinimi-Marketing-Abteilung (d.h. den Geheimdienst). Es wurde erzählt, er habe die Obergrenze des Jenseits besucht; Egravan behauptete, er besitze ein künstliches Immunsystem. »Sehen Sie, durch die Straumli-Katastrophe sind Sie zufällig zu einer der wertvollsten Angestellten der Organisation geworden.«

»Ich… verstehe nicht.«

»Ravna, die Gerüchte in der Nachrichtengruppe Bedrohungen sind wahr. Die Straumer hatten ein Laboratorium im Unteren Transzens. Sie spielten mit Rezepten aus einem verschollenen Archiv herum, und sie haben eine neue MACHT erschaffen. Es scheint eine PERVERSION DER KLASSE ZWEI zu sein.«

Das Bekannte Netz meldete etwa einmal pro Jahrhundert eine PERVERSION DER KLASSE ZWEI. Solche MÄCHTE besaßen eine normale ›Lebensdauer‹ – ungefähr zehn Jahre. Doch sie waren eindeutig bösartig und konnten in zehn Jahren riesigen Schaden anrichten. Armes Straum.

»Sie sehen also, dass hier ein riesiges Gewinn- oder Verlustpotential liegt. Wenn sich die Katastrophe ausbreitet, werden wir Netzkunden verlieren. Andererseits möchte jedermann rings um den Straumli-Bereich verfolgen, was vor sich geht. Das könnte unseren Informationsfluss um etliche Prozent vergrößern.«

Grondr formulierte es kaltblütiger, als ihr lieb war, doch er hatte Recht. Die Gewinnmöglichkeiten hingen tatsächlich direkt mit den Aktionen zusammen, um die PERVERSION einzudämmen. Wenn sie nicht derart in der Arbeit am Archiv versunken gewesen wäre, hätte sie sich das alles denken können. Und nun, da sie wirklich daran dachte: »Es gibt sogar noch mehr spektakuläre Möglichkeiten. In der Vergangenheit sind diese PERVERSIONEN von Interesse für andere MÄCHTE gewesen. Sie werden Netzkapazität haben wollen… und Information über die Schöpferrasse.« Ihre Stimme verstummte, als ihr endlich der Grund dieser Besprechung klar wurde.

Grondrs Mundpartien klickten zustimmend. »In der Tat. Wir von Relais sind in einer guten Position, um das Transzens mit Nachrichten zu versorgen. Und wir haben auch unseren eigenen Menschen. In den letzten drei Tagen haben wir etliche Dutzend Anfragen von Zivilisationen im Hohen Jenseits erhalten, die behaupten, MÄCHTE zu vertreten. Dieses Interesse könnte für die Organisation einen großen Zuwachs an Einkommen in der nächsten Dekade bedeuten.

Das alles konnten Sie in der Nachrichtengruppe Bedrohungen lesen. Doch da ist noch ein Punkt, etwas, das ich Sie vorläufig geheim zu halten bitte: Vor fünf Tagen ist ein Schiff aus dem Transzens in unserer Region eingetroffen. Es behauptet, direkt unter der Kontrolle einer MACHT zu stehen.« Die Wand hinter ihm wurde zu einem Fenster, das den Besucher zeigte. Das Schiff war eine unregelmäßige Ansammlung von Dornen und Klumpen. Ein Maßstab behauptete, das Ding habe nur fünf Meter im Durchmesser.

Ravna spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Hier im Mittleren Jenseits müssten sie relativ sicher vor der Launen der MÄCHTE sein. Dennoch – der Besuch war beunruhigend. »Was will es?«

»Information über die Straumli-PERVERSION. Insbesondere ist es sehr an Ihrer Rasse interessiert. Es würde eine Menge dafür geben, einen lebenden Menschen mitzunehmen…«

Ravnas Antwort kam abrupt. »Ich bin daran nicht interessiert.«

Grondr breitete die bleichen Hände aus. Das Licht glitzerte auf dem Chitin seiner Fingerrücken. »Es wäre eine enorme Chance. Eine Aspirantur bei den Göttern. Dieser eine hat versprochen, dafür hier ein Orakel einzurichten.«

»Nein!« Ravna erhob sich halb vom Stuhl. Sie war ein einzelner Mensch, mehr als zwanzigtausend Lichtjahre von Zuhause entfernt. Das war in den ersten Tagen ihrer Aspirantur beängstigend gewesen. Seither hatte sie Freunde gewonnen, hatte mehr über die Ethik der Organisation erfahren, vertraute diesen Leuten jetzt fast so sehr, wie den Menschen daheim bei Sjandra Kei. Aber… es gab dieser Tage nur ein halbwegs vertrauenswürdiges Orakel im Netz, und das war fast zehn Jahre alt. Diese MACHT verlockte die Vrinimi-Org mit einem märchenhaften Schatz.

Grondrs Klicken bedeutete Verlegenheit. Er winkte sie zu ihrem Stuhl zurück. »Es war nur ein Vorschlag. Wir missbrauchen unsere Angestellten nicht. Wenn Sie einfach unser Experte vor Ort sein wollen…«

Ravna nickte.

»Gut. Offen gesagt, ich hatte nicht erwartet, dass Sie das Angebot annehmen würden. Wir haben jemanden, der wohl eher dazu bereit sein wird, der aber Betreuung braucht.«

»Einen Menschen? Hier?« Ravna ließ im örtlichen Verzeichnis eine ständige Abfrage nach anderen Menschen laufen. In den letzten zwei Jahren hatte sie ganze drei zu Gesicht bekommen, und die waren nur auf der Durchreise gewesen. »Seit wann ist sie – er? – hier?«

Grondr sagte etwas zwischen einem Lächeln und einem Lachen. »Etwas länger als ein Jahrhundert, obwohl wir es erst vor ein paar Tagen festgestellt haben.« Die Bilder rings um ihn wechselten. Ravna erkannte den ›Dachboden‹ von Relais, die Müllhalde von verlassenen Schiffen und Frachtgeräten, die gerade mal tausend Lichtsekunden von den Archiven entfernt im Raum trieb. »Wir bekommen eine Menge Einwegfracht, Dinge, die in der Hoffnung versandt werden, dass wir sie kaufen oder in Kommission nehmen.« Ins Bild kam ein altersschwaches Raumfahrzeug, an die zweihundert Meter lang, mit einer Wespentaille, die einem Staustrahlantrieb Halt bot. Seine Ultraantriebs-Dorne waren kaum mehr als Stummel.

»Ein Grundschlepper?«, sagte Ravna.

Grondr klickte verneinend. »Ein Bagger. Das Schiff ist ungefähr dreißigtausend Jahre alt. Die meiste Zeit davon war es tief in die Langsame Zone eingetaucht, und zehntausend Jahre in die Gedankenleeren Tiefen.«

Aus der Nähe konnte sie jetzt sehen, dass der Schiffsrumpf mit feinen Grübchen übersät war, dem Ergebnis jahrtausendelanger relativistischer Erosion. Selbst unbemannt waren solche Expeditionen selten: bei tiefem Eintauchen konnte das Schiff nicht zu Lebzeiten seiner Erbauer ins Jenseits zurückkehren. Manche kehrten nicht einmal zurück, solange die Rasse seiner Erbauer lebte. Die Leute, die derlei Expeditionen aussandten, waren halt ein bisschen sonderbar; die Leute, die die Expedition wieder auffanden, konnten ordentlichen Gewinn daraus ziehen.

»Dieses hier ist von sehr weit gekommen, selbst wenn die Mission nicht den absoluten Erfolg hatte. In den Gedankenleeren Tiefen hat es weiter nichts Interessantes zu Gesicht bekommen – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sogar simple Automatik dort versagt. Den größten Teil der Fracht haben wir sofort verkauft. Den Rest haben wir katalogisiert und vergessen… bis zur Straumli-Affäre.« Das Sternenpanorama verschwand. Sie blickten auf eine medizinische Anzeige, eine zufällige Ansammlung von Gliedern und Körperteilen. Sie sahen sehr menschlich aus. »In einem Sonnensystem am Grunde des Langsam hat der Bagger ein Wrack gefunden. Es besaß keinen Ultraantrieb, es war eine echte Konstruktion der Langsamen Zone. Das Sonnensystem war unbewohnt. Wir vermuten, dass das Schiff einen Strukturausfall hatte – oder vielleicht ist die Besatzung von den Tiefen in Mitleidenschaft gezogen worden. Jedenfalls blieb von ihnen nur ein gefrorener Mischmasch übrig.«

Eine Tragödie am Grunde des Langsam, Jahrtausende her. Ravna zwang sich, den Blick von dem Gemetzel abzuwenden. »Sie haben vor, das da an unseren Besucher zu verkaufen?«

»Es kommt noch besser. Nachdem wir erst einmal angefangen hatten, uns umzutun, entdeckten wir einen wesentlichen Fehler im Katalog. Einer von den Leichnamen ist fast intakt. Wir haben ihn mit Teilen von anderen zusammengeflickt. Es war teuer, aber jetzt haben wir einen lebendigen Menschen.« Das Bild flackerte abermals, und Ravna hielt den Atem an. In der medizinischen Animation ordneten sich die Teile zu einem Ganzen. Da war ein vollständiger Körper, am Bauch ein wenig aufgerissen. Teile fügten sich zusammen, und… das war keine Sie. Er schwebte heil und nackt, als schlafe er. Ravna zweifelte nicht an seiner menschlichen Natur, doch die ganze Menschheit im Jenseits stammte von der Nyjora ab. Dieser Bursche teilte dieses Erbe nicht. Die Haut war rauchgrau, nicht braun. Das Haar war ein rötliches Braun, eine Farbe, die sie nur in Historien aus der Zeit vor der Nyjora gesehen hatte. Die Gesichtsknochen zeigten feine Unterschiede gegenüber denen neuzeitlicher Menschen. Die kleinen Abweichungen machten einen stärkeren Eindruck als die völlige Fremdheit ihrer Arbeitskollegen.

Jetzt war die Gestalt bekleidet. Unter anderen Umständen hätte Ravna gelächelt. Grondr ’Kalir hatte ein absurdes Kostüm gewählt, etwas aus nyjoranischer Zeit. Die Gestalt trug ein Schwert und eine Kugelbüchse… Ein schlafender Prinz aus dem Zeitalter der Fürstinnen.

»Voilà: der Urtyp des Menschen«, sagte Grondr.