ZWEIUNDZWANZIG
»Pham?« Er hörte Ravnas Stimme
direkt hinter sich. Sie war auf der Brücke geblieben, nachdem die
Skrodfahrer gegangen waren, um sich irgendwelchen bedeutungslosen
Vorbereitungen zu widmen, die sie vereinbart hatten. Er antwortete
nicht, und nach einer Weile schwebte sie um ihn herum und verdeckte
seinen Blick auf die Sterne. Fast automatisch fixierte sein Blick
ihr Gesicht.
»Danke, dass du zu uns gesprochen hast… Wir brauchen dich mehr denn je.«
Er sah immer noch eine Menge Sterne. Sie standen rings um sie und bewegten sich langsam. Ravna reckte den Kopf vor, wie sie es zu tun pflegte, wenn sie freundliche Verwunderung ausdrücken wollte. »Wir können helfen…«
Er antwortete nicht. Was hatte ihn eigentlich eben noch zum Sprechen gebracht? Dann sagte er: »Niemand kann den Toten helfen«, auf unbestimmte Weise selbst erstaunt, dass er sprach. Wie die Fokussierung der Augen musste das Sprechen ein Reflex sein.
»Du bist nicht tot. Du bist so lebendig wie ich.«
Dann torkelten Worte aus ihm hervor, mehr als an allen Tagen seit Relais. »Stimmt. Die Illusion des eigenen Bewusstseins. Glückliche Automaten, gesteuert von simplen Programmen. Ich wette, du errätst es nie. Wie solltest du auch von innen her. Von außen, aus der Sicht des ALTEN…« Er wandte den Blick ab, von einem doppelten Seheindruck benommen.
Ravna trieb noch näher heran, bis sich ihr Gesicht nur noch Zentimeter von seinem entfernt befand. Sie schwebte frei, ausgenommen einen am Boden verankerten Fuß. »Lieber Pham, du irrst dich. Du bist am Grunde gewesen und an der Obergrenze, doch niemals dazwischen… ›Die Illusion des eigenen Bewusstseins‹? Das ist ein alter Hut für jede praktische Philosophie im Jenseits. Es hat ein paar schöne Konsequenzen und ein paar furchterregende.
Du kennst weiter nichts als die furchterregenden. Bedenke: Die Illusion muss genauso auch für die MÄCHTE gelten.«
»Nein. Er konnte Vorrichtungen wie dich und mich herstellen.«
»Tot zu sein, ist auch eine Wahlmöglichkeit, Pham.« Sie streckte die Hand aus, um ihm über Schulter und Arm abwärts zu streichen. Er erlebte einen Perspektivwechsel, wie er für Schwerelosigkeit typisch ist: ›Unten‹ schien zur Seite zu rotieren, und er schaute zu ihr empor. Mit einem Mal wurde er sich seines verfilzten Bartes bewusst, seiner überall umherschwebenden wirren Haare. Er schaute zu Ravna empor, und ihm fiel alles ein, was er über sie gedacht hatte. Auf Relais war sie ihm klug erschienen, vielleicht nicht klüger als er, aber so klug wie die meisten Konkurrenten von der Dschöng Ho. Doch da waren andere Erinnerungen – wie der ALTE sie gesehen hatte. Wie üblich waren Seine Erinnerungen überwältigend. Wie üblich waren sie größtenteils unverständlich. Sogar Seine Gefühle waren schwer zu deuten. Aber… Er hatte an Ravna ein wenig wie… an einen Lieblingshund gedacht. Der ALTE durchschaute sie völlig. Ravna Bergsndot neigte ein bisschen dazu, andere zu manipulieren; Er war darüber erfreut/amüsiert (?) gewesen. Doch hinter ihren Worten und Argumenten hatte Er mehr gesehen, einen Gutteil… ›Güte‹ war vielleicht das Menschenwort. Der ALTE war ihr wohlgesonnen gewesen. Zum Schluss hatte Er sogar versucht, ihr zu helfen. Eine Erkenntnis huschte an ihm vorüber, zu schnell, als dass er sie festhalten konnte. Ravna sprach wieder.
»Was dir zugestoßen ist, ist schrecklich genug, Pham, aber du bist nicht der Erste. Ich habe von solchen Fällen gelesen. Selbst die MÄCHTE sind nicht unsterblich. Manchmal kämpfen sie untereinander, und jemand wird getötet. Manchmal begeht eine Selbstmord. Es gibt ein Sternensystem, in der Erzählung wird es Der Götter Verhängnis genannt: Vor einer Million Jahren lag es im Transzens. Und es wurde von einer Gruppe von MÄCHTEN besucht. Dann gab es eine Zonen-Flutwelle. Plötzlich lag das System zwanzig Lichtjahre tief im Jenseits. Das ist die größte Flutwelle, über die es zuverlässige Nachricht gibt. Die MÄCHTE bei Der Götter Verhängnis hatten keine Chance. Sie starben alle, manche endeten in Schutt und Asche, andere auf dem Niveau gewöhnlicher menschlicher Intelligenzen.«
»Was… was ist aus Letzteren geworden?«
Sie zögerte, nahm seine Hände zwischen ihre. »Du kannst in der Bibliothek nachsehen. Wichtig ist, dass es vorkommt. Für die Opfer bedeutet es das Ende der Welt. Aber aus unserer Sicht, der Sicht der Menschen… Nun, der Mensch Pham Nuwen hat Glück gehabt; Grünmuschel sagt, der Ausfall der Verbindungsapparatur zum ALTEN hat keinen umfangreichen organischen Schaden angerichtet. Es mag vielleicht feinere Schäden geben; manchmal zerstören sich die Überbleibsel einfach, egal, was übrig geblieben ist.«
Pham fühlte Tränen aus seinen Augen treten. Und wusste, dass ein Teil des Todseins in ihm die Trauer um Seinen Tod gewesen war. »Feinere Schäden!« Er schüttelte den Kopf, und die Tränen schwebten durch die Luft. »Mein Kopf ist vollgestopft von Ihm, von Seinen Erinnerungen.« Erinnerungen? Sie überragten alles andere. Doch er konnte sie nicht verstehen. Er konnte die Einzelheiten nicht verstehen. Er verstand nicht einmal die Gefühle, es sei denn als unangebrachte Vereinfachungen – Freude, Gelächter, Erstaunen, Furcht und eiskalte, stahlharte Entschlossenheit. Nun war er in diesen Erinnerungen verloren und tappte darin umher wie ein Idiot in einer Kathedrale. Ohne etwas zu verstehen, vor den Heiligenbildern geduckt.
Sie drehte sich um ihre und seine verklammerten Hände. Einen Moment später stieß ihr Knie sanft gegen seins. »Du bist immer noch ein Mensch, hast immer noch deine eigenen…« Ihre Stimme versiegte, als sie den Ausdruck seiner Augen sah.
»Meine eigenen Erinnerungen.« Inmitten des Unverständlichen verstreut, würde er sich weiterschleppen: Er selbst mit fünf Jahren, wie er auf dem Stroh in der Großen Halle saß, jederzeit wachsam, ob nicht ein Erwachsener erschien: Mitglieder der königlichen Familie hatten nicht im Schmutz zu spielen. Zehn Jahre später, als er zum erstenmal mit Cindi schlief. Ein Jahr darauf, als er seinen ersten Flugapparat sah, die Orbitalfähre, die auf dem Paradefeld seines Vaters landete. Die Jahrzehnte im Raum. »Ja, die Dschöng Ho. Pham Nuwen, der große Kauffahrer des Langsam. All die Erinnerungen sind noch da. Und soviel ich weiß, ist das alles die Lüge des ALTEN, ein beiläufiger Schwindel, um die Relaisleute irrezuführen.«
Ravna biss sich auf die Lippe, sagte aber nichts. Sie war zu ehrlich zum Lügen, sogar jetzt.
Er streckte seine freie Hand aus, um das Haar aus ihrem Gesicht zu streichen. »Ich weiß, dass du das auch gesagt hast, Rav. Mach dir nichts draus: Inzwischen wäre mir der Verdacht von selbst gekommen.«
»Ja«, sagte sie leise. Dann schaute sie ihm direkt in die Augen. »Aber eins musst du wissen. Von Mensch zu Mensch: Du bist jetzt wirklich ein Mensch. Und es könnte die Dschöng Ho gegeben haben, und du könntest genau das gewesen sein, woran du dich erinnerst. Und was auch in der Vergangenheit gewesen sein mag, in der Zukunft könntest du großartig sein.«
Geisterhafte Echos, mehr als Erinnerung und weniger als Vernunft: Für einen Moment sah er sie mit weiseren Augen. Sie liebt dich, du Narr. Fast ein Lachen, ein freundliches Lachen.
Er ließ seine Arme um sie gleiten und zog sie eng an sich. Er spürte, wie sie ein Bein zwischen seine schob. Zum Lachen. Wie Herzmassage, ein gedankenloser Reflex, der eine Person wieder ins Leben zurückholte. So töricht, so trivial, aber: »Ich… ich will zurückkehren.« Die Worte kamen als ersticktes Schluchzen heraus. »In mir ist jetzt so viel, so viel, was ich nicht verstehen kann. Ich habe mich im eigenen Kopf verirrt.«
Sie sagte nichts, verstand wahrscheinlich nicht einmal, was er meinte. Einen Augenblick lang empfand er nichts als das Gefühl, sie in den Armen zu halten, und wie sie sich an ihn kuschelte. Oh, bitte, ich möchte wirklich zurückkehren.
Es auf der Brücke eines Sternenschiffs zu tun, war etwas, das Ravna noch nie gemacht hatte. Aber sie hatte ja auch noch nie zuvor ein eigenes Sternenschiff besessen. Sie nennen das nicht zufällig einen Grundschlepper. In der Erregung hatte Pham den Halt verloren. Sie schwebten frei, stießen gelegentlich gegen Wände oder verstreute Kleidungstücke, oder sie trieben zwischen Tränen dahin. Nach vielen Minuten fanden sie sich mit den Köpfen ein paar Zentimeter überm Fußboden, von wo der Rest von ihnen im Winkel zur Decke hin ragte. Ihr wurde vage bewusst, dass ihr Slip wie ein Banner an der Stelle wehte, wo er sich am Knöchel verfangen hatte. Es war nicht ganz so wie in romantischen Geschichten. Zum einen konnte man freischwebend einfach keinen Rückhalt finden. Zum anderen… Pham beugte sich von ihr zurück und lockerte seinen Griff um ihren Rücken. Sie strich sein rotes Haar beiseite und blickte in gerötete Augen. »Weißt du«, sagte er mit zitternder Stimme, »ich hätte nie geglaubt, ich könnte so heftig weinen, dass mir das Gesicht weh tut.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Dann hast du ein verzaubertes Leben geführt.« Sie bog ihren Rücken gegen seine Hände und zog ihn dann sanft an sich. Mehrere Minuten lang schwebten sie schweigend, die Körper in den Wölbungen des anderen entspannt, ohne etwas zu empfinden als einander.
Dann: »Danke, Ravna.«
»… ganz meinerseits.« Ihre Stimme klang schläfrig ernst, und sie kuschelte sich enger an ihn. Seltsam, was er alles für sie gewesen war – manches furchterregend, manches Liebe und manches Zorn weckend. Und manches, was sie sich bis jetzt nicht einmal selbst hätte eingestehen können. Zum ersten Mal seit dem Untergang von Relais empfand sie echte Hoffnung. Vielleicht eine dumme körperliche Reaktion – vielleicht auch nicht. Hier hatte sie einen Mann in den Armen, der es mit jedem Abenteurer aus Romanen aufnehmen konnte, und mehr noch: jemand, der Teil einer MACHT gewesen war.
»Pham… was, meinst du, ist wirklich bei Relais passiert? Warum ist der ALTE umgebracht worden?«
Phams Kichern schien ungezwungen, doch seine Arme verkrampften sich um sie. »Das fragst du mich? Ich bin damals gerade gestorben, entsinn dich… Nein, falsch. Der ALTE, Er ist damals gestorben.« Eine Minute lang schwieg er. Die Brücke drehte sich langsam um sie, lautlose Bilder von den Sternen außerhalb. »Mein Gott-Ich litt Schmerzen, ich weiß das. Er war verzweifelt, in Panik… Aber Er versuchte auch, etwas mit mir zu machen, ehe Er starb.« Seine Stimme wurde leise, Verwunderung klang darin. »Ja. Ich war wie ein billiges Gepäckstück, und Er stopfte jedes bisschen Kram in mich hinein, das er übertragen konnte. Du weißt, zehn Kilo in einen Neun-Kilo-Sack. Er wusste, dass es mir weh tat – immerhin war ich ein Teil von Ihm –, aber das spielte keine Rolle.« Er drehte sich von ihr zurück, und in sein Gesicht trat wieder ein Schimmer von Wildheit. »Ich bin kein Sadist, ich glaube auch nicht, dass Er einer war. Ich…«
Ravna schüttelte den Kopf. »Ich… ich glaube, er hat sich übertragen.«
Einen Moment lang schwieg Pham und versuchte, den Gedanken in seine Lage einzuordnen. »Das ergibt keinen Sinn. In mir ist kein Platz für einen Übermenschen.« Die Furcht jagte die Hoffnung in engen Kreisen herum.
»Nein, nein, warte. Du hast Recht. Selbst wenn sich die sterbende MACHT ausrechnet, dass eine Reinkarnation möglich sei, ist in einem normalen Gehirn nicht genug Platz, um viel unterzubringen. Aber der ALTE hat etwas anderes versucht… Erinnerst du dich, wie ich ihn angebettelt habe, uns bei unserer Reise zum Grund zu helfen?«
»Ja. Ich – Er – hatte Mitgefühl, etwa so wie du mit einem Tier, das sich einem neuen Raubtier gegenübersieht. Er hat nie erwogen, dass die PERVERSION eine Gefahr für ihn sein könnte, nicht bevor…«
»Richtig. Nicht bevor er angegriffen wurde. Das war eine völlige Überraschung für die MÄCHTE; auf einmal war die PERVERSION mehr als nur ein merkwürdiges Problem für die Unterwesen. Dann erst hat der ALTE wirklich versucht zu helfen. Er hat Pläne und Automatismen in dich hineingestopft, so viel, dass du nichts davon verstehst. Ich habe von derlei Dingen in Angewandter Theologie gehört, sowohl Legenden als auch Tatsachen. ›Gottsplitter‹ wird es genannt.«
»Gottsplitter?« Er schien verwundert mit dem Wort zu spielen. »Was für ein seltsamer Name. Ich erinnere mich an Seine Panik. Aber wenn er getan hat, was du meinst, warum hat er es mir nicht einfach gesagt? Und wenn ich voller guter Ratschläge stecke, wieso sehe ich dann in mir nichts außer« – sein Blick ähnelte ein wenig dem der letzten Tage – »Dunkelheit… dunkle Statuen mit scharfen Rändern, dichtgedrängt.«
Wieder langes Schweigen. Doch nun spürte sie fast, wie Pham dachte. Seine Arme verkrampften sich, und ab und zu lief ein Schauer durch seinen Körper. »Ja… ja. Es passt eine Menge. Das meiste davon verstehe ich noch nicht, werde es nie verstehen. Der ALTE hat dort ganz am Ende etwas entdeckt.« Er zog sie wieder fest an sich und barg das Gesicht an ihrem Hals. »Es war eine sehr… persönliche… Art von Mord, den die PERVERSION an ihm beging. Sogar im Sterben lernte der ALTE.« Wieder Schweigen. »Die PERVERSION ist etwas sehr Altes, Ravna. Wahrscheinlich Jahrmilliarden alt. Eine Gefahr, über die der ALTE nur theoretische Spekulationen anstellen konnte, bis sie ihn umbrachte. Aber…«
Eine Minute. Zwei. Doch Pham fuhr nicht fort. »Mach dir keine Sorgen, Pham. Lass es sich entwickeln.«
»Ja…« Er wich weit genug zurück, um ihr geradewegs ins Gesicht schauen zu können. »Aber so viel weiß ich: Der ALTE hatte einen Grund, das zu tun. Wir jagen doch keinem Luftschloss hinterher. Da ist etwas am Grunde, in dem Schiff der Straumer, wovon der ALTE geglaubt hat, es könnte etwas ändern.«
Er fuhr mit der Hand sanft über ihr Gesicht, und sein Lächeln war traurig, wo Freude hätte sein sollen. »Aber siehst du nicht, Ravna? Wenn du Recht hast, bin ich heute vielleicht so menschlich wie nie wieder. Ich bin voll von den Programmen des ALTEN, diesen Gottsplittern. Das meiste davon werde ich niemals bewusst verstehen, aber wenn alles klappt, wird es irgendwann hervorbrechen. Sein ferngesteuerter Apparat, Sein Roboter am Grunde des Jenseits.«
Nein! Doch sie zwang sich zu einem Achselzucken. »Vielleicht. Aber du bist ein Mensch, und wir dienen denselben Sachen…, und ich lasse dich nicht fort.«
Ravna hatte gewusst, dass es in der Bibliothek ein Thema ›Blitzstart-Technologie‹ geben musste. Es erwies sich als Gegenstand einer soliden Wissenschaftsdisziplin. Außer zehntausend Fallstudien gab es Anwendungsprogramme und eine Menge sehr öde aussehender Theorie. Obwohl das ›Problem der Wiederentdeckung‹ im Jenseits trivial war, hatte sich unten in der Langsamen Zone so ziemlich jede denkbare Kombination von Ereignissen zugetragen. Zivilisationen im Langsam konnten nicht länger als ein paar tausend Jahre überdauern. Ihr Zusammenbruch war manchmal eine kurze Dunkelphase, ein paar Jahrhunderte, in denen sie sich von einem Krieg oder einem Atmosphärenkollaps erholten. Andere sanken ins Mittelalter zurück. Und natürlich löschten die meisten Rassen sich selbst früher oder später aus, zumindest innerhalb ihres einzigen Sonnensystems. Diejenigen, die sich nicht ausrotteten (und sogar ein paar von denen, die es taten), kämpften sich mitunter wieder auf ihr früheres Niveau empor.
Die Erforschung dieser Variationen wurde Angewandte Technikgeschichte genannt. Zum Pech sowohl der Wissenschaftler als auch der Zivilisationen in der Langsamen Zone kamen echte Anwendungen etwas selten vor: Die Ereignisse der Fallstudien waren Jahrhunderte alt, ehe die Nachricht von ihnen das Jenseits erreichte, und wenige Forscher waren bereit, vor Ort in der Langsamen Zone zu arbeiten, wo das Auffinden und Durchführen eines einzigen Experiments den größten Teil ihres Lebens kosten würde. Jedenfalls war es ein nettes Hobby für Millionen von Universitätsbereichen. Eins der Lieblingsspiele bestand darin, Minimalrouten von einem gegebenen Technikstand bis zum höchsten Niveau zu entwerfen, welches im Langsam möglich war. Die Einzelheiten hingen von vielen Dingen ab, einschließlich des ursprünglichen Niveaus an Primitivität, der Menge an verbliebenem wissenschaftlichem Bewusstsein (oder an Toleranz) und der physischen Natur der Rasse. Die Theorien der Wissenschaftler waren in Programme gefasst, deren Eingabe Fakten über die Misere der Zivilisation und die erwünschten Ergebnisse waren, die Ausgabe hingegen die Schritte, die diese Ergebnisse am schnellsten herbeiführen würden.
Zwei Tage später waren sie wieder alle vier auf der Brücke der ADR. Und diesmal reden wir alle. »Wir müssen also festlegen, auf welche Erfindungen wir abzielen wollen, etwas für die Verteidigung des Königreichs der Verborgenen Insel…«
»… und etwas, das ›Herr Stahl‹ in weniger als hundert Tagen herstellen kann«, sagte Blaustiel. Er hatte den größten Teil der beiden letzten Tage damit verbracht, an Entwicklungsprogrammen in der Bibliothek herumzufummeln.
»Ich sage immer noch: Kanonen und Radios«, erklärte Pham.
Feuerkraft und Kommunikation. Ravna grinste ihn an. Die menschlichen Erinnerungen Phams würden allein schon ausreichen, um die Kinder auf der Klauenwelt zu retten. Er hatte nicht mehr von den Plänen des ALTEN gesprochen. Die Pläne des ALTEN… In Ravnas Gedanken war das so etwas wie das Schicksal, vielleicht gut, vielleicht schrecklich, doch vorerst unbekannt. Und sogar das Schicksal kann überlistet werden. »Wie steht es damit, Blaustiel?«, sagte sie. »Ist Funkverbindung etwas, was sie sofort, aus dem Stand herstellen können?« Auf der Nyjora war das Radio fast gleichzeitig mit Orbitalflügen gekommen – ein reichliches Jahrhundert nach Beginn der Renaissance.
»In der Tat, meine Dame Ravna. Es gibt einfache Tricks, die fast niemals bemerkt werden, ehe nicht ein sehr hoher Stand der Technik erreicht ist. Zum Beispiel können Quantentorsions-Antennen aus Anordnungen von Silber und Kobaltstahl gebaut werden, wenn die Geometrie stimmt. Die richtige Geometrie zu finden, erfordert leider eine Menge Theorie und die Fähigkeit, umfangreiche partielle Differentialgleichungen zu lösen. Es gibt in der Langsamen Zone viele, die das Prinzip niemals entdecken.«
»In Ordnung«, sagte Pham. »Aber da ist noch ein Übersetzungsproblem. Jefri hat das Wort ›Kobalt‹ wahrscheinlich schon einmal gehört, aber wie soll man es Leuten erklären, die dafür keinen Begriff haben? Ohne wesentlich mehr über ihre Welt zu wissen, könnten wir nicht einmal beschreiben, wie sie kobalthaltiges Erz finden sollen.«
»Das wird die Sache verzögern«, gab Blaustiel zu. »Aber das Programm rechnet damit. Herr Stahl scheint das Konzept von Experimenten zu verstehen. Was Kobalt betrifft, können wir ihn mit einem Netzwerk von Experimenten versorgen, das auf Beschreibungen von wahrscheinlich geeigneten Erzen und den passenden chemischen Versuchen beruht.«
»Ganz so einfach ist es nicht«, sagte Grünmuschel. »Manche von den Versuchen schließen ihrerseits sich verzweigende Reihen von Suche und Experiment ein. Und es gibt andere Tests, die benötigt werden, um Giftwirkungen festzustellen. Wir wissen viel weniger über die Rudelwesen, als bei dem Programm üblich.«
Pham lächelte. »Ich hoffe, diese Geschöpfe werden es zu danken wissen; ich habe nie etwas von ›Quantentorsions-Antennen‹ gehört. Am Ende werden die Klauenwesen über Kommunikationsausrüstungen verfügen, die die Dschöng Ho niemals hatte.«
Aber das Geschenk konnte gemacht werden. Die Frage war, konnte es rechtzeitig getan werden, um Jefri und das Schiff vor den Holzschnitzern zu retten? Die vier ließen das Programm wieder und wieder durchlaufen. Sie wussten so wenig über die Rudelwesen selbst. Das Königreich der Verborgenen Insel schien halbwegs flexibel zu sein. Falls sie bereit waren, den Anweisungen aufs Wort zu folgen, und falls sie das Glück hatten, in der Nähe Lagerstätten der entscheidenden Materialien zu finden, dann sah es so aus, als könnten sie binnen einhundert Tagen begrenzte Mengen an Feuerwaffen und Radios haben. Andererseits, wenn die Rudel auf der Verborgenen Insel in die ungünstigsten Verzweigungen des Suchbaumes gerieten, dauerte die Sache womöglich ein paar Jahre.
Ravna vermochte sich nur schwer damit abzufinden, dass sie vier tun konnten, was sie wollten, die Rettung Jefris vor den Holzschnitzern würde zum Teil Glückssache sein. Nun ja. Schließlich nahm sie den besten Plan, den sie zustande brachten, übersetzte ihn in Samnorsk und sendete ihn hinab.