FÜNFUNDDREISSIG
Das einzige Gute an all dem Warten
war die Chance gewesen, die es den Verwundeten bot. Nun, da
Feilonius einen Weg hinter die Verteidigungslinien der Flenseristen
gefunden hatte, konnten es alle kaum erwarten aufzubrechen,
aber…
Johanna verbrachte den letzten Nachmittag im Feldlazarett. Das Lazarett war in grobe Vierecke unterteilt, jedes etwa sechs Meter lang und breit. In manchen von den Abteilungen standen zerlumpte Zelte – sie gehörten Verwundeten, die noch klug genug waren, für sich selbst zu sorgen. Andere waren von Seilabsperrungen umgeben, in jedem befand sich ein einzelnes Glied, das Überlebende eines vormals vollständigen Rudels. Die Solos hätten leicht über die Absperrungen springen können, doch die meisten schienen deren Zweck zu erkennen und blieben drin.
Johanna zog den Essenwagen durch das Gebiet und hielt erst bei einem Patienten, dann beim nächsten an. Der Wagen war etwas zu groß für sie und verfing sich manchmal in den Wurzeln, die am Waldboden wuchsen. Aber es war eine Arbeit, die sie besser als jedes Rudel zu tun vermochte, und es war schön, einen Weg zu finden, wie sie helfen konnte.
Im Wald rings um das Lazarett ertönten die Geräusche von Cherhogs, die angeschirrt wurden, die Rufe von Mannschaften, die die Kanonen sicherten und die Lagerausrüstung verstauten. Aus den Karten, die Feilonius bei der Versammlung gezeigt hatte, ging hervor, dass die beiden nächsten Tage anstrengend sein würden – doch dann würden sie die Höhe hinter nichtsahnenden Flenseristen gewonnen haben.
Sie hielt am ersten kleinen Zelt an. Das Dreisam darin hatte sie kommen hören, war jetzt draußen und lief in kleinen Kreisen um ihren Wagen. »Johanna! Johanna!«, sagte es mit ihrer eigenen Stimme. Das war alles, was von einem der untergeordneten Strategen Holzschnitzerins übrig geblieben war; einst hatte es ein wenig Samnorsk gesprochen. Das Rudel war ursprünglich zu sechst gewesen; drei waren von den Wölfen getötet worden. Übrig geblieben war der ›Sprecher‹-Teil – etwa so klug wie ein Fünfjähriger, aber mit einem sonderbaren Wortschatz. »Danke für das Essen. Danke.« Es presste die Mäuler an sie. Sie streichelte die Köpfe, ehe sie in den Wagen langte und Schüsseln mit lauwarmem Eintopf hervorholte. Zwei von ihnen machten sich gleich darüber her, aber das dritte blieb noch eine Weile sitzen und schwatzte. »Ich höre, wir kämpfen bald.«
Du nicht mehr, aber: »Ja. Wir gehen das trockene Flussbett hinauf, ein Stück weiter östlich.«
»Oh, oh«, sagte es. »Oh, oh. Das ist schlecht. Schlecht sehen, keine Kontrolle, Angst vor Hinterhalt.« Anscheinend hatte das Fragment einige Erinnerungen an seine Arbeit als Taktiker. Aber Johanna konnte nicht Feilonius’ Argumente erklären. »Mach dir keine Sorgen, es wird gut gehen.«
»Du sicher? Du versprichst?«
Johanna lächelte die Überbleibsel des ziemlich netten Kerls sanft an. »Ja. Ich verspreche es.«
»Ah-ah-ah… Gut.« Nun hatten alle drei ihre Schnauzen in den Schüsseln. Das war wirklich einer von denen, die noch Glück gehabt hatten. Das Dreisam zeigte eine Menge Interesse an dem, was ringsum vorging. Und – fast ebenso wichtig – es verfügte über eine kindliche Begeisterung. Pilger hatte gesagt, solche Fragmente könnten leicht wieder vollwertige Rudel werden, wenn man sie lange genug richtig behandelte, dass sie ein, zwei Welpen bekommen konnten.
Sie schob den Wagen ein paar Meter weiter, zu dem Seilquadrat, das als symbolisches Gehege für ein Solo diente. Es lag ein schwacher Kotgeruch in der Luft. Manche von den Solos und Duos waren nicht stubenrein; außerdem befanden sich die Lageraborte hundert Meter entfernt.
»Hier, Schwarzer. Schwarzer?« Johanna schlug mit einer leeren Schüssel gegen die Seite ihren Wagens. Ein einzelner Kopf erhob sich hinter ein paar Wurzelbüschen; manchmal zeigte dieses eine nicht einmal so viel Reaktion. Johanna kniete sich hin, sodass ihre Augen nicht viel höher als das Glied mit dem schwarzen Gesicht waren. »Schwarzer?«
Das Geschöpf arbeitete sich hinter dem Gebüsch hervor und kam langsam näher. Das war alles, was von einem der Kanoniere Scrupilos übrig war. Sie erinnerte sich dunkel an das Rudel, ein stattliches Sechssam, alle Glieder groß und flink. Doch jetzt war nicht einmal ›Schwarzer‹ heil: Eine fallende Kanone hatte ihm die Hinterbeine zerschmettert. Er zog sein beinloses Hinterteil auf einem kleinen Wagen mit dreißig Zentimeter großen Rädern einher – eine Art Skrodfahrer mit Vorderbeinen. Sie schob eine Schüssel mit Eintopf zu ihm hin und machte die Geräusche, die Pilger ihr beigebracht hatte. Schwarzer hatte die letzten drei Tage die Nahrung verweigert, doch heute rollte und lief er nahe genug heran, dass sie ihm den Kopf streicheln konnte. Nach einer Weile senkte er die Schnauze zu dem Eintopf herab.
Johanna grinste, angenehm überrascht. Dieses Lazarett war ein seltsamer Ort. Vor einem Jahr hätte es sie in Angst und Schrecken versetzt; selbst jetzt sah sie die Verletzten nicht aus der richtigen Rudelperspektive. Während sie weiter den gesenkten Kopf des Schwarzen streichelte, schaute Johanna über den Waldboden hinüber zu den rohen Zelten, den Patienten und Teilen von Patienten. Es war wirklich ein Lazarett. Die Ärzte versuchten tatsächlich, Leben zu retten, obwohl die ärztliche Kunst ein grauenhafter Vorgang war, bei dem ohne Betäubung geschnitten und geschient wurde. In dieser Beziehung war es durchaus der menschlichen Medizin im Mittelalter vergleichbar, wie Johanna sie im Datio gesehen hatte. Doch mit den Klauenwesen war es noch anders. Die Ärzte waren am Wohlergehen von Rudeln interessiert. Für sie waren Solos Einzelteile, Organe, die vielleicht von Nutzen sein mochten, um größere Fragmente wieder zum Funktionieren zu bringen, wenigstens zeitweise. Verletzte Solos standen auf dem allerletzten Platz in der medizinischen Rangliste. »In solchen Fällen ist nicht mehr viel zu retten«, hatte ihr einer der Ärzte durch Pilger gesagt. »Und selbst wenn es möglich wäre – würdest du ein verkrüppeltes, unsicher eingebundenes Glied in deinem Ich haben wollen?« Der Bursche war zu erschöpft gewesen, um die Absurdität seiner Frage zu erfassen. Seine Schnauzen hatten vor Blut getrieft, er hatte stundenlang gearbeitet, um verwundete Glieder ganzer Rudel zu retten.
Außerdem hörten die meisten verwundeten Solos einfach auf zu essen und starben in weniger als einem Zehntag. Selbst nachdem sie ein Jahr bei den Klauenwesen verbracht hatte, konnte sich Johanna nicht recht damit abfinden. Jedes Solo erinnerte sie an den lieben Schreiber; sie wünschte ihnen bessere Chancen, als dessen letztes Überbleibsel gehabt hatte. Sie hatte den Essenwagen übernommen und verbrachte mit den verletzten Solos ebenso viel Zeit wie mit jedem anderen Patienten. Es hatte gute Ergebnisse gezeitigt. Sie konnte sich jedem Patienten nähern, ohne dass es zu Denk-Intereferenzen kam. Ihre Hilfe gab den Züchtern mehr Zeit, die Fragmente und Solos zu studieren und zu versuchen, funktionsfähige Rudel aus den Trümmern zusammenzustellen.
Und jetzt würde dieses eine vielleicht nicht verhungern. Sie würde es Pilger sagen. Er hatte bei einigen der anderen Neuzusammenstellungen Wunder vollbracht und schien das einzige Rudel zu sein, das ihre Gefühle für verletzte Solos in gewissem Grade teilte. »Wenn sie nicht verhungern, bedeutet das oft Geistesstärke. Selbst als Krüppel könnten sie für ein Rudel von Vorteil sein«, hatte er zu ihr gesagt. »Ich bin auf meinen Reisen oft verkrüppelt gewesen; man kann es sich nicht immer aussuchen, wenn man auf drei geschrumpft und tausend Meilen weit von daheim in einem unbekannten Land ist.«
Johanna stellte eine Schüssel mit Wasser neben den Eintopf. Nach einer Weile drehte sich das verkrüppelte Glied auf seinen Rädern um und nahm ein paar kleine Schlucke. »Halte durch, Schwarzer, wir werden jemanden finden, der du sein kannst.«
Tschitirattu war da, wo er sein sollte, und schritt seinen Postenbereich exakt so ab, wie es sich gehörte. Nichtsdestoweniger fühlte er nervöse Anspannung. Mit mindestens einem Kopf betrachtete er unablässig das Pfahlwesen, den Zweibeiner. Auch daran war nichts Verdächtiges. Er sollte hier Wache stehen, und das bedeutete, alle Richtungen im Auge zu behalten. Er schob seine Armbrust nervös aus den Kiefern in die Tragetasche und wieder in die Kiefer. Nur noch ein paar Minuten…
Tschitirattu umrundete abermals das Lazarett. Es war ein leichter Dienst. Obwohl dieser Waldstreifen verschont geblieben war, hatten die Trockenwind-Brände die größeren Wildtiere stromabwärts getrieben. So nahe am Fluss war der Boden mit Weichsträuchern bewachsen, und es war kaum ein Dorn zu finden. Das Lazarett zu umschreiten war wie ein Spaziergang auf der Holzschnitzerwiese im Süden. Ein paar hundert Ellen weiter östlich gab es schwerere Arbeit – die Wagen und Vorräte für den Aufstieg fertig zu machen.
Die Fragmente wussten, dass etwas vorging. Hier und da ragten Köpfe von Pritschen und Erdgruben empor. Sie sahen zu, wie die Wagen beladen wurden, hörten die vertrauten Stimmen von Freunden. Die dümmsten fühlten sich zum Dienst gerufen; er hatte drei am Körper gesunde Solos ins Lazarett zurückgetrieben. Solche Schwachköpfe konnten sowieso nicht von Nutzen sein. Wenn die Armee den Margrum-Steig hinanmarschierte, würde das Lazarett zurückbleiben. Tschitirattu wünschte, er könnte das auch. Er arbeitete schon lange genug für den Boss, um zu ahnen, wo seine Befehle letzten Endes herkamen; Tschitirattu vermutete, dass nicht viele vom Margrum-Steig zurückkehren würden.
Er richtete drei Augenpaare auf das Pfahlwesen. Dieser letzte Auftrag war die riskanteste Sache, an der er je beteiligt war. Wenn es klappte, könnte er einfach verlangen, dass ihn der Boss beim Lazarett zurückließ. Sei bloß vorsichtig, alter Junge. Feilonius hatte es nicht so weit gebracht, indem er Sachen unerledigt ließ. Tschitirattu hatte gesehen, was dem Ostler widerfahren war, der ein bisschen zu tief in den Angelegenheiten des Bosses herumgeschnüffelt hatte.
Verdammt, war der Mensch langsam! Schon seit fünf Minuten grunzte sie auf dieses eine Solo ein. Man könnte meinen, dass sie mit all diesen Fragmenten Sex trieb, bei all der Zeit, die sie mit ihnen verbrachte. Gut, sie würde schon bald für ihre Vertraulichkeit bezahlen. Er spannte seine Armbrust, überlegte es sich dann aber anders. Unfall, Unfall. Es musste ganz wie ein Unfall aussehen.
Aha. Der Zweibeiner sammelte die Schüsseln ein und lud sie auf den Essenwagen. Tschitirattu eilte unauffällig um das Lazarett zu der Stelle, wo ihn das Duo Krazi sehen konnte – das Fragment, das die eigentliche Tötung erledigen würde.
Krazinissinari war ein Infanteriesoldat gewesen, ehe er seine Nissinari-Teile eingebüßt hatte. Er hatte keine Verbindung zum Boss oder zum Sicherheitsdienst gehabt. Aber er war ein verrücktes Biest gewesen, ein Rudel, das sich immer am Rande der Gefechtswut befunden hatte. Wenn man bis auf zwei Glieder getötet wurde, so hatte das für gewöhnlich mäßigende Wirkung. In diesem Fall – nun, der Boss behauptete, Krazi sei speziell präpariert worden, eine Falle, die jederzeit zum Zuschnappen gebracht werden konnte. Tschitirattu brauchte weiter nichts zu tun, als das Signal zu geben, und das Duo würde das Pfahlwesen zerreißen. Eine große Tragödie. Natürlich würde Tschitirattu zur Stelle sein, der wachsame Posten am Lazarett. Er würde Krazi schnell Pfeile durch die Köpfe jagen – leider nicht schnell genug, um den Zweibeiner zu retten.
Der Mensch zog den Essenwagen unbeholfen um Wurzelbüsche herum zu Krazi, dem nächsten Patienten. Das Duo kam aus seinem Erdloch und sprach schwachsinnige Begrüßungsworte, die nicht einmal Tschitirattu verstand. Doch es gab Untertöne, eine tödliche Wut, die dicht neben seiner freundlichen Haltung lag. Das Pfahlwesen merkte natürlich nichts. Sie hielt den Wagen an, begann Essen- und Wasserschüsseln zu füllen und grunzte dabei die ganze Zeit auf das Zweisam ein. Gleich würde sie sich herabbeugen, um das Essen auf den Boden zu stellen… Einen winzigen Augenblick lang erwog Tschitirattu, das Pfahlwesen selbst zu erschießen, wenn Krazi nicht sofort Erfolg hatte. Er konnte den Zweibeiner wirklich nicht leiden. Das Pfahlwesen war ein bedrohliches Geschöpf, sie war so groß und bewegte sich so sonderbar. Inzwischen wusste er, dass sie im Vergleich zu Rudeln verletzlich war, doch es war ein beängstigender Gedanke, dass ein einzelnes Tier so schlau wie dieses sein konnte. Er unterdrückte die Versuchung noch schneller, als er daran gedacht hatte. Wer wusste, welchen Preis er dafür zahlen müsste, selbst wenn sie ihm glaubten, dass sein Schuss ein Unfall war. Keine selbstlosen Taten heute, danke sehr; Krazis Kiefer und Krallen würden genügen müssen.
Einer von Krazis Köpfen schaute in Tschitirattus Richtung herüber. Das Pfahlwesen nahm jetzt die Schüsseln und wandte sich vom Essenwagen ab…
»Hallo, Johanna? Wie geht’s?«
Johanna blickte von dem Eintopf auf und sah Wanderer Wickwracknarb den Rand des Lazaretts entlangkommen. Er bewegte sich so, dass er möglichst nahe heran kam, ohne die Denklaute der Patienten zu beeinträchtigen. Der Wachposten, der eben dort Halt gemacht hatte, zog sich vor ihm zurück und blieb ein paar Meter weiter stehen. »Ganz gut«, rief sie zurück. »Kennst du den mit den Rädern? Er hat heute wirklich etwas gegessen.«
»Gut, ich habe mir über ihn und das Dreisam auf der anderen Seite des Lazaretts Gedanken gemacht.«
»Den verwundeten Arzt?«
»Ja. Der Rest von Trellelak ist ganz weiblich, weiß du. Ich habe den Denklauten zugehört und…« Pilger lieferte seine Erklärung in fließendem Samnorsk, doch für Johanna ergab es nicht viel Sinn. Zur Zuchtkunde gehörten so viele Vorstellungen, für die es in der Menschensprache keine Entsprechung gab, dass nicht einmal Pilger es verständlich machen konnte. Der offensichtliche Gedanke war, dass Schwarzer als Rüde und das Arzt-Dreisam vielleicht früh genug Welpen bekommen konnten, um die Gruppe zusammenzuschweißen. Der Rest drehte sich um ›Stimmungsresonanz‹ und das ›Durchsetzen schwacher Stellen mit starken‹. Pilger behauptete, in der Zuchtkunde ein Amateur zu sein, doch es war interessant, wie die Ärzte – und manchmal sogar Holzschnitzerin – seinen Rat einholten. Auf seinen Reisen hatte er eine Menge durchgemacht. Seine Neuzusammenstellungen schienen öfter als die von allen anderen zu ›greifen‹. Sie winkte ihm zu, dass er still sein solle. »In Ordnung. Wir werden es versuchen, sobald ich alle gefüttert habe.«
Pilger reckte ein, zwei Köpfe zu den nächstgelegenen Abteilungen des Lazaretts hin. »Irgendetwas Seltsames ist im Gange. Ich kann nicht recht ›den Finger drauflegen‹, aber… alle Fragmente beobachten dich. Sogar mehr als üblich. Spürst du es?«
Johanna zuckte mit den Achseln. »Nein.« Sie kniete sich hin, um die Schüsseln mit Eintopf und Wasser vor den zweisamen Patienten zu stellen. Die beiden hatten vor Eifer gezittert, obwohl sie höflicherweise niemandem ins Wort gefallen waren. Am Rande ihres Blickfeldes sah sie den Lazarettposten eine seltsame zuckende Bewegung mit den beiden mittleren Köpfen machen, und…
Die Schläge trafen sie wie zwei große Fäuste gegen Brust und Gesicht. Johanna fiel zu Boden, und sie waren über ihr. Sie erhob blutige Arme gegen reißende Kiefer und Krallen.
Als Tschitirattu das Signal gab, sprangen beide von Krazi los – und prallten aufeinander, wobei sie fast zufällig das Pfahlwesen zu Boden warfen. Ihre Krallen und Zähne zerrissen die Luft und den jeweils anderen ebenso wie den Zweibeiner. Einen Moment lang war Tschitirattu starr vor Überraschung. Vielleicht ist sie nicht tot. Dann besann er sich und sprang über den Zaun, zugleich seine Armbrust spannend und ladend. Vielleicht konnte er mit dem ersten Schuss fehlen. Krazi zerriss das Pfahlwesen, aber langsam…
Mit einem Mal gab es keine Möglichkeit mehr, das Zweisam zu erschießen. Eine Woge von knurrendem Schwarz und Weiß schlug über Krazi und dem Pfahlwesen zusammen. Jedes körperlich taugliche Fragment im Lazarett schien sich in den Angriff zu stürzen. Es war unvermittelte Mordwut, weitaus wilder als alles, wozu ganze Rudel imstande waren. Tschitirattu wich zurück, erstaunt über den Anblick und seinen Gedankenklang.
Sogar der Pilger schien davon erfasst zu sein, das Rudel rannte an Tschitirattu vorüber und umkreiste das Durcheinander. Der Pilger stürzte sich niemals direkt hinein, schnappte aber hier und da zu und schrie Worte, die in dem allgemeinen Aufruhr untergingen.
Eine Fontäne koordinierter Denklaute spritzte aus der Meute hervor, so laut, dass sie Tschitirattu noch auf zwanzig Ellen Entfernung betäubte. Die Meute schien in sich selbst zusammenzufallen, nachdem die Wut aus den meisten Gliedern gewichen war. Was beinahe eine einzige Bestie mit zwei Dutzend Körpern gewesen war, verwandelte sich plötzlich in eine verwirrte und blutige Ansammlung einzelner Glieder.
Der Pilger rannte noch immer am Rand entlang und brachte es irgendwie fertig, bei Verstand zu bleiben. Sein großes, narbenbedecktes Glied tauchte immer wieder in die übrig gebliebende Menge ein und schlug mit den Krallen nach allem, was noch kämpfte.
Die Patienten schleppten sich vom Ort des Gemetzels fort. Manche, die sich als Dreisams hineingestürzt hatten, kamen als Duos oder Solos wieder heraus. Andere schienen zahlreicher als vorher zu sein. Der Boden war blutgetränkt. Mindestens fünf Glieder waren umgekommen. Nahe bei der Mitte lag eine Radprothese verbogen da.
Der Pilger beachtete das alles nicht, seine vier standen rings um und über dem blutigen Häufchen in der Mitte.
Tschitirattu lächelte in sich hinein. Pfahlwesen-Brei. Wie tragisch.
Johanna verlor nie vollends das Bewusstsein, doch der Schmerz und das erdrückende Gewicht von Dutzenden von Körpern ließen keinen Raum fürs Denken. Nun wurde der Druck schwächer. Irgendwo jenseits des Getöses hörte sie Rufe in normaler Klauensprache. Sie schaute auf und sah Pilger rings um sie stehen. Narbenhintern stand breitbeinig über ihr, die Schnauze nur wenige Zentimeter entfernt. Er beugte sich herab und leckte ihr das Gesicht. Johanna lächelte und versuchte zu sprechen.
Feilonius hatte es eingerichtet, bei einer Besprechung mit Scrupilo und Holzschnitzerin zu sein. Gerade eben war der ›Befehlshaber der Kanoniere‹ tief in taktische Fragen versunken und benutzte das Datio, um seinen Plan für den Margrum-Steig zu illustrieren. Wellen von Wutlauten drangen vom Fluss unten herauf.
Scrupilo blickte gereizt vom Rosa Olifanten auf. »Was, zum Teufel…«
Die Geräusche dauerten an, länger als eine gelegentliche Schlägerei. Holzschnitzerin und Feilonius wechselten besorgte Blicke, während sie gleichzeitig die Hälse bogen, um zwischen den Bäumen hindurchzuschauen. »Ein Kampf im Lazarett?«, sagte die Königin.
Feilonius ließ sein Notizbrett fallen und sprang aus der Versammlungsfläche heraus, wobei er den Wachen in der Nähe zurief, sie sollten die Königin beschützen. Während er durch das Lager rannte, sah er, wie sich seine Streifenposten schon um das Lazarett sammelten. Alles schien glatt zu laufen wie ein Programm im Datio… nur, warum so viel Lärm?
Auf den letzten paar hundert Ellen überholte ihn Scrupilo. Der Kanonier rannte ins Lazarett und stolperte über sich selbst, von plötzlichem Entsetzen erfasst. Feilonius stürzte auf die Lichtung hinaus, ganz darauf eingestellt, seine eigene Erschütterung zusammen mit wachsamer Entschlossenheit zu zeigen.
Wanderer Wickwracknarb stand bei dem Essenwagen, Tschitirattu nicht weit hinter ihm. Der Pilger stand über dem Zweibeiner inmitten der Überreste eines Gemetzels. Beim Rudel aller Rudel, was ist geschehen? Es gab viel zu viel Blut. »Jeder zurück außer den Ärzten«, brüllte Feilonius die Soldaten an, die sich am Rande des Lazaretts drängten. Er ging einen Weg entlang, der die am lautesten denkenden Patienten mied. Es gab eine Menge frischer Wunden und hier und da dunkle Blutspritzer an den hellen Baumstämmen. Etwas war schiefgegangen.
Inzwischen war Scrupilo um den Rand des Lazaretts gelaufen und stand nur ein paar Dutzend Ellen von dem Pilger entfernt. Die meisten von ihm starrten auf den Boden unter Wickwracknarb. »Es ist Johanna! Johanna!« Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte der Narr über den Zaun springen.
»Ich glaube, sie ist in Ordnung, Scrupilo«, sagte Wickwracknarb. »Sie war gerade dabei, eins von den Duos zu füttern, und es drehte durch – griff sie an.«
Einer von den Ärzten ließ die Blicke über das Blutbad schweifen. Es lagen drei Leichen am Boden, und die Menge Blut sah nach weiteren aus. »Ich frage mich, womit sie sie provoziert hat.«
»Mit nichts, sage ich dir! Aber als sie fiel, hat sich das halbe Lazarett auf das da gestürzt.« Er deutete mit einer Nase auf die unkenntlichen Überreste.
Feilonius blickte Tschitirattu an und sah gleichzeitig Holzschnitzerin eintreffen. »Was hast du zu sagen, Soldat?«, fragte er. Vermassel es nicht, Tschitirattu.
»Es… es ist genauso, wie der Pilger sagt, mein Fürst. Ich habe nie so etwas gesehen.« Er klang wirklich richtig erstaunt über die ganze Sache.
Feilonius trat ein bisschen näher an den Pilger heran. »Wenn ich sie mir etwas genauer ansehen darf, Pilger?«
Wickwracknarb zögerte. Er hatte an dem Mädchen herumgeschnüffelt, nach Wunden gesucht, die sofort versorgt werden mussten. Dann nickte ihm das Mädchen schwach zu, und er zog sich zurück.
Feilonius kam näher, ganz ernst und besorgt. Innerlich raste er vor Wut. Er hatte niemals von so etwas gehört. Doch selbst wenn ihr das ganze verdammte Lazarett zu Hilfe gekommen war, müsste sie tot sein; das Krazi-Duo hätte ihr im Bruchteil einer Sekunde die Kehle durchbeißen können. Sein Plan war ihm narrensicher erschienen (und selbst jetzt würde der Misserfolg keinen dauerhaften Schaden tun), doch er fing eben erst an zu begreifen, was schiefgegangen war: Tagelang war der Mensch im Kontakt mit diesen Patienten gewesen, sogar mit Krazi. Kein Arztrudel konnte sich ihnen so nähern und sie berühren wie der Zweibeiner. Sogar manche ganzen Rudel spürten die Wirkung, für Fragmente musste sie überwältigend sein. Im Innersten ihrer Seele betrachteten die meisten Patienten die Fremde als einen Teil von sich selbst.
Er musterte den Zweibeiner von drei Seiten, wohl eingedenk, dass die Augen von fünfzig Rudeln jede seiner Bewegungen verfolgten. Sehr wenig von dem Blut stammte von dem Zweibeiner. Die Wunden an ihrem Hals und den Armen waren lang und flach, Spuren zielloser Hiebe. In letzter Minute hatte Krazis Konditionierung vor seiner Beziehung zu dem Menschen als einem Rudelglied versagt. Er erwog kurz, sie unter den ärztlichen Schutz des Sicherheitsdienstes zu stellen. Der Trick hatte bei Schreiber gut funktioniert, hier aber wäre es sehr riskant. Pilger war Nase an Nase bei Johanna gewesen, er würde Behauptungen über ›unerwartete Komplikationen‹ sehr misstrauisch aufnehmen. Nein. Sogar gute Pläne misslingen manchmal. Betrachte es als Lehre für die Zukunft. Er lächelte das Mädchen an und sagte in Samnorsk: »Du bist jetzt völlig sicher«, im Moment und zu meinem größten Bedauern. Der Kopf des Menschen wandte sich zur Seite und blickte in die Richtung von Tschitirattu.
Scrupilo war die ganze Zeit über am Zaun auf und ab gegangen, so nahe bei Tschitirattu und Pilger, dass die beiden zurückweichen mussten. »Das passt mir nicht!«, sagte der Kanonier laut. »Unsere wichtigste Person derart angegriffen. Das riecht nach einer Aktion des Feindes!«
Wickwracknarb starrte ihn erstaunt an. »Aber wie?«
»Ich weiß nicht!«, rief Scrupilo verzweifelt aus. »Aber sie braucht Schutz genauso wie Pflege. Feilonius muss einen Ort finden, wo sie bleiben kann.«
Das Pilgerrudel war von dem Argument offensichtlich beeindruckt – und entmutigt. Er neigte einen Kopf zu Feilonius hin und sagte mit untypischer Ehrerbietung: »Was meint Ihr, Feilonius?«
Natürlich hatte Feilonius den Zweibeiner beobachtet. Es war interessant, wie wenig die Menschen den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit verheimlichen konnten. Johanna hatte Tschitirattu angestarrt, nun schaute sie zu Feilonius auf, und ihre unsteten engstehenden Augen wurden schmal. Feilonius hatte dieses Jahr den menschlichen Gesichtsausdruck systematisch studiert, sowohl an Johanna als auch an den Geschichten im Datio. Sie argwöhnte etwas. Und sie musste auch einen Teil von Scrupilos Worten verstanden haben. Sie bäumte sich auf und hob schwach eine Hand. Zum Glück für Feilonius kam ihr Schrei als Wispern heraus, das sogar er kaum hören konnte: »Nein… nicht wie Schreiber.«
Feilonius war ein Rudel, das an sorgfältige Planung glaubte. Er wusste auch, dass die besten Pläne den Umständen angepasst werden mussten. Er blickte auf Johanna herab und lächelte für die Zuschauer mit der sanftesten Sympathie. Es würde riskant sein, sie wie Schreibers Fragment zu töten, doch er sah nun, dass die anderen Möglichkeiten weitaus gefährlicher waren. Gott sei Dank saß Holzschnitzerin mit ihrem Hinkefuß auf der anderen Seite des Lagers fest. Er nickte Pilger zu und nahm sich zusammen. »Ich fürchte, Scrupilo hat Recht. Ich weiß zwar nicht, wie sie es angestellt haben könnten, aber wir dürfen kein Risiko eingehen. Ich werde Johanna in meinen Bau mitnehmen. Sagt es der Königin.« Er zog Umhänge von seinen Rücken und begann das Mädchen sanft für ihre letzte Reise einzuwickeln. Nur ihre Augen protestierten.
Johanna trieb in die Bewusstlosigkeit und wieder daraus hervor, entsetzt über ihr Unvermögen, ihre Ängste herauszuschreien. Ihre lautesten Rufe waren weniger als Wispern. Ihre Arme und Beine reagierten mit wenig mehr als Zuckungen, und selbst die verloren sich in Feilonius’ Umschnürung. Gehirnerschütterung vielleicht, oder etwas Ähnliches – die Erklärung kam aus einer absurd vernünftigen Ecke ihres Verstandes. Alles erschien ihr so fern, so dunkel…
Johanna erwachte in ihrer Hütte in Holzschnitzerheim. Was für ein schrecklicher Traum! Dass sie so zerschnitten worden sei, außerstande, sich zu bewegen, und dann Feilonius für einen Verräter zu halten. Sie versuchte sich in eine sitzende Haltung aufzurichten, doch nichts regte sich. Die verdammten Laken haben sich ganz um mich herumgewickelt Sie lag eine Sekunde lang still, noch immer schwer von dem Traum desorientiert. »Holzschnitzerin?«, versuchte sie zu sagen, doch nur ein leises Stöhnen kam heraus. Ein Glied bewegte sich sacht um die Feuergrube. Der Raum war nur schwach beleuchtet, und etwas stimmte nicht damit. Es gab einen Augenblick verwunderter Mattigkeit, als sie versuchte, die Anordnung der dunklen Wände zu begreifen. Komisch. Die Decke war schrecklich niedrig. Alles roch nach rohem Fleisch. Die Seite ihres Gesichts tat weh, und sie schmeckte Blut auf den Lippen. Sie war nicht in Holzschnitzerheim, und dieser fürchterliche Traum war…
Drei Köpfe eines Klauenwesens schoben sich als Silhouetten ins Blickfeld. Einer kam näher, und im trüben Licht erkannte sie das Muster von Weiß und Schwarz auf seinem Gesicht. Feilonius.
»Gut«, sagte er. »Du bist wach.«
»Wo bin ich?« Die Worte kamen verzerrt und schwach heraus. Das Entsetzen war wieder da.
»Die verlassene Bauernhütte am Ostende des Lagers. Ich habe sie übernommen. Als Sicherheitsbau, weißt du.« Sein Samnorsk war ruhig und geläufig, gesprochen in einer der typischen Datio-Stimmen. Eines von seinen Mäulern hielt einen Dolch, die Klinge ein Schimmer im Dämmerlicht.
Johanna wand sich in den fest verschnürten Umhängen und schrie fast lautlos. Etwas stimmte nicht mit ihr, es war, als schriee sie ohne Luft in den Lungen.
Eins von Feilonius schritt das Obergeschoss der Hütte ab. Tageslicht glitt über seine Schnauze, als es erst durch einen, dann durch den anderen von den schmalen Schlitzen spähte, die in die Bretter geschnitten waren. »Ah, es ist gut, dass du dich nicht verstellst. Ich habe gesehen, dass du etwas ahnst von meinem… zweiten Beruf. Meinem Steckenpferd. Aber Schreien – sogar laut – würde dir nichts nützen. Wir haben nur wenig Zeit für eine Plauderei. Ich bin sicher, dass die Königin bald zu Besuch kommt…, und ich werde dich töten, kurz bevor sie eintrifft. Wie traurig. Deine verborgenen Wunden haben sich leider als schwer erwiesen…«
Johanna war sich nicht sicher, ob sie alles verstand, was er sagte. Ihre Sicht verschwamm jedesmal, wenn sie den Kopf bewegte. Selbst jetzt konnte sie sich nicht der Einzelheiten entsinnen, was im Lazarett geschehen war. Irgendwie war Feilonius tatsächlich ein Verräter, aber wie… Die Erinnerungen schlängelten sich durch den Schmerz. »Du hast Schreiber ermordet, nicht wahr? Warum?« Ihre Stimme war lauter als zuvor, und sie verschluckte sich an Blut, das ihr in die Kehle rann.
Sanftes, menschliches Lachen ertönte rings um sie. »Er hat die Wahrheit über mich herausgefunden. Welche Ironie, dass so ein Nichtskönner der Einzige war, der mich durchschaute… Oder meinst du den höheren Grund?« Die drei nahen Schnauzen kamen noch näher, und die Klinge in einer davon berührte Johannas Wange. »Armer Zweibeiner, ich bin nicht sicher, ob du es jemals verstehen könntest. Manches davon vielleicht, den Willen zur Macht. Ich habe gelesen, was das Datio über menschliche Motive zu sagen hat, das ›freudianische‹ Zeug. Wir Klauenwesen sind viel komplizierter. Ich bin durch und durch männlich, hast du das gewusst? Eine gefährliche Sache, ganz von einem Geschlecht zu sein. Wahnsinn lauert da. Doch es war mein Entschluss. Ich hatte es satt, weiter nichts als ein guter Erfinder zu sein, in Holzschnitzerins Schatten zu leben. So viele von uns sind ihre Abkömmlinge, und sie dominiert die meisten von uns. Sie war ziemlich froh, dass ich mich der Sicherheit zuwandte, weißt du. Sie hat nicht die rechte Kombination von Gliedern dafür. Sie dachte, bis auf ein Glied männlich zu sein, würde mich auf kontrollierbare Weise abartig machen.«
Sein Wachglied machte eine weitere Runde an den Fensterschlitzen. Wieder erklang ein menschliches Kichern. »Ich habe lange Zeit Pläne geschmiedet. Es ist nicht bloß Holzschnitzerin, gegen die ich antrete. Der Machtaspekt ihrer Seele ist über die ganze arktische Küste verstreut; Flenser war mir fast um ein Jahrhundert voraus, Stahl ist neu, doch er besitzt das Reich, das Flenser aufgebaut hat. Ich habe mich für sie alle unersetzlich gemacht: Ich bin Holzschnitzerins Sicherheitschef… und Stahls wertvollster Spion. Wenn ich richtig spiele, habe ich am Ende das Datio, und alle anderen sind tot.«
Seine Klinge stieß wieder leicht gegen ihr Gesicht. »Glaubst du, du kannst mir helfen?« Augen blickten tief in ihr Entsetzen. »Daran zweifle ich stark. Wenn mein eigentlicher Plan gelungen wäre, wärst du inzwischen hübsch tot.« Ein Seufzen schwebte durch den Raum. »Aber er ist misslungen, und ich habe es selbst am Halse, dich zu zerschnitzen. Vielleicht wird es so am besten sein. Das Datio bringt eine Flut von Information über die meisten Dinge, aber es gibt kaum zu, dass so etwas wie Folter existiert. In mancher Beziehung wirkt eure Rasse so verletzlich, so leicht zu töten. Ihr sterbt, ehe euer Verstand zergliedert werden kann. Dennoch weiß ich, dass ihr Schmerz und Schrecken fühlen könnt; der Trick besteht darin, Gewalt anzuwenden, ohne gleich zu töten.«
Die drei nahen Glieder glitten in bequemere Haltungen, wie ein Mensch, der sich zu einem ernsten Gespräch hinsetzt. »Und es gibt wirklich ein paar Fragen, die du vielleicht beantworten kannst, Dinge, nach denen ich vorher nicht fragen konnte. Stahl ist sehr zuversichtlich, weißt du, und nicht nur, weil er mich bei Holzschnitzerin hat. Dieses Rudel hat einen anderen Vorteil. Ob er vielleicht sein eigenes Datio besitzt?«
Feilonius machte eine Pause. Johanna antwortete nicht; sie schwieg gleichermaßen vor Grauen und Halsstarrigkeit. Das war das Ungeheuer, das Schreiber ermordet hatte.
Die Schnauze mit dem Messer schob sich zwischen die Laken und Johannas Haut, und Schmerz schoss an Johannas Arm hoch. Sie schrie. »Ah, das Datio hat gesagt, dass man einem Menschen dort weh tun kann. Du brauchst diese Frage nicht zu beantworten, Johanna. Weißt du, was ich glaube, worin Stahls Geheimnis besteht? Ich denke, dass einer von eurer Familie überlebt hat – wahrscheinlich dein kleiner Bruder, wenn man berücksichtigt, was du uns über das Massaker erzählt hast.«
Jefri? Am Leben? Für einen Moment vergaß sie den Schmerz, vergaß fast die Angst. »Wie…?«
Feilonius zuckte nach Art der Klauenwesen mit den Schultern. »Du hast ihn nie tot gesehen. Du kannst sicher sein, dass Stahl einen lebenden Zweibeiner haben wollte, und nach allem, was ich über den Kälteschlaf in Datio gelesen habe, bezweifle ich, dass er einen von den anderen wiederbelebt haben kann. Und etwas hat er bei sich da oben. Er war scharf auf Informationen von dem Datio, aber er hat nie verlangt, dass ich das Gerät für ihn stehle.«
Johanna schloss die Augen, als könnte sie die Existenz des verräterischen Rudels leugnen. Jefri lebt! Erinnerungen tauchten vor ihr auf: Jefris verspielte Freude, seine kindlichen Tränen, seine vertrauensvolle Tapferkeit an Bord des fliehenden Schiffs – Dinge, die sie für immer verloren geglaubt hatte. Einen Augenblick lang erschienen sie ihr wirklicher als die schneidende Gewalt der letzten Minuten. Doch was konnte Jefri tun, um den Flenseristen zu helfen? Die anderen Datios waren mit Sicherheit verbrannt. Da steckt noch mehr dahinter, etwas, das Feilonius noch nicht weiß.
Feilonius packte ihr Kinn und verpasste ihrem Kopf einen kurzen Ruck. »Mach die Augen auf, ich habe gelernt, darin zu lesen, und ich will sehen… Hmm, ich weiß nicht, ob du mir glaubst oder nicht. Egal. Wenn wir Zeit haben, werde ich herausfinden, was er für Stahl getan haben könnte. Es gibt andere, dringendere Fragen. Das Datio ist offensichtlich der Schlüssel zu allem. In weniger als einem halben Jahr haben ich und Holzschnitzerin und Pilger eine Unmenge über eure Rasse und Zivilisation gelernt. Ich wage zu sagen, wir kennen eure Leute besser als ihr selbst. Wenn all die Gewalt vorüber ist, wird derjenige Sieger sein, der das Datio noch unter Kontrolle hat. Ich habe vor, dieses Rudel zu sein. Und ich habe mich oft gefragt, ob es andere Passwörter gibt, oder Programme, die ich laufen lassen kann, damit sie direkt über meine Sicherheit wachen…«
Der Babysitter-Code.
Die Köpfe, die sie beobachteten, wippten im Gegenstück eines Grinsens. »Aha, es gibt also so etwas! Vielleicht war das Pech von heute Morgen doch das Beste, was passieren konnte. Sonst hätte ich womöglich nie erfahren…« Seine Stimme brach mit einer Dissonanz ab. Zwei von Feilonius sprangen zu dem einen hoch, der schon an den Fensterschlitzen stand. An ihrem Ohr fuhr die Stimme leise fort: »Es ist der Pilger, noch weit weg, aber er kommt näher… Ich weiß nicht. Es wäre viel sicherer, wenn du tot wärst. Eine tiefe Wunde, ganz außer Sicht.« Das Messer glitt tiefer. Johanna bäumte sich vergeblich von der Spitze weg. Dann wurde die Klinge zurückgezogen, die Spitze sanft gegen ihre Haut gedrückt. »Wir wollen hören, was Pilger zu sagen hat. Es hat keinen Sinn, dich jetzt gleich zu töten, wenn er nicht darauf besteht, dich zu sehen.« Er steckte ihr ein Stück Stoff in den Mund und band es fest.
Es folgte für einen Augenblick Stille, unterbrochen vielleicht durch das Knistern von Pfoten im Unterholz unmittelbar an der Hütte. Dann hörte sie ein Rudel laut von jenseits der Holzwände trällern. Johanna zweifelte, ob sie jemals lernen würde, Rudel an der Stimme zu erkennen, aber… ihr Verstand stolperte durch die Klänge, versuchte, die Akkorde der Klauenwesen zu entziffern, die aufeinandergestapelte Wörter waren:
»Johanna
unverständlich Frage
knirsch sicher.«
Feilonius kollerte zurück:
»Gruß Wanderer Wickwracknarb
Johanna triller
keine sichtbaren Verletzungen
traurig ungewiss quiek.«
Und der Verräter flüsterte ihr ins Ohr: »Jetzt wird er fragen, ob ich ärztliche Hilfe brauche, und wenn er darauf besteht…, wird unsere Plauderei schnell zu Ende sein.«
Doch Pilgers einzige Antwort war ein Chor von mitfühlender Besorgnis. »Die verdammten Arschlöcher setzen sich einfach draußen hin«, wisperte Feilonius irritiert.
Das Schweigen zog sich einen Moment lang hin, und dann sagte Wanderers menschliche Stimme, der Hofnarr aus dem Datio, in deutlichem Samnorsk: »Mach keine Dummheiten, Feilonius, alter Junge.«
Feilonius stieß einen Laut höflicher Verwunderung aus – und drängte sich enger um sie. Sein Messer grub sich einen Zentimeter tief zwischen Johannas Rippen, ein schmerzender Dorn. Sie fühlte, wie die Klinge zitterte, spürte den Atem seines Glieds auf ihrer blutigen Haut.
Pilgers Stimme fuhr fort, selbstsicher und wissend: »Ich meine, wir wissen, was du vorhast. Dein Rudel beim Lazarett ist völlig zerbrochen, hat das bisschen, was er wusste, Holzschnitzerin gestanden. Glaubst du, dass du bei ihr mit deinen Lügen durchkommst?
Wenn Johanna tot ist, bleiben von dir nur blutige Fetzen übrig.« Er summte eine verhängnisvolle Melodie aus dem Datio. »Ich kenne sie gut, die Königin. Sie scheint so ein gütiges Rudel zu sein – aber was meinst du, woher Flenser seine grässliche Schöpferkraft hatte? Töte Johanna, und du wirst herausfinden, um wie viel ihr Genie in diesen Dingen das Flensers übertrifft.«
Das Messer wurde zurückgezogen. Noch einer von Feilonius sprang an die Fensterschlitze, und die beiden bei Johanna lockerten ihren Griff. Er strich mit der Klinge sanft über ihre Haut. Überlegte er? Ist Holzschnitzerin wirklich so furchteinflößend? Die vier an den Fenstern schauten in alle Richtungen, zweifellos zählte Feilonius die Wachrudel und schmiedete fieberhaft Pläne. Als er schließlich antwortete, sprach er Samnorsk: »Die Drohung wäre glaubhafter, wenn sie nicht aus zweiter Hand käme.«
Pilger kicherte. »Stimmt. Aber wir haben uns denken können, was geschehen wäre, wenn sie sich genähert hätte. Du bist ein vorsichtiger Kerl, du hättest Johanna augenblicklich umgebracht und einen Berg von Lügen aufgetischt, ehe du überhaupt gehört hättest, was die Königin weiß. Aber einen armen Pilger vorbeischlendern zu sehen… Ich weiß, dass du mich für einen Dummkopf hältst, nicht viel besser als Schreiber Yaqueramaphan.« Wanderer stolperte über den Namen und verlor für einen Moment seinen schnoddrigen Ton. »Jedenfalls kennst du jetzt die Lage. Wenn du daran zweifelst, dann schicke deine Wachen hinter das Unterholz und sieh dir an, was die Königin dort rings um dich postiert hat. Johannas Tod bedeutet nur deinen. Apropos, ich nehme an, dass dieses Gespräch noch Zweck hat?«
»Ja. Sie lebt.« Feilonius nahm den Knebel aus Johannas Mund. Sie drehte den Kopf, einen Kloß im Halse. Tränen rannen ihr übers Gesicht. »Pilger, o Pilger!« Die Worte waren kaum mehr als ein Wispern. Sie holte schmerzhaft Atem und konzentrierte sich darauf, laut zu sein. Helle Flecke tanzten ihr vor den Augen. »He, Pilger!«
»He, Johanna. Hat er dich verletzt?«
»Etwas, ich…«
»Das reicht. Sie lebt, Pilger, aber das lässt sich leicht ändern.« Feilonius stopfte ihr den Knebel nicht wieder in den Mund. Johanna sah, wie er nervös die Köpfe aneinander rieb, während er immerzu am Fenstersims entlanglief. Er trillerte etwas von ›Pattsituation‹.
Wanderer erwiderte: »Sprich Samnorsk, Feilonius. Ich möchte, dass Johanna dich versteht – und du kannst ziemlich genauso glatt reden wie in Rudelsprache.«
»Wie dem auch sei.« Die Stimme des Verräters klang gleichmütig, aber seine Glieder liefen weiter nervös auf und ab. »Die Königin muss begreifen, dass wir hier Gleichstand haben. Gewiss werde ich Johanna töten, wenn ich nicht ordentlich behandelt werde. Doch selbst dann könnte es sich Holzschnitzerin nicht leisten, mich zu verletzen. Ist dir klar, welche Falle Stahl am Margrum-Steig aufgestellt hat? Ich bin der Einzige, der weiß, wie man sie vermeiden kann.«
»Große Sache. Ich hatte ohnehin nie vor, den Margrum-Steig hinaufzugehen.«
»Ja, aber du zählst nicht, Pilger. Du bist eine zusammengeflickte Promenadenmischung. Holzschnitzerin wird verstehen, wie gefährlich diese Situation ist. Stahls Streitkräfte sind all das, was ich geleugnet habe, und ich habe ihnen jedes Geheimnis geschickt, das ich von meinen eigenen Untersuchungen am Datio aufschreiben konnte.«
»Mein Bruder lebt, Pilger«, sagte Johanna.
»Oh… Du bist eine Art Rekordhalter für Verrat, nicht wahr, Feilonius? Alles, was du uns gesagt hast, war Lüge, während Stahl die ganze Wahrheit über uns erfahren hat. Du denkst, das bedeutet, dass wir dich nicht zu töten wagen?«
Gelächter, und Feilonius hörte auf, hin und her zu gehen. Er sieht, wie er die Dinge wieder in den Griff bekommt. »Mehr als das, ihr braucht meine Kooperation mit allen Gliedern. Gut, ich habe die Anzahl feindlicher Agenten in Holzschnitzerins Truppen übertrieben, aber ein paar habe ich wirklich – und vielleicht hat Stahl andere eingeschleust, von denen ich nichts weiß. Wenn ihr mich jemals festnehmt, werden die Flenser-Armeen davon erfahren. Vieles von dem, was ich weiß, wird nutzlos sein – und ihr werdet euch einem unverzüglichen, überwältigenden Angriff ausgesetzt sehen. Du verstehst? Die Königin braucht mich.«
»Und woher sollen wir wissen, dass das nicht wieder Lügen sind?«
»Das ist ein Problem, nicht wahr? Nur zu vergleichen mit dem, wie meine Sicherheit gewährleistet werden kann, wenn ich erst einmal den Feldzug gerettet habe. Das geht zweifellos über deinen Mischlingsverstand. Holzschnitzerin und ich müssen miteinander sprechen, wechselseitig sicher und ungesehen. Bring ihr diese Botschaft. Sie kann die Hintern dieses Verräters nicht kriegen, aber wenn sie zur Zusammenarbeit bereit ist, kann sie ihre eigenen retten!«
Draußen war Stille, unterstrichen vom Quietschen von Tieren in den nahen Bäumen. Schließlich lachte Pilger überraschend auf. »Mischlingsverstand, hm? Gut, in einem Punkt hast du mich erwischt, Feilonius. Ich bin überall auf der Welt herumgekommen, und meine Erinnerungen reichen ein halbes Jahrtausend zurück – aber von allen Schurken und Verrätern und Genies bist du der Gipfel an blanker Unverschämtheit!«
Feilonius stieß einen Akkord in der Klauensprache aus, unübersetzbar, aber ein Zeichen behaglichen Vergnügens. »Es ist mir eine Ehre.«
»Also gut, ich werde deine Argumente der Königin überbringen. Ich hoffe, dass ihr beide schlau genug seid, um euch zu einigen… Noch etwas: Die Königin verlangt, dass Johanna mit mir kommt.«
»Die Königin verlangt? Das klingt mir eher nach deinen Mischlingsgefühlen.«
»Kann sein. Aber es wird beweisen, dass du es ernst meinst mit deinem Vertrauen. Betrachte es als meinen Preis für Zusammenarbeit.«
Feilonius wandte sämtliche Köpfe Johanna zu und überlegte schweigend. Dann spähte er ein letztes Mal durch alle Fenster hinaus. »Also gut, du kannst sie haben.« Zwei sprangen zur Eingangsluke der Hütte hinab, während ein weiteres Paar sie dorthin zog. Seine Stimme war sanft und nahe an ihrem Ohr. »Der verdammte Pilger. Lebendig wirst du mir Scherereien mit der Königin bereiten.« Sein Messer fuhr durch ihr Gesichtsfeld. »Stell dich mir bei ihr nicht entgegen. Ich werde diese Angelegenheit überleben und immer noch mächtig sein.«
Er hob die Tür hoch, und Tageslicht strömte ihr blendend übers Gesicht. Sie blinzelte; da waren ein Büschel Zweige und die Wand der Hütte. Feilonius schob und zog ihre Trage auf den Waldboden und kollerte gleichzeitig seinen Wachen zu, sie sollten auf ihren Posten bleiben. Er und Wanderer plauderten höflich miteinander und vereinbarten, wann der Pilger wiederkommen würde.
Einer nach dem anderen trottete Feilonius zurück durch die Luke in die Hütte. Pilger kam näher und packte die Griffe vorn an der Trage. Einer von seinen Welpen langte aus der Jackentasche, um an ihrem Gesicht zu schnüffeln. »Bist du in Ordnung?«
»Ich bin nicht sicher. Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen… und irgendwie scheint das Atmen schwer zu fallen.«
Er lockerte die Laken um ihre Brust, während seine übrigen die Trage von der Hütte fortzogen. Das Halbdunkel des Waldes war friedlich und tief, und… Feilonius’ Wachen standen da und dort im Gelände. Wie viele von ihnen waren in den Verrat eingeweiht? Vor zwei Stunden hatte Johanna sie in der Hoffnung auf Schutz angeschaut. Nun ließ jeder Blick von ihnen sie erschaudern. Sie wälzte sich zurück in die Mitte der Trage, wieder benommen, und starrte hinauf in die Zweige und Blätter und Flecken rauchgetrübten Himmels. Wesen wie die Baumschnörkelchen auf Straum jagten einander hin und her und schnatterten, als stritten sie über etwas.
Komisch. Es ist fast ein Jahr her, dass Pilger und Schreiber mich herumgeschleppt haben, und ich war noch schlimmer verletzt und hatte vor allem Angst – auch vor ihnen. Und jetzt… Nie war sie so froh gewesen, jemand anders zu sehen. Sogar Narbenhintern bedeutete nun eine Sicherheit verleihende Kraft an ihre Seite.
Die Wellen des Entsetzens ebbten langsam ab. Was übrig blieb, war ein Zorn, ebenso intensiv wie im Jahr zuvor, wenn auch vernünftiger. Sie wusste, was hier geschehen war, die Spieler waren keine Fremden, der Verrat kein blindwütiges Morden. Nach all der Verräterei von Feilonius, nach all seinen Mordtaten und seinen Plänen, sie alle umzubringen…, sollte er frei ausgehen! Pilger und Holzschnitzerin würden sich das einfach noch einmal überlegen müssen. »Er hat Schreiber getötet, Pilger. Er hat Schreiber getötet…« Er hat Schreiber in Stücke geschnitten, dann Jagd auf das gemacht, was übrig war, und es mitten aus unseren Armen heraus ermordet. »Und Holzschnitzerin will ihn frei ausgehen lassen? Wie kann sie das tun? Wie kannst du das tun?« Die Tränen kamen ihr wieder.
»Psst, psst.« Zwei von Pilgers Köpfen kamen in Sicht. Sie blickten auf sie herab und drehten sich dann fast nervös hin und her. Sie streckte eine Hand aus und berührte das kurze flauschige Fell. Pilger zitterte! Eins von ihm kam nahe herunter, seine Stimme klang überhaupt nicht munter. »Ich weiß nicht, was die Königin tun wird, Johanna. Sie weiß von alledem nichts.«
»Wa…«
»Psst.« Und seine Stimme war kaum noch mehr als ein Surren durch ihre Hand. »Seine Leute können uns noch sehen. Er könnte es immer noch durchschauen… Nur wir beide wissen es, Johanna. Ich glaube nicht, dass jemand anders etwas ahnt.«
»Aber das Rudel, das gestanden hat?«
»Bluff, alles Bluff. Ich habe in meinem Leben ein paar verrückte Sachen gemacht, aber abgesehen davon, dass ich Schreiber hinab zu deinem Sternenschiff gefolgt bin, schießt das den Vogel ab… Nachdem Feilonius dich mitgenommen hatte, begann ich nachzudenken. Du warst nicht so schwer verletzt. Es ähnelte alles zu sehr dem, was Yaqueramaphan widerfahren war, aber ich hatte keinen Beweis.«
»Und du hast es niemandem gesagt?«
»Nein. Ich bin genauso ein Narr wie der arme Schreiber, nicht wahr?« Seine Köpfe schauten in alle Richtungen. »Wenn ich Recht hatte, wäre er töricht, dich nicht sofort zu töten. Ich hatte solche Angst, ich würde schon zu spät kommen…«
Das wärst du, wenn Feilonius nicht eben das Ungeheuer wäre, als das ich ihn kennen gelernt habe.
»Jedenfalls habe ich die Wahrheit ebenso wie der arme Schreiber erfahren – fast zufällig. Aber wenn wir noch siebzig Meter weiter wegkommen können, werden wir nicht so wie er sterben. Und alles, was ich Feilonius gegenüber behauptet habe, wird wahr sein.«
Sie tätschelte seine nächste Schulter und blickte zurück. Die winzige Hütte und ihr Ring von Wachposten verschwanden hinter dem Unterholz des Waldes.
… und Jefri lebt!
CRYPTO: 0
[95 verschlüsselte Pakete wurden übergangen]
EMPFANGEN VON: Ølvira ad hoc
SPRACHPFAD: Tredeschk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Zonograph Eidolon
[Genossenschaft (oder religiöser Orden) im Mittleren Jenseits, unterhalten von Beiträgen etlicher tausend Zivilisationen im Unteren Jenseits, vor allem solchen, die von Überflutung bedroht sind]
GEGENSTAND: aktualisiertes Flutbulletin und Rufzeichen
VERTEILER:
Abonnenten von Zonograph Eidolon
Interessengruppe Zonometrie
Interessengruppe Bedrohungen, Untergruppe Schifffahrt
Rufzeichen-Teilnehmer
DATUM: 1087892301 Sekunden seit Eichereignis 239.011, Eidolon-Zählung
[66,91 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei]
SCHLAGWÖRTER: Ereignis galaktischen Maßstabes, superluminal, großzügige Notdurchsage
TEXT DER BOTSCHAFT:
(Bitte in allen Antwort-Rufzeichen genaue Ortszeit angeben) Wenn ihr dies empfangt, wisst ihr, dass sich die ungeheuerliche Flutwelle zurückgezogen hat. Die neue Zonenoberfläche scheint ein stabiler Schaum von niedriger Dimensionalität (zwischen 2,1 und 2,3) zu sein. Mindestens fünf Zivilisationen sind in der neuen Anordnung gefangen. Dreißig jungfräuliche Sonnensysteme haben das Jenseits erreicht. (Abonnenten finden die Spezifikationen in den verschlüsselten Daten, die diesem Bulletin folgen.)
Die Veränderung entspricht dem, was normalerweise binnen zweier Jahre über die ganze Oberfläche der galaktischen Langsamen Zone hinweg zu beobachten ist. Diese Flutwelle hat sich jedoch in weniger als zweihundert Stunden und auf weniger als einem Tausendstel dieser Oberfläche ereignet.
Selbst diese Zahlen machen den Maßstab des Ereignisses nicht deutlich. (Das Folgende können nur Schätzungen sein, da so viele Messstellen zerstört wurden und kein Instrument auf Ereignisse dieser Größenordnung geeicht war.) Auf ihrem Höhepunkt reichte die Flutwelle 1000 Lichtjahre über die Normale Zonenoberfläche. Flutgeschwindigkeiten von mehr als dreißigmillionenfacher Lichtgeschwindigkeit [etwa ein Lichtjahr pro Sekunde] wurden über Zeiträume von mehr als hundert Sekunden beibehalten. Berichte von Abonnenten zeigen mehr als zehn Milliarden Todesfälle von Intelligenzwesen, die unmittelbar der Flutwelle zugeschrieben werden können (örtliche Netzausfälle, von Ausfällen verursachte Zusammenbrüche der Umwelt, medizinische Ausfälle, Fahrzeugunfälle, Sicherheitsversagen). Der bekanntgewordene wirtschaftliche Schaden ist weitaus größer.
Eine wesentliche Frage ist nun, was an Nachbeben zu erwarten ist. Unsere Vorhersagen beruhen auf Messstellen und zonometrischen Erkundungen, kombiniert mit historischen Daten aus unseren Archiven. Abgesehen von Langzeittrends ist die Vorhersage niemals eine exakte Wissenschaft gewesen, doch wir haben unsere Abonnenten mit Ankündigungen von Nachbeben und Hinweisen auf verfügbare neue Welten versorgt. Leider macht die gegenwärtige Lage die gesamte vorhergehende Arbeit fast nutzlos. Wir haben präzise Aufzeichnungen, die zehn Millionen Jahre zurückreichen. Flutwellen mit Überlichtgeschwindigkeit sind etwa alle zwanzigtausend Jahre aufgetreten (für gewöhnlich mit Geschwindigkeiten unter 7,0 c). Nichts mit diesem Ungeheuer Vergleichbares ist dokumentiert. Die Flutwelle, deren Zeugen wir soeben geworden sind, ist von der Art, wie sie aus dritter Hand in alten und aufgeschwemmten Datenbanken beschrieben wird: Sculptor hatte eine von dieser Größe vor fünfzig Millionen Jahren. Der [Perseus-Arm] unserer Galaxis hat etwas Ähnliches vor einer halben Milliarde Jahre durchgemacht.
Diese Ungewissheit macht unsere Mission fast unmöglich und ist ein wichtiger Grund für diese öffentliche Botschaft an die Nachrichtengruppe Zonometrie und andere: Alle, die an Zonometrie und Schifffahrt interessiert sind, müssen ihre Ressourcen für dieses Problem vereinigen. Ideen, Archivzugang, Algorithmen – all das kann von Nutzen sein. Wir versprechen Nichtabonnenten wesentliche Beiträge und einen Austausch eins zu eins mit allen, die über wichtige Informationen verfügen. Anmerkung: Wir richten diese Botschaft auch an das Swndwp-Orakel und strahlen sie gerichtet an Punkte im Transzens, die als bewohnt gelten. Ein Ereignis wie dieses muss doch gewiss auch dort von Interesse sein? Wir appellieren an die MÄCHTE ÜBER UNS: Lasst uns euch senden, was wir wissen. Gebt uns einen Hinweis, wenn ihr Vorstellungen von diesem Ereignis habt.
Um unseren guten Glauben zu beweisen, folgen jetzt die Schätzungen, über die wir gegenwärtig verfügen. Sie beruhen auf einfachen Extrapolationen wohldokumentierter Flutwellen in dieser Region. Einzelheiten finden sich im unverschlüsselten Anhang zu dieser Sendung. Das nächste Jahr über wird es fünf oder sechs Nachbeben von abnehmender Geschwindigkeit und Ausbreitung geben. In dieser Zeit werden wahrscheinlich zwei weitere Zivilisationen (siehe Risikotabelle) auf Dauer überflutet werden. Die Bedingungen eines Zonensturms werden sogar dann vorherrschen, wenn keine Nachbeben im Gange sind. Schifffahrt im Raumgebiet [folgen Koordinaten] wird während dieses Zeitraums äußerst gefährlich sein; wir empfehlen, den Schiffsverkehr für diese Zeit einzustellen. Die Zeit reicht vermutlich nicht aus, um machbare Rettungspläne für die bedrohten Zivilisationen zu erlauben. Unsere langfristige Vorhersage (wahrscheinlich die am wenigsten mit Unsicherheit behaftete): Die Schrumpfrate pro Jahrhundert wird für den Maßstab von einer Million Jahre überhaupt nicht berührt. Die nächsten hunderttausend Jahre werden jedoch eine Verzögerung beim Rückweichen der Zonengrenze in diesem Teil der Galaxis erkennen lassen.
Schließlich eine philosophische Anmerkung. Wir von Zonograph Eidolon beobachten die Zonengrenze und die Umlaufbahnen von Grenzsternen. Größtenteils erfolgen die Veränderungen der Zone sehr langsam: 700 Meter pro Sekunde im Falle der Jahrhundert-Langzeitrate. Dennoch betreffen diese Veränderungen zusammen mit der Umlaufbewegung jährlich Milliarden von Leben. Ebenso, wie die Gletscher und Dürrezeiten einer prätechnischen Welt ein Volk beeinflussen, müssen wir diese langfristigen Veränderungen hinnehmen. Stürme und Flutwellen sind zweifellos Tragödien, der fast augenblickliche Tod für manche Zivilisationen. Dennoch sind sie, wie die langsameren Bewegungen, weit jenseits unserer Kontrolle. In den letzten paar Wochen waren einige Nachrichtengruppen voller Geschichten von Krieg und Schlachtflotten, von Milliarden Todesopfern beim Zusammenprall von Arten. All jenen – und denen, die friedlicher rings um sie leben – sagen wir: Schaut auf das Universum. Ihm ist es gleich, und selbst bei all unserer Wissenschaft gibt es manche Katastrophen, die wir nicht verhindern können. Alles Böse und Gute ist ein Nichts vor der Natur. Wir für unsere Person finden Trost darin, dass es ein Universum gibt, das nicht zu Bosheit oder Güte verbogen werden kann, sondern einfach da ist.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: Ølvira ad hoc
SPRACHPFAD: Arbwyth -› Handel 24 -› Cherguelen -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Quirlipp von den Nebeln
[Wer weiß wer, wahrscheinlich aber keine Propagandastimme. Vorher sehr selten aufgetaucht.]
GEGENSTAND: Die Ursache der jüngsten Großen Flutwelle
VERTEILER:
Pestgefahr
Große Geheimnisse der Schöpfung
Interessengruppe Zonometrie
DATUM: 66,47 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Zoneninstabilität und die PEST, Hexapodie als Schlüsselerkenntnis
TEXT DER BOTSCHAFT:
Entschuldigt, wenn ich allgemein bekannte Schlussfolgerungen wiederhole. Mein einziger Zugang zum Netz ist sehr teuer, und ich verpasse viele wichtige Sendungen. Die Große Flutwelle, die jetzt im Vordringen ist, scheint allen Mitteilungen nach ein Ereignis von kosmischer Dimension und Seltenheit zu sein. Des Weiteren lokalisieren die anderen Teilnehmer ihr Epizentrum weniger als 6000 Lichtjahre vom jüngsten Kriegsgeschehen im Zusammenhang mit der PEST entfernt. Kann das ein rein zufälliges Zusammentreffen sein? Wie seit langem erwogen wird [Zitate aus verschiedenen Quellen, drei davon der Ølvira unbekannt; die zitierten Theorien sind seit langem im Umlauf und nicht falsifizierbar], sind vielleicht die Zonen selbst ein künstliches Gebilde, vielleicht von jemandem jenseits der Tranzendenz geschaffen, um niedere Formen oder [hypothetische] intelligente Gaswolken in Galaxiskernen zu schützen.
Wir haben jetzt zum ersten Mal in der Geschichte des Netzes eine Transzendente Form, die PEST, die das Jenseits wirksam beherrschen kann. Viele im Netz [zitiert Hanse und Sandor beim Zoo] glauben, dass die PEST ein Artefakt nahe am Grunde sucht. Ist es kein Wunder, dass dies das Natürliche Gleichgewicht stören und das jüngste Ereignis hervorrufen sollte?
Bitte schreibt mir und sagt mir, was ihr denkt. Ich kriege nicht viel Post.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: Ølvira ad hoc
SPRACHPFAD: Baeloresk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Allianz für die Verteidigung
[Angeblich Union von fünf Imperien unterhalb des Straumli-Bereichs. Vor dem Untergang des Straumli-Bereichs nicht verzeichnet. Zahlreiche Gegenbehauptungen (u.a. von der Aus der Reihe II), dass hinter dieser Allianz die alte Aprahant-Hegemonie steckt. Siehe Schmetterlings-Schrecken.]
GEGENSTAND: Kühne Mission vollendet
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 67,07 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Handeln, nicht reden
TEXT DER BOTSCHAFT.
Im Anschluss an unsere Aktion gegen das Menschennest bei [Sjandra Kei] hat ein Teil unserer Flotte Menschen und andere von der PEST kontrollierte Streitkräfte zum Boden des Jenseits verfolgt. Augenscheinlich hat die PEST gehofft, diese Kräfte schützen zu können, indem sie sie in einer Umgebung platzierte, die zu gefährlich für eine Herausforderung wäre. Diese Denkweise hat nicht mit der Tapferkeit der Kommandeure und Mannschaften unserer Allianz gerechnet. Wir können jetzt mitteilen, dass wir diese fliehenden Streitkräfte im Wesentlichen vernichtet haben.
Die erste große Operation unserer Allianz ist ein enormer Erfolg gewesen. Mit der Ausmerzung ihrer wichtigsten Verbündeten ist der Vormarsch der PEST auf das Mittlere Jenseits gestoppt worden. Doch viel bleibt noch zu tun:
Die Flotte der Allianz kehrt ins Mittlere Jenseits zurück. Wir haben einige Schäden erlitten und brauchen eine grundlegende Versorgung mit neuen Vorräten. Wir wissen, dass es noch verstreute Nester der Menschheit im Jenseits gibt, und wir haben Rassen zweiter Ordnung identifiziert, die die Menschheit unterstützen. Die Verteidigung des Mittleren Jenseits muss das Ziel eines jeden Intelligenzwesens sein, das guten Willens ist. Einheiten eurer Allianzflotte werden bald Systeme im Raumgebiet [folgen Koordinaten] besuchen. Wir bitten um eure Hilfe und Unterstützung gegen die Überreste des schrecklichen Feindes.
Tod dem Ungeziefer.