SECHZEHN

 

Die nächsten paar Wochen verliefen überraschend gut. Ungeachtet des Misserfolgs mit Pham Nuwen waren Blaustiel und Grünmuschel immer noch bereit, die Rettungsaktion durchzuführen. Die Vrinimi-Org ließ sogar ein paar zusätzliche Ressourcen springen. Jeden Tag unternahm Ravna einen Teleausflug zu den Reparaturdocks. Auch wenn die Aus der Reihe II keine transzendenten Verstärkungen erhielt, würde es nach der Umrüstung ein außergewöhnliches Schiff sein. Sie schwebte jetzt in einer Aura von ’struktoren – Billionen winziger Roboter, die Abschnitte des Schiffsrumpfes in die charakteristische Form eines Grundschleppers wachsen ließen. Manchmal erschien das Schiff Ravna wie ein fragiler Falter… und manchmal wie ein Tiefseefisch. Das umgebaute Schiff konnte in einer Reihe von Umgebungen überleben: Es besaß die Dorne des Ultraantriebs, doch der Rumpf war stromlinienförmig und hatte eine Wespentaille – die klassische Form eines staustrahlgetriebenen Schiffes. Grundschlepper müssen gefährlich nahe an der Langsamen Zone fliegen. Die Zonenoberfläche war von weitem schwer auszumachen, noch schwerer zu kartographieren, und es gab kurzfristige Positionsänderungen. Für einen Grundschlepper war es nicht ausgeschlossen, ein, zwei Lichtjahre tief im Langsam gefangen zu werden. Das war dann die Gelegenheit, wo man Gott für den Staustrahlantrieb und die Kälteschlafvorrichtungen dankte. Natürlich konnte man bei der Rückkehr in die Zivilisation völlig den Anschluss verpasst haben, aber wenigstens konnte man zurückkehren.

Ravna ließ ihren Blickpunkt durch die Antriebsdorne schweben, die aus dem Rumpf hervorragten. Sie waren breiter als bei den meisten Schiffen, die nach Relais kamen. Für das Mittlere oder Hohe Jenseits waren sie nicht optimal, doch mit den richtigen (also dem Unteren Jenseits angepassten) Computern würde das Schiff so schnell wie nur irgendetwas fliegen, wenn es den Grund erreichte.

Grondr ließ sie die Hälfte ihrer Zeit auf das Projekt verwenden, und nach ein paar Tagen erkannte Ravna, dass er ihr damit nicht nur einen Gefallen tat. Sie war für diese Arbeit tatsächlich am besten geeignet. Sie kannte Menschen, und sie kannte die Archivverwaltung. Jefri Olsndot brauchte jeden Tag Zuspruch. Und was Jefri ihr erzählte, war von unmittelbarer Wichtigkeit. Selbst wenn alles nach Plan ging – selbst wenn die PERVERSION gänzlich aus dem Spiel blieb –, würde diese Rettungsaktion heikel sein. Das Kind und sein Schiff schienen sich mitten in einem blutigen Krieg zu befinden. Es dort herauszuholen, würde bedeuten, augenblicklich richtige Entscheidungen zu treffen und entsprechend zu handeln. Sie würden an Bord ein wirksames Datenbank- und Strategieprogramm brauchen. Aber es gab nicht viel, wovon man erwarten konnte, dass es am Grunde funktionierte, und die Speicherkapazität würde beschränkt sein. Es war an Ravna zu entscheiden, welches Bibliotheksmaterial ins Schiff gebracht werden sollte, die leichte Verfügbarkeit vor Ort gegen die größeren Ressourcen abzuwägen, die über die Ultrawelle von Relais zugänglich wären.

Grondr war übers lokale Netz zu erreichen, und oft in Realzeit. Er wollte, dass diese Sache klappte: »Machen Sie sich keine Sorgen, Ravna. Wir werden einen Teil von R00 für diese Mission einsetzen. Wenn ihr Antennenschwarm richtig funktioniert, müssten die Skrodfahrer eine Verbindung von 30 Kb/s nach Relais haben. Sie werden ihr wichtigster Ansprechpartner hier sein und Zugang zu unseren besten Strategen haben. Wenn nichts… dazwischen kommt, dürfte es Ihnen nicht schwer fallen, diese Rettungsaktion zu leiten.«

Noch vor vier Wochen hätte es Ravna nicht wagen können, mehr zu verlangen. Jetzt aber: »Herr Direktor, ich habe eine bessere Idee. Lassen Sie mich mit den Skrodfahrern fliegen.«

Alle Mundteile Grondrs klappten gleichzeitig aufeinander. Sie hatte so viel Überraschung bei Leuten wie Egravan gesehen, aber nie bei dem gesetzten Grondr. Einen Moment lang schwieg er. »Nein. Wir brauchen Sie hier. Sie sind unsere beste Vernunftprobe, wenn es um Fragen über die Menschheit geht.« Die Nachrichtengruppen, die sich für die Straumli-PERVERSION interessierten, enthielten über hunderttausend Botschaften pro Tag, davon etwa ein Zehntel mit Bezug zur Menschheit. Tausende von Botschaften waren aufgewärmte alte Ideen oder perfekte Absurditäten oder allem Anschein nach Lügen. Die Automatik von Marketing brachte es ziemlich gut fertig, die Redundanz und einen Teil der Absurditäten herauszufiltern, doch wenn es zu Fragen über die menschliche Natur kam, hatte Ravna nicht ihresgleichen. Etwa die Hälfte ihrer Zeit verbrachte sie damit, Wege für die Analyse zu weisen und Anfragen über die Menschheit bei den Archiven zu bearbeiten. Das alles wäre nahezu unmöglich, wenn sie mit den Skrodfahrern abflog.

Die nächsten paar Tage über bedrängte Ravna ihren Chef in dieser Frage. Wer immer den Rettungsflug unternahm, würde eine unmittelbare Beziehung zu Menschen haben müssen – das hieß zu Menschenkindern. Höchstwahrscheinlich war Jefri Olsndot niemals einem Skrodfahrer begegnet. Das war ein gutes Argument, und es trieb sie allmählich zur Verzweiflung – doch an sich hätte es den alten Grondr niemals umgestimmt. Dazu bedurfte es einiger äußerer Ereignisse: Im Laufe der Wochen verlangsamte sich die Ausdehnung der PEST. Ganz nach der allgemeinen Erfahrung (und wie der ALTE durch Pham Nuwen behauptet hatte) schien es natürliche Grenzen zu geben, über die die PERVERSION ihre Interessen nicht ausdehnen konnte. Die erbärmliche Panik verschwand allmählich aus dem Nachrichtenverkehr des Hohen Jenseits. Die Zahl der Gerüchte und der Flüchtlinge aus den absorbierten Raumgebieten ging langsam gegen Null. Die Leute in den Verpesteten Gebieten waren dahingegangen, doch nun glich es mehr dem Tod auf einem Friedhof als dem Tod von ansteckender Fäulnis. Mit der PEST befasste Nachrichtengruppen plapperten weiterhin über die Katastrophe, doch der Anteil an unproduktivem Durchkauen von Bekanntem stieg stetig. Es ging einfach wenig Neues vor sich. Die nächsten zehn Jahre lang würde sich körperlicher Tod durch die Verpestete Region ausbreiten. Die Kolonisation würde wieder beginnen, sich dabei vorsichtig durch die Ruinen und Informationsfallen und die Rest-Rassen vortasten. Doch all das lag in weiter Ferne, und augenblicklich ging der von der PEST verursachte ›warme Regen‹ für Relais zurück.

… Und die Marketing-Abteilung war sogar noch stärker an dem Flüchtlingsschiff interessiert. Keins von den Strategieprogrammen – erst recht nicht Grondr – glaubte, dass das Geheimnis des Schiffes der PEST schaden könnte, doch es bestanden gute Chancen, dass es einen kommerziellen Vorteil bringen könnte, wenn die PERVERSION ihres transzendenten Spiels endlich müde wurde.

Und die Rudelintelligenzen der Klauenwesen hatten ihr Interesse geweckt. Es war angebracht, dass man äußerste Anstrengungen unternahm, dass Ravna ihre Arbeit bei den Docks aufgab und vor Ort ging.

So würden auf wunderbare Weise ihre Kindheitsphantasien von Rettungen und Abenteuerfahrten wirklich wahr werden. Und was noch überraschender ist, ich habe nur halbwegs Angst angesichts dieser Aussicht.

 

Ziel[56]: Tut mir Leid das ich ne Weile nicht geantwortet habe. Ich fühl mich gar nicht gut. Herr Stahl sagt ich soll mit euch reden. Er sagt ich brauche mehr Freunde, damit ich mich besser fühle. Amdi sagt das auch und er is mein bester Freund… wie Rudel von Hunden aber klug und lustig. Ich würde gern Bilder schicken. Herr Stahl wird versuchen Antworten auf alle eure Fragen zu bekommen. Er tut alles was er kann um zu helfen, aber die bösen Rudel werden wiederkommen. Amdi und ich haben das was ihr gesagt habt mit dem Schiff versucht. Es tut mir Leid, es funktioniert noch nicht… Ich hasse diese dummen Tasten…

Org[57]: Hallo, Jefri. Amdi und Herr Stahl haben Recht. Ich rede immer gern, und du wirst dich dabei besser fühlen… Hier sind Erfindungen, die Herrn Stahl vielleicht helfen. Wir haben an ein paar Verbesserungen für seine Armbrüste und Flammenwerfer gedacht. Ich schicke auch ein paar Informationen über Festungsbau. Bitte sag Herrn Stahl, dass wir ihm nicht mitteilen können, wie man mit dem Schiff fliegt. Es wäre sogar für einen erfahrenen Piloten gefährlich, es zu versuchen…

Ziel[57]: Ja, sogar Vati hatte es schwer, damit zu landen. ikocxljikersw89iou-43e5 Ich glaube Herr Stahl versteht nicht, und er wird irnwie verzweifelt… Gibts denn nichts andres wie sie früher hatten. Weißt du, Bomben und Flugzeuge die sie bauen könnten?…

Org[58]: Es gibt andere Erfindungen, aber Herr Stahl würde Zeit brauchen, um sie herzustellen. Unser Sternenschiff fliegt bald von Relais ab, Jefri. Wir werden viel früher da sein, als andere Erfindungen etwas nützen würden…

Ziel[58]: Ihr kommt? Ihr kommt endlich!!! Wann fliegt ihr ab? Wann werdet ihr hier sein???

 

Für gewöhnlich stellte Ravna ihre Botschaften für Jefri auf einer Tastatur zusammen – das verlieh ihr ein gewisses Gefühl für die Situation des Kindes. Er schien den Kopf hoch zu halten, obwohl es Tage gab, an denen er nicht schrieb (es war ein seltsamer Gedanke, dass ›geistige Depression‹ etwas mit einem Achtjährigen zu tun haben konnte). An anderen Tagen schien er an der Tastatur einen Wutanfall zu haben, und über einundzwanzigtausend Lichtjahre hinweg sah sie die Indizien von kleinen Fäusten, die auf Tasten schlugen.

Ravna grinste den Bildschirm an. Heute hatte sie endlich mehr als nur nebelhafte Versprechungen für ihn: Sie kannte den definitiven Abflugtermin. Die Botschaft [59] würde Jefri gefallen. Sie tippte: »Wir werden in sieben Tagen starten, Jefri. Die Reise wird etwa dreißig Tage dauern.« Sollte sie sich dazu genauer äußern? Die jüngsten Meldungen in den Nachrichtengruppen für Zonengrenzen besagten, dass der Grund ungewöhnlich aktiv war. Die Klauenwelt lag so nahe an der Langsamen Zone… Wenn der ›Sturm‹ schlimmer wurde, würde die Reisezeit darunter leiden. Es bestand eine Wahrscheinlichkeit von etwa einem Prozent, dass der Flug länger als sechzig Tage dauern würde. Sie lehnte sich von der Tastatur zurück. Wollte sie das wirklich sagen? Verdammt. Sie sollte lieber offen sein; diese Angaben konnten für die Einheimischen Bedeutung haben, die Jefri halfen. Sie erklärte die Wenn und Aber, fuhr dann fort mit einer Beschreibung des Schiffs und der wunderbaren Dinge, die sie mitbringen würden. Der Junge schrieb für gewöhnlich nicht lange (außer wenn er Informationen von Stahl weitergab), doch er schien lange Briefe von ihr wirklich zu mögen.

Die Aus der Reihe II durchlief die letzten Funktionsproben. Der Ultraantrieb war rekonstruiert und getestet worden; die Skrodfahrer hatten das Schiff ein paar tausend Lichtjahre hinausgeflogen, um den Antennenschwarm zu überprüfen. Der Schwarm funktionierte auch großartig. Sie und Jefri würden den größten Teil der Reise hindurch miteinander sprechen können. Am Vortag war das Schiff mit Verbrauchsgütern verproviantiert worden. (Das klang wie aus einem mittelalterlichen Abenteuer. Aber man musste allerlei Vorräte mitnehmen, wenn man so tief hinab wollte, dass den Realitätskurven nicht zu trauen war.) Bald würden Grondrs Leute das Schiff mit Gerätschaften beladen, die bei einer Rettungsaktion wirklich zupass kommen konnten. Sollte sie die erwähnen? Manche davon hätten für Jefris Freunde vor Ort ein bisschen kränkend klingen können.

 

Am Abend hatten sie und die Skrodfahrer eine Strandparty. So nannten sie es, obwohl es viel mehr der menschlichen Version als der echten der Fahrer glich. Blaustiel und Grünmuschel waren nämlich vom Wasser weggerollt, dahin, wo der Sand warm und trocken lag. Ravna hatte auf Blaustiels Frachttuch Erfrischungen ausgebreitet. Sie saßen auf dem Sand und bewunderten den Sonnenuntergang.

Es war in erster Linie eine Feier – dass Ravna die Erlaubnis erhalten hatte, mit der ADR zu fliegen, dass das Schiff fast startbereit war. Doch Blaustiel fragte: »Sind Sie wirklich froh, dass Sie auf die Reise gehen, meine Dame? Wir beide werden sehr gutes Geld verdienen, aber Sie…«

Ravna lachte. »Ich werde einen Reisezuschlag bekommen.« Sie hatte immer wieder Argumente für ihre Mitreise vorgebracht; da war nicht viel Spielraum geblieben, als dass sie um die Bezahlung hätte feilschen können. »Und ja doch. Darum ging es mir eigentlich.«

»Ich bin so froh«, sagte Grünmuschel.

»Ich lache«, sagte Blaustiel. »Meine Partnerin ist besonders erfreut, dass unser Passagier nicht mürrisch sein wird. Wir haben unsere Zuneigung zu Zweibeinern fast verloren, nachdem wir mit diesen Frachtbeglaubigern unterwegs waren. Aber jetzt brauchen wir vor nichts Angst zu haben. Haben Sie in den letzten fünfzehn Stunden die Bedrohungen-Gruppe gelesen? Die PEST hat aufgehört zu wachsen, und ihre Ränder sind jetzt scharf umrissen. Die PERVERSION tritt in ihr mittleres Lebensalter ein. Von mir aus könnten wir sofort abfliegen.«

Blaustiel war voller Spekulationen über die ›Rudel‹ der Klauenwesen, auch voller Pläne, wie man Jefri und alle anderen Überlebenden dort herausholen sollte. Grünmuschel warf hie und da einen Gedanken ein. Sie war nicht mehr so scheu wie zuvor, wirkte aber immer noch weicher, zurückhaltender als ihr Partner. Und ihre Zuversicht war ein bisschen realistischer. Sie war froh, dass es bis zum Abflug noch eine Woche dauern würde. Die letzten Funktionstests mussten auf der ADR noch durchgeführt werden – und Grondr hatte die Org dahin gebracht, eine kleine Flotte von Schiffen zu finanzieren, die als Köder dienen sollten. Fünfzig waren bisher fertig. Ende der Woche würden hundert bereit sein.

Die Docks trieben in die Nacht hinein. Bei der niedrigen Atmosphäre war die Dämmerung kurz, doch die Farben waren sehenswert. Der Strand und die Bäume glänzten in den waagerechten Lichtstrahlen. Der Duft von Dämmerblumen vermischt mit dem scharfen Geruch von Seesalz. Am anderen Ufer des Meeres war alles scharf hell und dunkel, Silhouetten, die Launen der Vrinimi oder Dockausrüstungen sein mochten – Ravna hatte nie erfahren, welches von beiden. Die Sonne glitt hinters Meer. Orange und Rot breiteten sich über den Achterhorizont aus, überlagert von einem breiteren Band Grün, vermutlich ionisiertem Sauerstoff.

Die Fahrer wendeten ihre Skrods nicht, um besser sehen zu können – soviel sie wusste, hatten sie die ganze Zeit über in diese Richtung geblickt –, doch sie hörten auf zu sprechen. Während die Sonne unterging, ließen die Brecher sie in Tausende von Bildern zersplittern, Funken von Grün und Gelb inmitten der Gischt. Sie vermutete, die beiden wäre jetzt lieber draußen gewesen. Sie hatte sie oft genug gegen Sonnenuntergang gesehen, wie sie ausgerechnet da saßen, wo die Brandung am heftigsten war. Wenn das Wasser zurückwich, waren ihre Stiele und Wedel wie die Arme von Bittstellern emporgereckt. Zu Zeiten wie solchen konnte sie beinahe die Minderen Skrodfahrer verstehen; sie verbrachten ihr ganzes Leben mit der Erinnerung an solche wiederholten Augenblicke. Sie lächelte im grünlichen Zwielicht. Danach würde immer noch Zeit genug für Sorgen und Pläne sein.

Sie mussten zwanzig Minuten lang so dagesessen haben. Entlang der geschwungenen Linie des Strandes sah sie winzige Feuer im sich verdichtenden Dunkel: Büroparties. Irgendwo sehr nahe erklang das Knirschen von Füßen auf Sand. Sie wandte sich um und sah, dass es Pham Nuwen war. »Hierher«, rief sie.

Pham schlenderte auf sie zu. Seit ihrer letzten Auseinandersetzung hatte er sich sehr rar gemacht; Ravna vermutete, dass manche von ihren Sticheleien ihm sehr nahe gegangen waren. Für diesmal hoffe ich, dass der ALTE es ihn hat vergessen lassen. Pham Nuwen hatte das Zeug, eine wirkliche Persönlichkeit zu sein; es war nicht richtig gewesen, ihn zu kränken, weil sich sein Gebieter außerhalb ihrer Reichweite befand.

»Nimm Platz. Die Galaxis geht in einer halben Stunde auf.« Die Skrodfahrer raschelten; sie waren so in den Sonnenuntergang versunken gewesen, dass sie den Besucher erst jetzt bemerkten.

Pham Nuwen ging ein, zwei Schritte an Ravna vorbei, blieb stehen, die Arme in die Hüften gestemmt, und starrte aufs Meer. Er erwiderte ihren Blick, und das grüne Zwielicht verlieh seinem Gesicht einen unheimlich wilden Ausdruck. Er ließ sein altes, schiefes Lächeln aufblitzen: »Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen.«

Hat der ALTE dir endlich erlaubt, dich der Menschheit zuzugesellen? Doch Ravna war gerührt. Sie schlug die Augen vor ihm nieder. »Ich mich bei dir vermutlich auch. Wenn der ALTE nicht helfen will, dann will er es nicht; ich hätte die Beherrschung nicht verlieren sollen.«

Pham Nuwen lachte leise. »Dein Fehler war sicherlich der geringere. Ich versuche immer noch, herauszubekommen, was ich falsch gemacht habe, und… ich glaube, ich habe jetzt keine Zeit, es herauszufinden.«

Er blickte wieder aufs Meer hinaus. Nach einer Weile stand Ravna auf und trat zu ihm. Aus der Nähe sah sein starrer Blick glasig aus. »Was stimmt nicht?« Verdammt, ALTER. Wenn du ihn aufgeben willst, dann tu es nicht stückchenweise!

»Du bist die große Expertin für transzendente MÄCHTE, hm?«

Wieder Sarkasmus. »Also…«

»Gibt es bei den großen Jungs Kriege?«

Ravna zuckte die Achseln. »Man kann Gerüchte über alles Mögliche finden. Wir glauben, dass Konflikte vorkommen, aber zu subtil, als dass man es Krieg nennen könnte.«

»Du hast verdammt Recht. Es gibt Kämpfe, aber die haben mehr Haken als alles hier unten. Die Vorteile der Zusammenarbeit sind normalerweise so groß, dass… Das ist zum Teil der Grund, weshalb ich die PERVERSION nicht ernst genommen habe. Außerdem kann einem das Geschöpf Leid tun: ein räudiger Köter, der den eigenen Bau beschmutzt. Selbst wenn sie die anderen MÄCHTE töten wollte, so jemand könnte das niemals. Nicht in einer Milliarde Jahre…«

Blaustiel rollte neben sie heran. »Wer ist das, meine Dame?«

Es war die für die Fahrer typische Sorte Gesprächsunterbrechung, an die sie sich erst allmählich gewöhnte. Wenn Blaustiel nur mit seinem Skrodgedächtnis synchron werden würde, wüsste er es. Dann kam ihr die Frage richtig zu Bewusstsein. Wer ist das? Sie warf einen Blick auf ihr Datio. Es zeigte den Status der Transceiver, schon die ganze Zeit über, seit Pham Nuwen eingetroffen war. Und… bei den MÄCHTEN, drei Transceiver waren von einem einzigen Kunden in Beschlag genommen worden!

Sie wich rasch einen Schritt zurück. »Sie!«

»Ich! Wieder Auge in Auge, Ravna.« Das Grinsen war eine Parodie von Phams selbstsicherem Lächeln. »Tut mir Leid, dass ich heute Abend nicht charmant sein kann.« Er schlug sich täppisch gegen die Brust. »Ich benutze die unterschwelligen Instinkte dieses Dings… Ich bin zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben.«

Speichel rann sein Kinn hinab. Phams Augen fixierten sie immer wieder und glitten dann beiseite.

»Was machen Sie mit Pham!«

Der Abgesandte Apparat trat auf sie zu, strauchelte. »Ich mache Platz«, erklang Pham Nuwens Stimme.

Ravna sagte Grondrs Sprechfunkcode. Es kam keine Antwort.

Der Abgesandte Apparat schüttelte den Kopf. »Die Vrinimi-Org hat gerade viel zu tun – sie versucht mich von ihrer Ausrüstung loszuwerden, versucht, ihren Mut zusammenzunehmen und mich mit Gewalt wegzudrängen. Sie glauben nicht, was ich ihnen sage.« Er lachte, ein schneller erstickter Laut. »Egal. Ich sehe jetzt, der Angriff hier war einfach nur tödliche Diversion… Wie findest du das, Klein Ravna? Weißt du, die PEST ist keine PERVERSION DER KLASSE ZWEI. In der Zeit, die mir bleibt, kann ich nur raten, was es ist… Etwas sehr Altes, sehr Großes. Was immer es ist, es frisst mich bei lebendigem Leibe.«

Blaustiel und Grünmuschel waren nahe an Ravna herangerollt. Ihre Wedel machten schwache knisternde Geräusche. Etliche tausend Lichtjahre entfernt, weit im Transzens, kämpfte eine MACHT um ihr Leben. Und alles, was sie sahen, war ein Mann, aus dem ein sabbernder Schwachkopf geworden war.

»Hier also meine Entschuldigung, Klein Ravna. Wenn ich euch geholfen hätte, hätte mich das wahrscheinlich gerettet.« Seine Stimme versagte, und er schnappte nach Luft. »Aber euch jetzt zu helfen, dient der… Vergeltung ist ein Motiv, dass du verstehen würdest. Ich habe euer Schiff herabgerufen. Wenn ihr schnell fliegt und nicht den Agrav benutzt, überlebt ihr vielleicht die nächste Stunde.«

Blaustiels Stimme war zugleich schüchtern und stürmisch. »Überleben? Nur ein konventioneller Angriff könnte hier unten funktionieren, und nichts deutet darauf hin.«

Ein Irrer inmitten der sanften, stillen Nacht. Ravnas Datio zeigte nichts Seltsames außer der großen Bandbreite, die der ALTE belegte.

Pham Nuwen stieß ein keuchendes Lachen aus. »Oh, er ist schon konventionell, aber sehr schlau. Ein paar Gramm sich vermehrender Unordnung, über Wochen hinweg eingeschleust. Jetzt blüht sie, zeitlich abgestimmt mit dem Angriff, den ihr seht… Die Wucherung wird binnen Stunden absterben, nachdem sie die gesamte schöne Hohe Automatik von Relais zerstört hat… Ravna! Nehmt das Schiff, oder sterbt innerhalb der nächsten tausend Sekunden. Nehmt das Schiff. Wenn ihr überlebt, fliegt zum Grund. Holt das…« Der Abgesandte Apparat verschluckte den Rest des Satzes. Er straffte sich und lächelte ein letztes Mal sein grünliches Lächeln. »Und hier ist mein Geschenk für euch, die beste Hilfe, die ich noch zu geben vermag.«

Das Lächeln verschwand. Der glasige Blick wich Verwunderung… und dann wachsendem Entsetzen. Pham Nuwen tat einen gewaltigen Atemzug und hatte Zeit für einen einzigen bellenden Schrei, ehe er zusammenbrach. Er fiel vornüber und lag sich windend und keuchend im Sand.

Ravna rief abermals Grondrs Code und lief zu Pham Nuwen. Sie wälzte ihn auf den Rücken und versuchte seinen Mund frei zu bekommen. Der Anfall dauerte einige Sekunden, Phams Glieder zuckten unkontrolliert hin und her. Ravna steckte harte Treffer ein, während sie versuchte, ihn zur Ruhe zu bringen. Dann erschlaffte Pham, und sie konnte kaum seinen Atem spüren.

Blaustiel sagte: »Irgendwie hat er sich der ADR bemächtigt. Sie ist viertausend Kilometer entfernt und kommt geradewegs auf die Docks zu. Wehe! Wir sind ruiniert.« Ungenehmigte Flüge in der Nähe der Docks waren ein Grund zu Beschlagnahme.

Aus irgendeinem Grunde glaubte Ravna nicht, dass das noch von Bedeutung wäre. »Gibt es Anzeichen für einen Angriff?«, fragte sie über die Schulter hinweg. Sie lehnte Phams Kopf nach hinten, um sicher zu sein, dass er Luft bekam.

Ungeordnetes Geraschel zwischen den Skrodfahrern. Grünmuschel: »Etwas ist seltsam. Die Transceiver sind für die Benutzung gesperrt.« Also sendet der ALTE noch? »Das lokale Netz ist sehr verstopft. Viel Automatik, viele Angestellte, die zu Sondereinsätzen gerufen werden.«

Ravna blickte sich um. Der Himmel war nachtdunkel, mit ein paar Dutzend hellen Lichtern punktiert – Schiffen auf dem Weg zu den Docks. Alles sehr normal. Aber auch ihr eigenes Datio zeigte an, was Grünmuschel berichtete.

»Ravna, ich kann jetzt nicht reden.« Grondrs klackende Stimme erklang aus der Luft neben ihr. Das müsste sein Assistenzprogramm sein. »Der ALTE hat das meiste von Relais übernommen. Achten Sie auf den Abgesandten Apparat.« Ein bisschen spät das! »Wir haben den Kontakt zum Kontrollzaun jenseits der Transceiver verloren. Es gibt mehrere Programm- und Hardwareausfälle. Der ALTE behauptet, wir würden angegriffen.« Fünf Sekunden Pause. »Wir beobachten Hinweise auf Flottenaktionen an der inneren Verteidigungsgrenze.« Das war gerade mal ein halbes Lichtjahr weit draußen.

»Brap!« Das kam von Blaustiel. »An der inneren Verteidigungsgrenze! Wie konnten Sie ihre Annäherung übersehen?« Er rollte nervös vor und zurück, eins der Räder fest am Ort.

Grondrs Assistent ignorierte die Frage. »Mindestens dreitausend Schiffe. Zerstörung der Transceiver unmittel…«

»Ravna, sind die Skrodfahrer bei Ihnen?« Es war immer noch Grondrs Stimme, aber abgehackter, betroffener. Das war er selber.

»J-ja.«

»Das lokale Netz ist am Zusammenbrechen, die Lebenserhaltungssysteme auch. Die Docks werden fallen. Wir wären stärker als die angreifende Flotte, aber wir faulen von innen heraus… Relais stirbt.« Seine Stimme wurde schärfer und klapperte. »Aber Vrinimi wird nicht sterben, und ein Vertrag ist ein Vertrag! Sagen Sie den Fahrern, wir werden sie bezahlen… irgendwie, irgendwann. Wir verlangen… bitten inständig…, dass sie den vereinbarten Flug unternehmen. Ravna?«

»Ja. Sie hören.«

»Dann fliegt!« Und die Stimme war weg.

Blaustiel sagte: »Die ADR wird in zweihundert Sekunden hier sein.«

Pham Nuwen war ruhiger geworden, sein Atem ging leichter. Während die beiden Fahrer hin und her zwitscherten, schaute sich Ravna um – und plötzlich kam ihr zu Bewusstsein, dass all der Tod und die Zerstörungen aus weiter Entfernung gemeldet worden waren. Der Strand und der Himmel waren fast so friedvoll wie immer. Die letzten Strahlen der Sonne waren von den Wellen verschwunden. Die Gischt war ein trübes Band im niedrigen grünen Licht. Hier und da glühten gelbe Lichter in den Bäumen und weiter weg in den Türmen.

Doch der Alarm hatte sich offensichtlich ausgebreitet. Sie hörte, wie Datios in Gang kamen. Manche von den Strandfeuern verloschen, und die Gestalten rings um sie rannten zwischen die Bäume oder schwebten empor, hin zu weiter entfernten Büros. Jetzt stiegen Sternenschiffe von ihren Liegeplätzen jenseits des Meeres auf, fielen höher und höher, bis sie im versunkenen Sonnenlicht erglänzten.

Es war Relais’ letzter Augenblick des Friedens.

Ein Fleck glühender Finsternis breitete sich über den Himmel aus. Sie starrte offenen Mundes das Licht an, das derart verdreht war, dass man es nicht hätte sehen dürfen. Es schien eher in ihrem Hinterkopf als in ihren Augen. Später konnte sie sich nicht besinnen, wodurch es sich objektiv von Schwärze unterschieden hatte.

»Da ist noch einer!«, sagte Blaustiel. Diesmal nahe am Horizont der Docks, ein Klümpchen Dunkelheit von vielleicht einem Grad Durchmesser. Die Ränder verschwammen schwarz in Schwarz.

»Was ist das?« Ravna war kein Kriegsfan, aber sie hatte ihr Teil an Abenteuergeschichten gelesen. Sie wusste von Antimateriebomben und relativistischen kinetischen Energieschlägen. Von weitem waren solche Waffen helle Lichtflecken, manchmal ein vielfaches Flackern. Oder näher: ein Weltenknacker würde über dem Rund eines Planeten gleißen und den Globus selbst wie einen Tropfen Wasser versprühen, aber langsam, langsam. Das waren die Bilder, die ihre Lektüre ihr vermittelt hatten. Was sie jetzt sah, glich eher einem Sehfehler als einem Bild vom Krieg.

Die MÄCHTE mochten wissen, was die Skrodfahrer sahen, doch Blaustiel sagte: »Ihre Haupttransceiver… zerdampft, glaube ich.«

»Die sind Lichtjahre weit draußen! Wir können unmöglich sehen…« Ein weiterer Fleck erschien, nicht einmal in ihrem Gesichtsfeld. Die Farbe schwebte ohne bestimmten Ort. Pham Nuwen krampfte sich wieder zusammen, aber nur schwach. Es machte ihr keine Mühe, ihn ruhig zu halten, doch… Blut tropfte aus seinem Mund. Der Rücken seines Hemdes war feucht von etwas, das nach Fäulnis stank.

»Die ADR wird in hundert Sekunden hier sein. Eine Menge Zeit, wir haben eine Menge Zeit.« Blaustiel rollte um sie hin und her und sprach ihnen Mut zu, was nur bewies, wie nervös er war. »Ja, meine Dame, Lichtjahre weit draußen. Und es wird Jahre dauern, bis der Blitz von ihrer Vernichtung den Himmel erleuchten wird – wer immer dann hier noch leben mag, um es zu sehen. Aber nur ein Bruchteil der Zerdampfung erzeugt Licht. Der Rest ist eine Ultrawellen-Flut, so gewaltig, dass gewöhnliche Materie beeinflusst wird… Sehnerven, vom Überlauf gekitzelt… So sehr, dass Ihr eigenes Nervensystem zum Empfänger wird.« Er wirbelte herum. »Aber sorgen Sie sich nicht. Wir sind hart und schnell. Wir haben uns schon früher durch manche Klemme hindurchgezwängt.« Es hatte etwas Absurdes – ein Wesen ohne Kurzzeitgedächtnis, das mit seiner blitzschnellen Schläue prahlte. Sie hoffte nur, dass sein Skrod dem gerecht wurde.

Grünmuschels Stimme surrte schmerzhaft laut. »Da!«

Die Brandungslinie zog sich zurück, weiter, als sie es je gesehen hatte.

»Die See fällt!«, rief Grünmuschel. Der Rand des Wassers war hundert, zweihundert Meter zurückgewichen. Der grün gesäumte Horizont senkte sich.

»Das Schiff ist noch fünfzig Sekunden entfernt. Wir werden ihm entgegenfliegen. Kommt, Ravna!«

Ravnas Mut erstarb in dieser Sekunde. Grondr hatte gesagt, dass die Docks fallen würden! Der nähere Himmel war jetzt von Leuten übersät, die sich in Sicherheit bringen wollten. Hundert Meter weiter begann sich der Sand selbst zu verschieben, ein Erdrutsch, der sich dem Abgrund zuneigte. Sie erinnerte sich an etwas, das der ALTE gesagt hatte, und begriff plötzlich, dass die Flieger ein schrecklicher Fehler wären. »Nein! Nur höheres Terrain gewinnen!«

Die Nacht war nicht länger still. Ein Stöhnen wie von einer Glocke drang vom Meer her. Der Klang breitete sich aus. Die Brise des Sonnenuntergangs wurde stärker und neigte die Bäume zum Wasser hin, wirbelte Äste und Sand an ihnen vorbei.

Ravna kniete noch immer, die Hände auf Phams taube Arme gepresst. Kein Atem, kein Pulsschlag. Die Augen starrten blicklos. Das Geschenk des ALTEN für sie. Die MÄCHTE sollten alle verdammt sein! Sie fasste Pham Nuwen unter der Schulter und wälzte ihn sich auf den Rücken.

Sie schnappte nach Luft, verlor ihn fast aus dem Griff. Unter seinem Hemd fühlte sie Hohlräume, wo festes Fleisch hätte sein müssen. Etwas Nasses und Übelriechendes tropfte um ihre Seiten herab. Sie kämpfte sich von den Knien hoch, halb trug sie den Körper, halb zog sie ihn.

Blaustiel rief: »… Stunden dauern, um irgendwo hin zu rollen!« Er schwebte vom Boden auf und lenkte seinen Agrav gegen den Wind. Skrod und Fahrer taumelten für einen Moment trunken… und dann wurde er zu Boden zurückgeworfen, kollerte ohnmächtig auf das Ziel des Windes zu, zu dem stöhnenden Loch, das das Meer gewesen war. Grünmuschel eilte zum Meer hin und schnitt ihm den Weg ins Verderben ab. Blaustiel richtete sich auf, und die beiden rollten zurück zu Ravna. Die Stimme der Fahrer drang schwach durch den Wind: »… Agrav… versagt!« Und damit alles, was die Docks zusammenhielt.

Gehend und rollend kämpften sie sich fort von der saugenden See. »Findet eine Stelle, wo die ADR landen kann.«

Die Baumgrenze war jetzt eine zerklüftete Hügelkette. Die Landschaft veränderte sich vor ihren Augen und unter ihren Füßen. Das stöhnende Geräusch war überall, mancherorts so laut, dass es durch Ravnas Schuhe hindurch surrte. Sie vermieden das absackende Terrain, die Senken, die sich ringsum auftaten. Die Nacht war nicht mehr dunkel. Ob es nun eine Notbeleuchtung oder eine Nebenwirkung des Agravausfalls war – Blau glomm entlang der Löcher. Durch diese Löcher hindurch sahen sie die wolkenbedeckte Nacht von DaUnten tausend Kilometer tiefer. Der Raum dazwischen war nicht leer. Es gab schimmernde Phantome: Milliarden Tonnen Wasser und Erde… und Hunderte von sterbenden Fliegern. Vrinimi Org zahlte den Preis dafür, dass sie ihre Docks auf Agravgewebe statt in einem Orbit gebaut hatten.

Irgendwie kamen die drei voran. Pham Nuwen war fast zu schwer, um ihn zu tragen und zu ziehen; sie strauchelte fast ebenso weit nach links und rechts, wie sie vorankam. Doch er war leichter, als sie geglaubt hätte. Und das war wiederum erschreckend: Versagte sogar das hohe Terrain?

Die meisten Agravs fielen durch Versagen aus, doch manche machten sich auf zerstörerische Weise selbständig: Klumpen von Bäumen und Erde, von den Hügelkuppen losgerissen und aufwärts beschleunigt. Der Wind drehte sich hin und her, auf und ab…, doch er war jetzt dünner, das Geräusch weiter entfernt. Die künstliche Atmosphäre, die die Docks überdeckte, würde bald verschwunden sein. Ravnas Taschenskaphander funktionierte ein paar Minuten lang, doch jetzt ließ er nach. In ein paar Minuten würde er so tot wie ihre Agravs sein… so tot wie sie selbst. Am Rande ihres Bewusstseins kam die Frage auf, wie die PEST das fertiggebracht hatte. Wie der ALTE würde Ravna wohl sterben, ohne es je zu erfahren.

Sie sah die Flammen von Raketentriebwerken; es waren Schiffe da. Die meisten waren in eine Umlaufbahn oder direkt auf Ultraantrieb gegangen, doch ein paar schwebten über der zerfallenden Landschaft. Blaustiel und Grünmuschel führten. Die beiden benutzten ihr drittes Achsenpaar auf eine Weise, mit der Ravna niemals gerechnet hätte, hoben und senkten es, um Steigungen zu erklimmen, mit denen sie unter der Last Phams auf dem Rücken kaum zurechtkam.

Sie waren auf einer Hügelkuppe, doch nicht lange. Das war ein Teil des Bürowaldes gewesen. Nun ragten die Bäume in unterschiedliche Richtungen, wie die Haare eines verwahrlosten Hundes. Sie spürte den Boden unter ihren Füßen beben. Was tun? Die Skrodfahrer rollten von einer Seite der Kuppe zur anderen. Sie würden hier gerettet werden, oder nirgends. Sie kniete sich hin und lagerte den größten Teil von Phams Gewicht auf den Boden. Von hier aus konnte man weit blicken. Die Docks sahen wie eine träge flappende Fahne aus, und jeder gewaltige Ausschlag des Stoffes brach Stücke heraus. Solange noch eine gewisse Übereinstimmung zwischen den Agrav-Einheiten bestand, sah das Ganze noch halbwegs flach aus. Das verlor sich allmählich. Es gab Senken rings um ihr kleines Stückchen Wald. Am Horizont sah Ravna, wie der ferne Rand der Docks sich ablöste und langsam seitwärts kippte: hundert Kilometer lang und zehn breit, stieß er herab auf Schiffe, die zur Rettung hätten dienen können.

Blaustiel drängte gegen ihre linke Seite, Grünmuschel gegen die rechte. Ravna drehte sich und verlagerte etwas von Phams Gewicht auf die Skrodhüllen. Wenn sie alle vier ihre Skaphander zusammenlegten, würden sie ein paar Augenblicke länger bei Bewusstsein bleiben. »Die ADR: ich hol sie runter!«, sagte Blaustiel.

Etwas kam herab. Der Antriebsstrahl eines Schiffes tauchte den Boden in blauweißes Licht, warf scharfe und unruhige Schatten. Es ist nicht gesund, in der Nähe eines Raketentriebwerks zu sein, das sich in einem Schwerefeld von fast einem Ge in der Schwebe hält. Eine Stunde früher wäre das Manöver unmöglich oder, falls doch durchgeführt, ein Kapitalverbrechen gewesen. Jetzt spielte es keine Rolle, ob sich der Strahl durch die Docks brannte oder Frachtgut vom anderen Ende der Galaxis röstete.

Dennoch… wo konnte Blaustiel das Ding landen lassen? Sie waren von Senken und wandernden Klippen umringt. Sie schloss die Augen, als sich das brennende Licht vor ihnen niedersenkte… und dann schwächer wurde. Blaustiels Ruf kam dünn durch ihre gemeinsame Atmosphäre: »Wir gehen zusammen!«

Sie hielt sich dicht bei den Fahrern, und sie krochen/rollten ihren kleinen Hügel hinab. Die Aus der Reihe II schwebte in der Mitte einer bodenlosen Senke. Ihr Antriebsstrahl war nicht zu sehen, doch der gleißend helle Widerschein von den Seiten des Loches zeichnete scharf die Silhouette des Schiffs, verwandelte die Dorne des Ultraantriebs in flaumige weiße Bögen. Ein Riesenfalter mit glühenden Flügeln… und ganz knapp außer Reichweite.

Wenn ihre Skaphander durchhielten, konnten sie es bis zum Rand des Loches schaffen. Was dann? Die Dorne hinderten das Schiff daran, näher als bis auf hundert Meter heranzukommen. Ein gut trainierter (und verrückter) Mensch hätte versuchen können, sich an einen Dorn zu klammern und auf ihm hinab zu kriechen.

Doch Skrodfahrer hatten ihre eigene Art von Verrücktheit: Gerade als das Licht – der Widerschein – nicht mehr auszuhalten war, erlosch der Antriebsstrahl. Die ADR fiel durch das Loch. Das ließ die Fahrer nicht innehalten. »Schneller!«, sagte Blaustiel. Und nun erriet sie, was die beiden vorhatten. Sehr schnell für solch ein ungefüges Wirrwarr von Gliedern und Rädern bewegten sie sich auf den Rand des dunkel gewordenen Loches zu. Ravna spürte, wie das Erdreich unter ihren Füßen nachgab, und dann fielen sie.

Die Docks waren Hunderte – stellenweise Tausende – von Metern dick. Sie fielen jetzt an ihnen vorbei, vorüber an trüben unheimlichen Blitzen innerer Zerstörung.

Dann waren sie durch, und sie fielen immer noch. Für einen Moment war das Gefühl wilder Panik weg. Schließlich war das einfach freier Fall, eine ganz gewöhnliche Sache und ein verdammtes Stück friedlicher als die zerfallenden Docks. Jetzt war es leicht, sich an die Fahrer und Pham Nuwen zu halten, und selbst ihre gemeinsame Atmosphäre erschien etwas dichter als zuvor. Hochvakuum und freier Fall hatten etwas für sich. Abgesehen von vereinzelten wildgewordenen Agravs fiel alles mit derselben Beschleunigung, Ruinen, die sich friedlich setzten. Und in vier, fünf Minuten würden sie auf die Atmosphäre von DaUnten auftreffen und dabei noch immer fast senkrecht abwärts fallen… Eintrittsgeschwindigkeit nur drei oder vier Kilometer pro Sekunde. Würden sie verbrennen? Vielleicht. Über den Wolkendecken blitzte es hier und da hell auf.

Der Müll rings um sie war größtenteils dunkel, nur Schatten vor dem Himmelsspektakel über ihnen. Doch die Gestalt direkt unter ihnen war groß und regelmäßig… die ADR, Bug oben! Das Schiff fiel mit ihnen. Alle paar Sekunden flammte eine Steuerdüse auf, ein schwaches rötliches Glühen. Das Schiff näherte sich ihnen. Wenn es eine Bugluke hatte, würden sie direkt darauf landen.

Seine Rendezvousleuchten flammten auf und tauchten sie in helles Licht. Zehn Meter Abstand. Fünf. Es hatte eine Luke, und sie war offen! Drinnen konnte sie eine ganz gewöhnliche Luftschleuse sehen…

Was immer sie traf, es war groß. Ravna sah eine undeutliche Masse von Plastik über ihrer Schulter auftauchen. Das wildgewordene Stück drehte sich langsam, und es berührte sie kaum – doch das reichte. Pham Nuwen wurde ihrem Griff entrissen. Sein Körper verlor sich im Schatten, leuchtete dann plötzlich hell auf, als ihn der Scheinwerfer des Schiffs verfolgte. Gleichzeitig strömte die Luft aus Ravnas Lungen. Sie hatten jetzt nur noch drei Taschendruckfelder, die am Versagen waren; das genügte nicht. Ravna spürte, wie ihr das Bewusstsein entglitt und ihr Blick sich einengte. So nahe.

Die Fahrer lösten sich voneinander. Sie langte nach den Skrodhüllen, und sie trieben ausgestreckt über der Schiffsluke. Blaustiels Skrod prallte gegen sie, als er auf die Luke zueilte. Der Ruck riss sie herum und schleuderte Grünmuschel nach oben. Allmählich fühlte sie sich wie im Traum. Wo blieb die Panik, wenn man sie brauchte? Festhalten, festhalten, festhalten, sang das Stimmchen, alles, was vom Bewusstsein übrig war. Stoß, Ruck. Die Fahrer schoben und zogen an ihr. Oder vielleicht war es das Schiff, das sie alle herumschleuderte. Sie waren Puppen, die an einem einzigen Faden tanzten.

… Tief im engen Schacht ihres Blickfeldes langte ein Fahrer nach der taumelnden Gestalt von Pham Nuwen.

 

Ravna konnte sich nicht entsinnen, das Bewusstsein verloren zu haben, doch das nächste, was sie wahrnahm, war, dass sie Luft atmete, Erbrochenes heraushustete – und dass sie in einer Luftschleuse war. Feste grüne Wände umgaben sie trostreich. Pham Nuwen lag an der Wand gegenüber, in einen Erste-Hilfe-Kanister geschnallt. Sein Gesicht hatte einen bläulichen Ton.

Sie schleppte sich unbeholfen durch die Schleuse zu Pham Nuwens Wand. Der Ort war ein wirres Durcheinander, anders als die Passagier- und Sportschiffe, die sie bisher gesehen hatte. Außerdem war es eine Fahrer-Konstruktion. Flecken von Haftbelag waren rings an den Wänden verstreut; Grünmuschel hatte ihren Skrod auf eine Ansammlung davon gesetzt.

Sie beschleunigten, vielleicht mit einem zwanzigstel Ge. »Wir fallen immer noch?«

»Ja. Wenn wir anhalten oder aufsteigen, kollidieren wir« – mit all dem Müll, der immer noch herabregnet. »Blaustiel versucht, uns hinauszufliegen.« Sie fielen zusammen mit dem Rest, versuchten aber, seitlich darunter hervorzukommen – ehe sie auf DaUnten trafen. Ab und zu rasselte oder klirrte etwas gegen den Schiffsrumpf. Manchmal ließ die Beschleunigung nach oder änderte die Richtung. Blaustiel wich aktiv den großen Brocken aus.

Nicht hundertprozentig mit Erfolg. Es gab ein langes, schurrendes Geräusch, das mit einem lauten Knall endete, und der Raum drehte sich langsam um sie. »Brrap! Wir haben gerade einen Antriebsdorn verloren«, erklang Blaustiels Stimme. »Zwei weitere sind beschädigt. Schnallen Sie sich bitte an, meine Dame.«

Hundert Sekunden später berührten sie die Atmosphäre. Das Geräusch war ein kaum wahrnehmbares Summen jenseits des Schiffsrumpfes. Für ein Schiff wie dieses war es der Klang des Todes. Es konnte ebenso wenig aerodynamisch bremsen, wie ein Hund über den Mond springen kann. Das Geräusch wurde lauter. Blaustiel tauchte richtig, um den Müll abzuschütteln, der das Schiff umgab. Zwei weitere Dorne brachen. Dann kam eine lange Welle von Beschleunigung entlang der Hauptachse. Die Aus der Reihe II flog unter dem Todesschatten der Docks hervor, weiter und weiter hinaus in eine Umlaufbahn.

 

Ravna schaute über Blaustiels Wedel hinweg auf den Außenbildschirm. Sie hatten soeben die Tag-Nacht-Grenze von DaUnten überflogen und waren in einer Umlaufbahn. Sie befanden sich wieder im freien Fall, doch diese Flugbahn krümmte sich in sich selbst, ohne auf harte Dinge zu stoßen – wie etwa DaUnten.

Ravna wusste nicht viel mehr über Raumfahrt, als man von einem gelegentlichen Passagier und einem Liebhaber von Abenteuergeschichten erwarten kann. Doch es war offensichtlich, dass Blaustiel beinahe ein Wunder vollbracht hatte. Als sie ihm zu danken versuchte, rollte der Fahrer über die Haftflecken hin und her und surrte dabei leise in sich hinein. Verlegen? Oder nur auf Art der Fahrer unaufmerksam?

Grünmuschel sagte, und es klang ein bisschen schüchtern, ein bisschen stolz: »Fernhandel ist unser Leben, wissen Sie. Wenn wir vorsichtig sind, ist das Leben größtenteils sicher und friedlich, aber es gibt Momente, wo es eng wird. Blaustiel übt die ganze Zeit und programmiert seinen Skrod mit jedem Trick, der ihm nur in den Sinn kommt. Er ist ein Meister.« Im Alltag schien Entschlussschwäche die Fahrer zu beherrschen. Doch wenn es hart auf hart ging, zögerten sie nicht, alles aufs Spiel zu setzen. Sie fragte sich, wie viel davon auf das Konto des Skrods ging, der sich über seinen Fahrer hinwegsetzte.

»Umpf«, sagte Blaustiel. »Ich habe die heikle Stelle einfach hinausgeschoben. Mir sind etliche von unseren Antriebsdornen zerbrochen. Was, wenn sie sich nicht selbst reparieren? Was fangen wir dann an? Alles rings um DaUnten ist zerstört. Bis auf eine Entfernung von hundert Radien ist überall Müll. Nicht dicht wie bei den Docks, aber mit viel höherer Geschwindigkeit.« Man konnte nicht Milliarden Tonnen Trümmer wie Schrot in Umlaufbahnen schießen und mit sicherem Flug rechnen. »Und jeden Moment werden die Kreaturen der PERVERSION hier sein und jeden erledigen, der überlebt hat.«

»Ark.« Grünmuschels Ranken erstarrten in komischer Unordnung. Eine Sekunde lang zwitscherte sie mit sich selbst. »Du hast Recht…, ich hatte es vergessen. Ich dachte, wir hätten freien Raum gewonnen, doch…«

Freien Raum schon, aber auf einem Schießstand. Ravna blickte zurück zu den Bildschirmen des Steuerdecks. Sie waren jetzt auf der Tagseite, vielleicht fünfhundert Kilometer über dem Hauptozean von DaUnten. Der Raum über dem dunstigen blauen Horizont war frei von Blitzen und Glühen. »Ich sehe keinerlei Kampfaktionen«, sagte Ravna hoffnungsvoll.

»Entschuldigung.« Blaustiel schaltete den Bildschirm auf eine aussagekräftigere Anzeige um. Das meiste davon betraf die Navigation und die Ultradetektoren, was für Ravna nichts bedeutete. Ihr Blick blieb an einer Medstat-Meldung hängen: Pham Nuwen atmete wieder. Der automatische Arzt des Schiffes glaubte ihn retten zu können. Aber es gab auch ein Fenster mit dem Kommunikationsstatus; in ihm wurde der Angriff entsetzlich deutlich. Das lokale Netz war in Hunderte kreischender Fragmente zerbrochen. Von der Planetenoberfläche kamen nur Automatenstimmen, und sie riefen nach medizinischer Hilfe. Grondr war dort unten gewesen. Irgendwie vermutete sie, dass nicht einmal seine Einsatzleute von Marketing überlebt hatten. Was immer DaUnten getroffen hatte, war noch tödlicher als die Ausfälle bei den Docks gewesen. Im nahen planetaren Raum gab es ein paar Überlebende in Schiffen und Bruchstücken von Habitaten, die meisten auf einer Flugbahn in den Untergang. Ohne massive und koordinierte Hilfe würden sie binnen Minuten tot sein – weiter draußen binnen Stunden. Die Direktoren der Vrinimi-Org lebten nicht mehr, vernichtet, ehe sie jemals begriffen, was eigentlich vorging.

Fliegt, hatte Grondr gesagt, fliegt.

Außerhalb des Planetensystems gab es Kämpfe. Ravna sah, dass Meldungen zwischen Verteidigungseinheiten der Vrinimi ausgetauscht wurden. Selbst ohne Kontrolle oder Koordination leisteten einige noch der Flotte der PERVERSION Widerstand. Das Licht ihrer Schlachten würde erst nach der Niederlage hier eintreffen, erst nachdem der Feind in eigener Person hier erschien. Wie viel Zeit bleibt uns? Minuten?

»Brrap. Seht euch diese Spuren an«, sagte Blaustiel. »Die PERVERSION hat fast viertausend Schiffe. Sie umgehen die Verteidiger.«

»Aber jetzt ist da draußen kaum noch jemand übrig«, sagte Grünmuschel. »Ich hoffe, sie sind nicht alle tot.«

»Nicht alle. Ich sehe etliche tausend Schiffe wegfliegen, jedermann, der die Mittel dazu und eine Spur von Vernunft hat.« Blaustiel rollte hin und her. »Leider haben wir die Vernunft – aber schaut euch diesen Reparaturbericht an.« Ein Fenster weitete sich, angefüllt mit bunten Mustern, die für Ravna nicht die Bohne bedeuteten. »Zwei Dorne immer noch defekt, irreparabel. Drei teilweise repariert. Wenn sie nicht heilen, sitzen wir hier fest. Das ist unannehmbar!« Seine Voderstimme surrte schrill auf. Grünmuschel fuhr an ihn heran, und sie berührten sich rasselnd mit den Wedeln.

Etliche Minuten vergingen. Als Blaustiel wieder Samnorsk sprach, klang seine Stimme ruhiger. »Ein Dorn repariert. Vielleicht, vielleicht, vielleicht…« Er holte wieder ein Direktbild auf den Schirm. Die ADR glitt über den Südpol von DaUnten, zurück in die Nacht. Ihre Umlaufbahn müsste über den schlimmsten Müll von den Docks hinwegführen, doch der Flug war ein ständiges Hin und Her, während das Schiff weiteren Trümmern auswich. Die Schreckensschreie der Schlachten von außerhalb des Systems schwanden. Die Vrinimi-Organisation war ein riesiger zuckender Leichnam, und sehr bald würde sein Mörder hier herumschnüffeln.

»Zwei repariert.« Blaustiel wurde sehr still. »Drei! Drei sind repariert! Fünfzehn Sekunden, um sie neu zu eichen, und wir können springen!«

Es schien länger zu dauern…, doch dann schalteten sich alle Bildschirme auf Außenansicht um. DaUnten und seine Sonne waren verschwunden. Sterne und Dunkelheit erstreckten sich ringsumher.

 

Drei Stunden später, und Relais lag hundertfünfzig Lichtjahre hinter ihnen. Die ADR flog im Hauptschwarm der flüchtenden Schiffe. Angesichts der Archive und des Tourismus hatte es eine außerordentliche Anzahl interstellarer Schiffe bei Relais gegeben: Zehntausend Raumfahrzeuge waren über die Lichtjahre rings um sie verstreut. Doch Sterne waren so weit entfernt von der Galaxisebene rar, und sie befanden sich mindestens einhundert Flugstunden von der nächsten Zuflucht entfernt.

Für Ravna war es der Beginn einer neuen Schlacht. Sie blickte über das Deck zu Blaustiel hin. Der Skrodfahrer war aufgeregt, seine Wedel wanden sich in einer Weise, die Ravna noch nie gesehen hatte. »Sehen Sie, meine Dame Bergsndot, HochPunkt ist eine nette Zivilisation, an der einige Zweibeiner beteiligt sind. Sie ist sicher. Sie liegt nahe. Sie würden sich eingewöhnen.« Er hielt inne. Liest er etwa meinen Gesichtsausdruck? »Aber… aber wenn das nicht annehmbar ist, werden wir Sie weiter mitnehmen. Geben Sie uns eine Chance, die richtige Fracht zu nehmen, und… und wir bringen Sie zurück bis nach Sjandra Kei. Wie wäre es damit?«

»Nein. Sie haben schon einen Vertrag, Blaustiel. Mit der Vrinimi-Organisation. Wir drei« – und was immer aus Pham Nuwen geworden ist – »sind unterwegs zum Grunde des Jenseits.«

»Ich schüttle meinen Kopf voller Unglauben! Wir haben zwar einen Vorschuss erhalten. Aber jetzt, da Vrinimi-Org tot ist, gibt es niemanden, der uns den Rest der Vereinbarung vergüten kann. Also sind wir auch davon befreit.«

»Vrinimi ist nicht tot. Sie haben Grondr ’Kalir gehört. Die Org hatte – hat – Filialen überall im Jenseits. Die Verpflichtung gilt.«

»Rein theoretisch. Wir wissen beide, dass diese Filialen niemals die Gesamtsumme bezahlen könnten.«

Darauf wusste Ravna keine gute Antwort. »Sie haben eine Verpflichtung«, sagte sie, doch ohne rechten Nachdruck. Lautstark aufzutrumpfen, war nie ihre Stärke gewesen.

»Meine Dame, sprechen Sie wirklich unter dem Gesichtspunkt der Org-Ethik, oder aus einfacher Menschlichkeit?«

»Ich…« Eigentlich hatte Ravna die Org-Ethik niemals vollends verstanden. Das war einer der Gründe, warum sie vorgehabt hatte, nach ihrer Aspirantur nach Sjandra Kei zurückzukehren, und einer der Gründe, weshalb die Org mit der menschlichen Rasse vorsichtig umgegangen war. »Es spielt keine Rolle, von welchem Standpunkt aus ich spreche! Es besteht ein Vertrag. Sie waren froh, ihn einzuhalten, solange alles ungefährlich aussah. Nun gut, die Sache hat eine tödliche Wendung genommen – aber das war Teil der Abmachung.« Ravna warf einen Blick auf Grünmuschel. Sie war bisher still gewesen, hatte ihrem Partner nicht einmal etwas zugeraschelt. Ihre Wedel hielt sie fest am Mittelstiel. Vielleicht… »Hören Sie, es gibt noch andere Gründe außer der vertraglichen Verpflichtung. Die PERVERSION ist mächtiger, als irgendwer geglaubt hat. Heute hat sie eine MACHT umgebracht. Und sie operiert im Mittleren Jenseits… Die Skrodfahrer haben eine lange Geschichte, Blaustiel, länger, als die gesamte Existenz der meisten Rassen. Die PERVERSION ist vielleicht stark genug, um all dem ein Ende zu bereiten.«

Grünmuschel rollte auf sie zu und öffnete sich leicht. »Sie… Sie denken wirklich, wir könnten etwas in diesem Schiff am Grunde finden, etwas, das der mächtigsten von allen MÄCHTEN schaden könnte?«

Ravna schwieg eine Weile. »Ja. Und der ALTE selbst hat das gedacht, unmittelbar ehe er starb.«

Blaustiel schlang die Wedel noch fester um sich und drehte sich hin und her. Vor Zorn? »Meine Dame, wir sind Kauffahrer. Wir leben schon lange und sind weit herumgekommen… und haben überlebt, weil wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmerten. Was immer auch Romantiker denken mögen, Händler gehen nicht auf Abenteuerfahrt. Was Sie verlangen…, ist unmöglich – gewöhnliche Jenseiter, die versuchen, eine MACHT zu untergraben.«

Dennoch seid ihr dieses Risiko im Vertrag eingegangen. Aber Ravna sagte das nicht laut. Vielleicht tat es Grünmuschel: Ihre Wedel raschelten, und Blaustiel sank noch mehr in sich zusammen. Grünmuschel schwieg eine Zeit lang, dann machte sie etwas Komisches mit ihren Achsen und löste sich dabei vom Haftbelag. Ihre Räder drehten sich in der Luft, als sie in einem langsamen Bogen schwebte, bis sie kopfüber dahing und mit den Wedeln über die von Blaustiel strich. Sie raschelten fast fünf Minuten lang hin und her. Blaustiel löste sich allmählich aus seiner Verkrampfung, seine Wedel entspannten sich und tätschelten ihrerseits die Partnerin.

Schließlich sagte er: »Also gut… Eine Suchaktion. Aber wohlgemerkt: Einmal, und nie wieder.«