ZEHN

 

Johanna war lange Zeit in dem Boot. Die Sonne ging nie unter, obwohl sie bald tief hinter ihr stand, bald hoch vor ihr; jetzt war alles bewölkt, und Regen spritzte von dem Öltuch über ihren Decken. Sie verbrachte die Stunden in einem bedrückenden Dämmerzustand. Dinge geschahen, die nur Träume sein konnten. Da waren Kreaturen, die an ihrer Kleidung zerrten, überall klebte Blut. Sanfte Hände und Rattenschnauzen verbanden ihre Wunden und flößten ihr kühles Wasser ein. Wenn sie sich herumwarf, richtete Mutti ihre Laken und tröstete sie mit den sonderbarsten Lauten. Stundenlang lag jemand Warmes neben ihr. Manchmal war es Jefri, öfter war es ein großer Hund, ein Hund, der schnurrte.

Der Regen hörte auf. Die Sonne stand links vom Boot, aber hinter einem kalten, knatternden Schatten verborgen. Nach und nach konnte sie den Schmerz unterscheiden. Ein Teil davon war in ihrer Brust und in der Schulter, er durchfuhr sie, wann immer das Boot schwankte. Der andere Teil war in ihren Eingeweiden, eine Leere, die nicht einfach Übelkeit war… sie hatte solchen Hunger, solchen Durst.

Immer mehr erinnerte sie sich, statt zu träumen. Es gab Albträume, die nicht weichen wollten. Sie waren wirklich geschehen. Sie geschahen jetzt.

 

Die Sonne schaute bald aus dem Gewirr von Wolken hervor, bald verschwand sie dahinter. Sie glitt langsam tiefer über den Himmel, bis sie fast hinter dem Boot stand. Johanna versuchte sich zu erinnern, was Vati gesagt hatte, kurz bevor… alles schlimm wurde. Sie waren in der Arktis dieses Planeten, im Sommer. Also musste der tiefste Punkt der Sonnenbahn im Norden sein, und ihr Doppelrumpfboot segelte ungefähr südwärts. Wohin sie auch fuhren, sie entfernten sich mit jeder Minute weiter vom Raumschiff und von jeder Hoffnung, Jefri zu finden.

Manchmal war das Wasser wie offene See, wenn die Berge fern oder in tiefhängenden Wolken verborgen waren. Manchmal fuhren sie durch Meerengen, nahe an nackten Felswänden vorbei. Sie hatte nicht geahnt, dass ein Segelboot so schnell fahren oder so gefährlich sein könnte. Vier von den Rattenwesen arbeiteten verzweifelt, um sie von den Felsen fernzuhalten. Sie sprangen flink von der Mastplattform zur Reling, manchmal stellte sich einer auf des anderen Schultern, um ihre Reichweite zu vergrößern. Das doppelrümpfige Boot neigte sich und ächzte in dem plötzlich aufgewühlten Wasser. Dann waren sie hindurch, die Berge wichen in friedliche Entfernung zurück und glitten langsam nach hinten.

Eine Zeit lang täuschte sie ein Delirium vor. Sie stöhnte, sie wand sich. Sie beobachtete. Die Bootsrümpfe waren lang und schmal, fast wie Kanus. Der Segelmast war zwischen ihnen aufgerichtet. Der Schatten in ihren Träumen war das Segel gewesen, das im kalten, klaren Wind knatterte. Der Himmel war eine Lawine von Grautönen, hell und dunkel. Es gab Vögel dort oben. Sie stießen hinter dem Mast herab, umkreisten ihn wieder und wieder. Ein Zwitschern und Zischen war rings um sie. Doch das Geräusch kam nicht von den Vögeln.

Es waren die Monster. Sie beobachtete sie unter gesenkten Lidern hervor. Sie waren von derselben Art, die Mutti und Vati umgebracht hatten. Sie trugen sogar die gleiche komische Kleidung, graugrüne Jacken mit Steigbügeln und Taschen. Hunde oder Wölfe, hatte sie zuvor gedacht. Das war nicht die richtige Beschreibung. Gewiss, sie hatten vier schlanke Beine und spitze kleine Ohren. Aber mit ihren langen Hälsen und den gelegentlich rötlichen Augen konnten sie ebenso gut große Ratten sein.

Und je länger sie sie beobachtete, um so schrecklicher erschienen sie ihr. Ein unbewegliches Bild konnte diesen Schrecken niemals wiedergeben, man musste sie in Aktion sehen. Sie schaute zu, wie vier von ihnen – die auf ihrer Seite des Bootes – mit ihrem Datio spielten. Der Rosa Olifant war in einem Netzbeutel im Heckteil des Bootes befestigt. Jetzt wollten die Bestien ihn sich näher anschauen. Zuerst sah es wie eine Zirkusnummer aus, wie die Köpfe der Wesen hin und her schnellten. Doch jede Bewegung war so präzise, so abgestimmt auf alle anderen. Sie hatten keine Hände, aber sie konnten Knoten lösen, indem jeder ein Stück Tau im Maul hielt und sie ihre Hälse um die der anderen schlangen. Gleichzeitig presste einer mit den Krallen das lose Netz fest gegen die Reling. Es war, als betrachtete sie Puppen, die als Gruppe ferngesteuert wurden.

Es dauerte nur Sekunden, und sie hatten das Datio aus dem Beutel geholt. Hunde hätten es auf den Boden des Rumpfes gleiten lassen und dann mit ihren Nasen herumgeschoben. Nicht so diese Wesen: Zwei legten es auf eine Querbank, während ein dritter es mit der Pfote festhielt. Sie stocherten an den Rändern herum, vor allem an den Plüschseiten und den Schlappohren. Sie drückten und schnüffelten, doch mit klar erkennbarem Zweck. Sie versuchten es zu öffnen.

Zwei Köpfe tauchten über der Reling des anderen Rumpfes auf. Sie machten die kollernden, zischenden Laute, die eine Mischung aus einem Vogelruf und dem Geräusch waren, wenn sich jemand übergibt. Einer von denen auf ihrer Seite blickte zurück und stieß ähnliche Laute aus. Die drei anderen spielten weiter an den Verschlüssen des Datios.

Schließlich zogen sie gleichzeitig an den großen Schlappohren: das Datio klappte auf, und das obere Fenster begann mit Johannas Startroutine – einer Abbildung von ihr selbst, die sagte: »Schäm dich, Jefri. Lass meine Sachen in Ruhe!« Die vier Kreaturen erstarrten mit plötzlich weit aufgerissenen Augen.

Johannas vier drehten das Gerät so, dass die anderen es sehen konnten. Einer hielt es fest, während ein anderer auf das obere Fenster schaute und ein dritter sich am Tastenfenster zu schaffen machte. Die Kerle in dem anderen Rumpf wurden fast wahnsinnig, aber keiner von ihnen versuchte näher zu kommen. Das zufällige Herumtasten der vier beendete ihre Startgrüße abrupt. Einer von ihnen schaute zu den Kerlen im anderen Rumpf hinüber, zwei weitere beobachteten Johanna. Sie blieb mit beinahe geschlossenen Augen liegen.

»Schäm dich, Jefri. Lass meine Sachen in Ruhe!« Wieder erklang Johannas Stimme, doch sie kam von einem der Tiere. Es war eine perfekte Wiedergabe. Dann stöhnte eine Mädchenstimme und rief: »Mutti, Vati.« Es war wieder ihre eigene Stimme, aber verängstigter und kindlicher, als ihr lieb war.

Sie schien auf eine Antwort des Datios zu warten. Als nichts geschah, begann einer von ihnen wieder, mit seiner Nase gegen die Fenster zu drücken. Alles von Wert und alle gefährlichen Programme waren mit Passwörtern geschützt. Beleidigungen und Protestgekreisch drangen aus dem Kasten, all die kleinen Überraschungen, die sie für ihren herumschnüffelnden kleinen Bruder eingebaut hatte. O Jefri, werde ich dich jemals wiedersehen?

Die Klänge und Bilder belustigten die Monster ein paar Minuten lang. Schließlich überzeugten ihre willkürlichen Tastendrücke das Datio davon, dass jemand wirklich Junges den Kasten geöffnet hatte, und es schaltete sich in den Kindermodus.

Die Kreaturen wussten, dass sie zusah. Von den vier, die sich an ihrem Olifanten zu schaffen machten, beobachtete sie immer einer – nicht unbedingt derselbe. Sie spielten mit ihr, indem sie so taten, als wüssten sie nicht, dass sie sich verstellte.

Johanna öffnete die Augen weit und starrte die Kreatur an. »Verdammt!« Sie schaute in die andere Richtung. Und schrie. Die Meute im anderen Rumpf stand auf einem Haufen. Ihre Köpfe ragten auf gekrümmten Hälsen aus der Ansammlung von Körpern hervor. Im Licht der tiefstehenden Sonne glitzerten ihre Augen rot: ein Rudel Ratten oder Schlangen, das sie still anstarrte, wer weiß wie lange schon.

Die Köpfe beugten sich auf ihren Schrei hin vor, und sie hörte ihn wieder. Hinter ihr rief ihre eigene Stimme »Verdammt!« Irgendwo anders rief sie nach ›Mutti‹ und ›Vati‹. Wieder schrie Johanna, und sie gaben einfach das Echo zurück. Sie unterdrückte ihr Entsetzen und blieb still. Die Monster machten noch eine halbe Minute lang weiter mit dem Nachäffen, dem Vermischen von Dingen, die sie im Schlaf gesagt haben musste. Als sie sahen, dass sie sie damit nicht mehr ängstigen konnten, hörten die Stimmen auf, menschlich zu sein. Das Kollern ging hin und her, als ob zwei Gruppen etwas aushandelten. Schließlich schlossen die vier auf ihrer Seite das Datio und steckten es in den Netzbeutel.

Die sechs entwirrten sich. Drei sprangen an die Außenseite des Rumpfes. Sie packten den Rand fest mit den Zähnen und lehnten sich in den Wind. Jetzt sahen sie einmal fast wie Hunde aus – große Hunde, die an einem Autofenster saßen und in den Luftzug schnüffelten. Die langen Hälse schwangen vor und zurück. Alle paar Sekunden tauchte einer den Kopf außer Sicht, ins Wasser. Tranken sie? Fingen sie Fische?

Sie fischten. Ein Kopf schnellte hoch und schleuderte etwas Kleines und Grünes ins Boot. Die drei anderen Tiere schnüffelten herum und packten es. Flüchtig sah sie winzige Beine und einen glänzenden Rückenpanzer. Eine von den Ratten hielt es in der Spitze des Mauls, während die beiden anderen es zerrissen. Alles geschah mit jener unheimlichen Präzision. Das Rudel wirkte wie ein einziges Wesen und jeder Hals wie ein schwerer Fangarm, der in einem Paar Kiefer endete. Der Magen drehte sich ihr bei dem Gedanken um, doch da war nichts, was sie hätte erbrechen können.

Das Fischen dauerte noch eine Viertelstunde. Sie hatten mindestens sieben von den grünen Dingern erwischt. Aber sie fraßen sie nicht, jedenfalls nicht alle. Die zerteilten Reste sammelten sich in einer kleinen Holzschüssel.

Weiteres Kollern zwischen den beiden Seiten. Einer von den sechs packte den Schüsselrand mit seinem Maul und kroch über die Mastplattform. Die vier auf Johannas Seite drängten sich zusammen, als fürchteten sie sich vor dem Besucher. Erst als die Schüssel auf dem Boden stand und der Eindringling auf seine Seite zurückgekehrt war, reckten die vier in Johannas Schiffsrumpf wieder die Köpfe empor.

Eine der Ratten nahm die Schüssel auf. Dieser und ein anderer kamen auf sie zu. Johanna schluckte. Was für eine Folter war das? Ihr Magen krampfte sich wieder zusammen… sie hatte solchen Hunger. Sie schaute abermals auf die Schüssel und begriff, dass sie sie zu füttern versuchten.

Die Sonne war gerade unter Wolken im Norden hervorgekommen. Das flach fallende Licht war wie ein sonniger Herbstnachmittag, kurz nach dem Regen: dunkler Himmel oben, aber alles in der Nähe war hell und glänzte. Die Kreaturen hatten dichtes Fell, wie Plüsch. Einer hielt die Schüssel zu ihr hin, während der andere seine Schnauze hineinsteckte und… etwas Glitschiges und Grünes herauszog. Sie hielt das kleine Stück vorsichtig, nur mit der Spitze ihres langen Mauls. Sie drehte sich herum und warf Johanna das grüne Ding zu.

Johanna schreckte zurück. »Nein!«

Die Kreatur hielt inne. Einen Augenblick lang glaubte Johanna, sie würde das Echo zurückgeben. Dann ließ sie das Stück zurück in die Schüssel fallen. Das erste Tier stellte sie auf die Bank neben ihr. Es schaute für einen Moment zu ihr auf, dann ließ es den maulbreiten Ring am Rande der Schüssel los. Sie erhaschte einen Blick auf schmale, spitze Zähne.

Johanna starrte in die Schüssel, Übelkeit kämpfte mit Hunger. Schließlich brachte sie eine Hand unter ihrer Decke hervor und langte in die Schüssel. Köpfe erhoben sich rings um sie, und kollernde Kommentare wurden zwischen den beiden Seiten des Bootes ausgetauscht.

Ihre Finger schlossen sich um etwas Weiches und Kaltes. Sie hob es ins Sonnenlicht. Der Körper war graugrün, seine Seiten glänzten im Licht. Die Kerle im anderen Rumpf hatten die kleinen Beine ausgerissen und den Kopf abgetrennt. Was übrig blieb, war nur zwei oder drei Zentimeter lang. Es sah aus wie Filet von Meeresfrüchten. Einst hatten sie solche Speisen gern gegessen. Doch die waren gekocht gewesen. Beinahe ließ sie das Ding fallen, als sie fühlte, wie es in ihrer Hand zitterte.

Sie brachte es nahe an den Mund, berührte es mit der Zunge. Salzig. Auf Straum würden einen die meisten Meeresfrüchte sehr krank machen, wenn man sie roh aß. Wie sollte sie es wissen, ganz allein ohne Eltern oder ein lokales Kom-Netz? Sie fühlte Tränen aufsteigen. Sie sagte ein schmutziges Wort, stopfte sich das grüne Ding in den Mund und versuchte zu kauen. Fade, mit der Konsistenz von Nierenfett und Knorpel. Sie würgte, spuckte es aus… und versuchte ein anderes zu essen. Alles in allem brachte sie Teile von zweien hinunter. Vielleicht war es so am besten; sie würde abwarten und sehen, wie viel davon wieder hoch kam. Sie lehnte sich zurück und sah, wie Augenpaare sie betrachteten. Das Kollern mit der anderen Seite des Bootes nahm wieder zu. Dann kam einer von ihnen auf sie zu und brachte einen Ledersack mit einem Verschlussstopfen. Eine Feldflasche.

Die Kreatur war die größte von allen. Der Anführer? Er brachte seinen Kopf nahe an ihren und den Hals der Flasche an ihren Mund. Der Große schien scheu zu sein, vorsichtiger als die anderen, wenn er ihr nahe kam. Johannas Augen wanderten seine Flanken entlang nach hinten. Hinter dem Rand der Jacke war das Fell seines Hinterteils größtenteils weiß… und tief von einer Y-förmigen Narbe durchzogen. Dieser hatte Vati umgebracht.

Johannas Angriff war nicht geplant, vielleicht klappte er gerade deshalb so gut. Sie warf sich an der Feldflasche vorbei und schlang ihren freien Arm um den Hals des Wesens. Sie wälzte sich über das Tier und drückte es gegen den Bootsrumpf. Allein war es kleiner als sie und nicht stark genug, um sie abzuschütteln. Sie fühlte seine Krallen durch die Decken reichen, ohne sie indes zu verletzen. Sie legte ihr ganzes Gewicht auf das Rückgrat des Wesens, krallte sich fest, wo Kehle und Kiefer aufeinandertrafen, und begann seinen Kopf gegen das Holz zu schlagen.

Dann waren die anderen über ihr, Schnauzen, die unter sie fuhren, Kiefer, die ihren Ärmel packten. Sie fühlte Reihen von Zähnen gerade knapp durch den Stoff stechen. Ihre Körper surrten mit einem Klang aus ihren Träumen, einem Klang, der direkt durch ihre Kleidung drang und ihre Knochen erzittern ließ.

Sie zerrten ihre Hand von der Gurgel des anderen weg und drehten sie herum, sie fühlte, wie die Pfeilspitze innerlich an ihr riss. Doch eines konnte sie noch tun: Johanna stieß sich mit den Füßen ab, rammte ihren Kopf gegen den Kieferansatz des anderen und schmetterte so die Oberseite seines Kopfes gegen den Bootsrumpf. Die Körper rings um sie krampften sich zusammen, und sie wurde auf den Rücken geschleudert. Schmerz war das Einzige, was sie jetzt fühlen konnte. Weder Wut noch Angst konnten sie bewegen.

Dennoch nahm ein Teil von ihr die vier noch wahr. Sie hatte ihnen wehgetan. Sie hatten ihnen allen wehgetan. Drei taumelten umher und stießen pfeifende Laute aus, die diesmal aus ihren Mäulern zu kommen schienen. Der mit der Narbe am Hintern lag zuckend auf der Seite. Sie hatte eine sternförmige Wunde oben in seinen Kopf geschlagen. Blut tropfte an seinen Augen vorbei, rote Tränen.

Minuten verstrichen, und das Pfeifen hörte auf. Die vier Kreaturen drängten sich zusammen, und das vertraute Zischen begann wieder. Johannas Brust blutete wieder.

Sie starrten einander eine Zeit lang an. Sie lächelte ihren Feinden entgegen. Sie konnten verletzt werden. Sie fühlte sich besser denn je seit der Landung.