SECHSUNDZWANZIG

 

Und schließlich, als sie fast fünf Monate unterwegs waren, wurde klar, dass sie ohne Reparatur der Antriebsdorne nicht weiterfliegen konnten. Die ADR machte plötzlich nur noch ein Viertellichtjahr pro Stunde, und das in einem Raumgebiet, wo die Bedingungen gut zwei Lichtjahre erlaubt hätten. Und es wurde schlimmer. Sie würden es ohne Schwierigkeiten bis Harmonische Ruhe schaffen, doch weiter…

Harmonische Ruhe. Ein hässlicher Name, dachte Ravna. Phams ›leichtsinnige‹ Übersetzung war schlimmer: Das uralte ›Requiescat in pace‹ – ›Ruhe in Frieden‹ oder ›Ruhe sanft‹. Im Jenseits wurde fast alles, was bewohnbar war, auch benutzt. Zivilisationen kamen und gingen, und Rassen verblichen…, aber es gab immer neue Leute, die von Unten heraufkamen. Das Ergebnis war meistens Stückwerk, polyspezifische Systeme. Junge Rassen, frisch aus dem Langsam, taten sich schwer beim Zusammenleben mit den Überbleibseln älterer Völker. Der Schiffsbibliothek zufolge bestand RIP im Jenseits schon seit langem. Es war seit mindestens zweihundert Millionen Jahren ständig bewohnt gewesen, Zeit genug, dass Zehntausende von Arten es ihre Heimat nennen konnten. Die jüngsten Daten verzeichneten mehr als einhundert Arten-Terraneen. Selbst das jüngste war das Überbleibsel eines Dutzends von Einwanderungswellen. Der Ort müsste in einem Grade friedlich sein, dass man ihn schon als todgeweiht bezeichnen konnte.

Nun gut. Sie ließen die ADR drei Lichtjahre spinwärts ausscheren. Nun flogen sie im Hauptnetzkanal auf RIP zu: Sie würden auf dem ganzen Weg dorthin Nachrichten hören können.

Harmonische Ruhe machte Reklame. Zumindest eine Art wusste Waren von außerhalb zu schätzen und hatte sich auf Schiffsausrüstung und -reparatur spezialisiert. Eine fleißige, hartfüßige (?) Rasse, hieß es in der Werbung. Schließlich sah sie ein Video: Die Geschöpfe gingen auf Elfenbeinhauern, und unmittelbar unter ihren Hälsen wuchs ein Schwall kurzer Arme hervor. Die Werbung enthielt die Netzadressen zufriedener Kunden. Zu schade, dass wir dem nicht nachgehen können. Statt dessen schickte Ravna eine kurze Botschaft in Triskweline, in der sie eine allgemeine Antriebsreparatur verlangte und mögliche Zahlungsweisen auflistete. Unterdessen trafen weitere schlechte Nachrichten ein:

 

CRYPTO: 0

EMPFANGEN VON: ADR ad hoc

SPRACHPFAD: Baeloresk -› Triskweline, SjK-Einheiten

VON: Allianz für die Verteidigung

[Angeblich Genossenschaft von fünf polyspezifischen Imperien im Jenseits unterhalb des Straumli-Bereichs. Vor dem Untergang des Bereichs nicht verzeichnet.]

GEGENSTAND: Aufruf zum Handeln

VERTEILER:

Pestgefahr

Interessengruppe Kriegsbeobachter

Interessengruppe Homo sapiens

DATUM: 158,00 Tage seit dem Untergang von Relais

SCHLAGWÖRTER: Handeln, nicht reden

TEXT DER BOTSCHAFT:

Streitkräfte der Allianz bereiten Aktionen gegen die Werkzeuge der PERVERSION vor. Es ist Zeit, dass sich unsere Freunde zu erkennen geben. Gegenwärtig brauchen wir keine militärischen Zusicherungen von euch, doch in sehr naher Zukunft werden wir Unterstützung durch Dienstleistungen einschließlich kostenloser Netzzeit benötigen.

In den folgenden Sekunden werden wir genau beobachten, wer unsere Aktion unterstützt und wer vielleicht von der PERVERSION versklavt ist. Wenn ihr mit der menschlichen Infektion lebt, habt ihr die Wahl: Handelt jetzt mit guten Chancen für einen Sieg – oder wartet und werdet vernichtet.

Tod dem Ungeziefer.

 

Es gab eine Menge Folgebotschaften, darunter Spekulationen, wen ›Tod dem Ungeziefer‹ (alias ›Allianz für die Verteidigung‹) meinen mochte. Es gab auch Gerüchte über militärische Bewegungen. Das erregte nicht so viel Aufsehen wie der Untergang von Relais, dennoch wurde es in mehreren Nachrichtengruppen beachtet. Ravna schluckte und schaute vom Bildschirm weg. »Nun ja, sie machen immer noch viel Geschrei.« Sie bemühte sich um einen leichten Tonfall, aber es kam nicht so heraus.

Pham Nuwen berührte sie an der Schulter. »Stimmt. Und richtige Mörder kündigen ihre Tat für gewöhnlich nicht vorher an.« Doch in seiner Stimme lag mehr Mitgefühl als Überzeugung. »Wir wissen noch nicht, dass das mehr als ein einzelner Großsprecher wäre. Es ist nicht definitiv von Schiffbewegungen die Rede. Was können sie letzten Endes tun?«

Ravna stemmte sich vom Tisch hoch. »Nicht viel, hoffe ich. Es gibt Hunderte von Zivilisationen mit kleinen Ansiedlungen von Menschen. Gewiss haben sie Vorsichtsmaßnahmen getroffen, seit das mit ›Tod dem Ungeziefer‹ angefangen hat… Bei den MÄCHTEN, ich wünschte, ich wüsste, dass Sjandra Kei in Sicherheit ist.« Es war mehr als zwei Jahre her, seit sie Lynne und ihre Eltern gesehen hatte. Manchmal erschien ihr Sjandra Kei wie aus einem anderen Leben, aber schon zu wissen, dass es vorhanden war, war tröstlicher, als ihr bewusst gewesen war. Jetzt aber…

Auf der anderen Seite des Steuerdecks waren die Skrodfahrer dabei, die Liste der nötigen Reparaturen aufzustellen. Nun rollte Blaustiel auf sie zu. »Ich habe wirklich Angst um die kleinen Siedlungen, aber die Menschen von Sjandra Kei sind die Triebkraft dieser Zivilisation, sogar der Name ist menschlich. Jeder Angriff auf sie wäre ein Angriff auf die gesamte Zivilisation. Grünmuschel und ich haben dort oft genug Handel getrieben, auch mit den Streitkräften der Sicherheitsgesellschaft von Sjandra Kei. Nur Narren oder Bluffer würden eine Invasion vorher ankündigen.«

Ravna überlegte, und ihre Miene hellte sich auf. Die Dirokime und Lopher würden jeder Bedrohung der Menschheit auf Sjandra Kei entgegentreten. »Tja. Wir haben da kein Ghetto.« Für isolierte Menschengruppen konnten die Dinge sehr schlecht stehen, aber mit Sjandra Kei würde alles in Ordnung sein. »Bluffer. Nun ja, es heißt nicht umsonst das Netz der Million Lügen.« Sie verdrängte die Sorgen, auf die sie keinen Einfluss hatte, aus ihren Gedanken. »Aber eins ist klar. Wenn wir bei Harmonische Ruhe Halt machen, müssen wir verdammt sicher sein, dass nichts an uns an Menschen erinnert.«

 

Und natürlich gehörte dazu, den Anschein alles Menschlichen zu vermeiden, dass von Ravna und Pham nichts zu bemerken war. Die Skrodfahrer würden alle ›Gespräche‹ übernehmen. Ravna und die Fahrer gingen sämtliche Außenprogramme des Schiffs durch und merzten menschliche Nuancen aus, die sich seit dem Abflug von Relais dort eingeschlichen hatten. Und wenn wirklich jemand zu ihnen an Bord kam? Nun, eine gezielte Suche würden sie niemals überstehen, doch sie isolierten alle menschlichen Gegenstände in einem Laderaum mit vorgetäuschten Jupiter-Bedingungen. Die beiden Menschen würden sich dort verstecken, wenn nötig.

Pham Nuwen überprüfte, was sie taten – und fand mehr als eine Unachtsamkeit. Für einen Programmierer von den Barbaren war er nicht übel. Aber sie kamen ohnehin schnell in die Tiefen, wo die beste Computerausrüstung nicht viel raffinierter war als das, was er von früher her kannte.

Ironischerweise konnten sie eines nicht verbergen: dass die ADR von der Obergrenze des Jenseits stammte. Gewiss, das Schiff war ein Grundschlepper und beruhte auf einer Konstruktion aus dem Mittleren Jenseits. Aber die Umrüstung zeigte eine Eleganz, deren fast übermenschliche Kompetenz ins Auge sprang. »Das verdammte Ding vermittelt dasselbe Gefühl wie eine Axt, die in einer Fabrik hergestellt worden ist« – so formulierte es Pham Nuwen.

 

Die Sicherheitsvorkehrungen der RIP-Leute machten Mut: eine formale Geschwindigkeitskontrolle und keine Überprüfung an Bord. Die ADR sprang in das System und brachte mit dem Raketentriebwerk Position und Geschwindigkeit mit dem Herzstück von Harmonische Ruhe und ›Sankt (?) Rihndells Reparaturhafen‹ in Übereinstimmung. (Pham: »Wenn man ein ›Heiliger‹ ist, muss man ehrlich sein, oder?«)

Die Aus der Reihe befand sich über der Ekliptik und an die achtzig Millionen Kilometer von RIPs einzigem Stern entfernt. Selbst wenn man wusste, was man zu erwarten hatte, war der Anblick sehenswert: Das innere System war so staubig oder gaserfüllt wie die Wiege eines Sterns, obwohl das Zentralgestirn ein drei Milliarden Jahre alter Stern vom G-Typ war. Die Sonne war von Millionen Ringen umgeben, atemberaubender als jeder Ring um einen Planeten. Die größten und hellsten lösten sich in Myriaden weiterer auf. Sogar in direkter Ansicht gab es kräftige Farben, Fäden von Grün und Rot und Violett. Auf der Ringebene wellten sich Seen von Schatten zwischen bunten Hängen, Hängen von einer Million Kilometer Durchmesser. Es gab vereinzelte Objekte – Bauwerke? –, die weit genug aus der Ringebene hervorragten, um nadelgleiche Schatten ins Äußere des Systems zu werfen. Darstellungen in Infrarot oder der Eigenbewegungen zeigten konventionellere Züge: Jenseits der Ringe lag ein massiver Planetoidengürtel und viel weiter draußen ein einzelner Planet vom Jupitertyp, dessen eigenes Ringsystem von einer Million Kilometer wie ein klägliches Echo wirkte. Es gab weiter keine Planeten, weder in den Anzeigen der Geräte noch den Unterlagen zufolge. Die größten Objekte im Hauptring hatten Abmessungen von dreihundert Kilometern – doch davon schien es Tausende zu geben.

Nach den Anweisungen Sankt Rihndells steuerten sie das Schiff auf die Ringebene hinab und passten die Geschwindigkeit an die des lokalen Mülls an. Zuletzt kam ein großer Brennimpuls des Triebwerks: fast fünf Minuten lang drei Ge. »Ganz wie in alten, alten Zeiten«, sagte Pham Nuwen.

Wieder schwerelos, blickten sie hinaus auf ihren Hafen: Aus der Nähe glich er planetaren Ringsystemen, wie sie Ravna Zeit ihres Lebens gekannt hatte. Es gab Objekte in allen Größen bis hinab zu einer Handspanne, unzählige Kleckse eisigen Schaumes, die einander sanft berührten, zusammenklumpten, sich trennten. Der Schutt hing nahezu reglos rings um sie; dies war ein Chaos, das vor langer Zeit gezähmt worden war. In der Ebene der Ringe konnten sie nicht weiter als ein paar hundert Meter schauen. Der Schutt versperrte den Blick. Er war durchaus nicht völlig lose. Grünmuschel zeigte auf eine Linie von Weiß, die gekrümmt aus der Unendlichkeit zu kommen schien, nahe an ihnen vorbeilief und dann für immer in eine andere Richtung entwich. »Sieht wie eine einzelne Struktur aus«, sagte sie.

Ravna schaltete die Vergrößerung höher. In planetaren Ringsystemen fügten sich die ›Schaum-Schneebälle‹ manchmal zu Ketten von Tausenden Kilometern Länge zusammen… Der weiße Faden breitete sich weit über den Bildschirm hinaus aus. Die Anzeigen besagten, dass er fast einen Kilometer breit war. Dieser Bogen bestand eindeutig nicht aus Schneebällen. Sie konnte Schiffsliegeplätze und Kommunikationsknoten sehen. Beim Vergleich mit den Bildern von ihrer Annäherung sah Ravna, dass das ganze Ding über vierzig Millionen Kilometer lang war. Über den Bogen waren etliche Lücken verstreut. Das bedeutete: die aufs Ganze verteilte Zugfestigkeit eines solchen Bauwerks konnte beinahe Null betragen. Je nach den lokalen Störungen würde es sich kurz auseinanderziehen, um etwas später wieder zusammenzukommen. Das Ganze erinnerte annähernd an eine Reihe Wagen auf einer alten nyjoranischen Eisenbahnstrecke.

Die nächste Stunde über bewegten sie sich vorsichtig einwärts, um an dem Ringbogen anzudocken. Das einzige Regelmäßige an dem Bauwerk war sein linearer Aufbau. Manche von den Modulen waren offensichtlich dafür konstruiert, vorn und hinten anzukoppeln. Andere waren wirre Haufen sonderbarer Vorrichtungen, überzogen von schmutzigem Eis. Die letzten paar Kilometer über schwebten sie durch einen Wald von Ultraantriebs-Dornen. Zwei Drittel der Dockplätze waren belegt.

Blaustiel öffnete ein Fenster, das Sankt Rihndells Geschäftsangaben zeigte. »Hmm. Herr Rihndell scheint sehr beschäftigt zu sein.« Er zeigte mit ein paar Wedeln zurück auf die Schiffe auf der Außenansicht.

Pham: »Vielleicht betreibt er eine Mülldeponie.«

 

Blaustiel und Grünmuschel gingen hinab zur Frachtluke, um sich auf ihren ersten Landgang vorzubereiten. Die Skrodfahrer waren seit zweihundert Jahren beisammen, und Blaustiel entstammte auch davor schon einer Tradition interstellarer Kauffahrer. Dennoch diskutierten die beiden hin und her über die beste Art, mit ›Sankt Rihndell‹ ins Geschäft zu kommen.

»Natürlich ist Harmonische Ruhe typisch, lieber Blaustiel; ich würde mich an den Typ erinnern, und wenn ich niemals in einem Skrod gefahren wäre. Aber unser Geschäft hier hat unter allem, was wir früher getan haben, nicht seinesgleichen.«

Blaustiel grummelte wortlos und schob ein weiteres Handelspaket unter sein Frachttuch. Das Tuch war mehr als hübsch. Das Material war zäh, ein elastisches Zeug, das allem darunter Schutz bot.

Es war dieselbe Prozedur, nach der sie immer in neuen Ringsystemen verfuhren, und sie hatte früher gut funktioniert. Schließlich erwiderte er: »Gewiss, es gibt Unterschiede, vor allem, dass wir sehr wenig für die Reparaturen anzubieten und keine früheren Geschäftsbeziehungen haben. Wenn wir nicht unseren ganzen Geschäftssinn aufbieten, kriegen wir hier nichts!« Er überprüfte die verschiedenen Sensoren, die sich über seinen Skrod hinzogen, und sprach dann zu den Menschen: »Soll ich eine von den Kameras bewegen? Haben sie alle ein klares Blickfeld?« Sankt Rihndell war geizig im Vermieten von Bandbreite – vielleicht war er auch einfach vorsichtig.

Pham Nuwens Stimme antwortete: »Nein. Sie sind in Ordnung. Könnt ihr mich hören?« Er sprach durch einen Lautsprecher in ihren Skrods. Die Verbindung selbst war verschlüsselt.

»Ja.«

Die Skrodfahrer passierten durch die Schleusen der ADR in das Bogenhabitat von Sankt Rihndell.

 

Von innen gesehen, umgaben sie durchsichtige Bögen, Reihen von Außenansichten, die in der Ferne entschwanden. Sie schauten hinaus auf die Kunden von Sankt Rihndell und die Ringflocken dahinter. Die Sonne erschien trübe, doch ringsum stand ein Schein von Helligkeit, eine Super-Korona. Das war zweifellos ein Schwarm von Energiesatelliten; Ringsysteme nutzten von Natur aus das Zentralgestirn nicht gut aus. Für einen Moment stockten die Skrodfahrer, überwältigt vom Bild eines Meeres, großartiger als alle Meere: Das Licht hätte ein Sonnenuntergang sein können, durch eine flache Brandung gesehen. Und ihnen erschienen die nahebei schwebenden Tausende von Teilchen wie Nahrung in einer langsamen Gezeitenwelle.

Die Eingangshalle war voll. Die Wesen hier waren von ziemlich gewöhnlichen Körperbautypen, doch keines gehörte zu einer Art, die Grünmuschel zweifelsfrei erkannt hätte. Der Typ mit den Hauerbeinen, der Sankt Rihndell betrieb, war am zahlreichsten. Nach einer Weile schwebte einer von diesen von der Wand bei der Luke der ADR herbei. Er surrte etwas, das als Triskweline ankam: »Zum Handeln gehen wir da entlang.« Seine Elfenbeinfüße bewegten sich agil über Netzgeflecht in einen offenen Wagen. Die Skrodfahrer nahmen hinter ihm Platz, und der Wagen beschleunigte entlang des Bogens. Blaustiel wedelte Grünmuschel zu: »Das alte Lied; was nützen ihnen jetzt die Beine?« Das war einer der ältesten Skrodfahrer-Witze, aber immer wieder komisch: Zwei Beine oder vier – aus Flossen oder Kiefern oder woraus auch immer entwickelt – waren allemal sehr gut, wenn es die Fortbewegung zu Lande betraf. Doch im Raum spielte das kaum eine Rolle.

Der Wagen legte etwa hundert Meter pro Sekunde zurück und schleuderte jedesmal leicht, wenn sie von einem Ringsegment ins nächste wechselten. Blaustiel hielt ständig eine Unterhaltung mit ihrem Führer am Plätschern, die Sorte Geplauder, die Grünmuschel als eine seiner großen Freuden im Leben kannte. »Wohin fahren wir? Was sind das da für Wesen? Nach welcher Art Dingen suchen sie bei Sankt Rihndell?« Alles gönnerhaft und fast auf Menschenart forsch. Wo ihn das Kurzzeitgedächtnis im Stich ließ, nahm er den Skrod zu Hilfe.

Hauerbein sprach nur ein Triskweline mit verminderter Grammatik und schien einige von den Fragen nicht zu verstehen. »Wir fahren zum Meisterverkäufer… Helferwesen sind das… Verbündete von großem neuem Kunden…« Die beschränkte Sprache ihres Führers störte den guten Blaustiel nicht im Geringsten, er sammelte eher Reaktionen als Antworten. Die meisten Rassen hatten Interessen, die der Art von Blaustiel und Grünmuschel schleierhaft blieben. Zweifellos gab es in Harmonische Ruhe Milliarden von Wesen, die für Skrodfahrer oder Menschen oder Dirokime völlig unergründlich waren. Aber ein simpler Dialog gab oft Auskunft über die beiden wichtigsten Fragen: Was habt ihr, was mir nützen könnte, und wie kann ich euch überzeugen, euch davon zu trennen? Die Fragen des lieben Blaustiel sondierten den anderen, um Parameter von Persönlichkeit und Interesse und Fähigkeit zu ermitteln.

Die beiden Skrodfahrer spielten dieses Spiel gemeinsam. Während Blaustiel plapperte, beobachtete Grünmuschel alles ringsum, ließ die Aufzeichnungsgeräte ihres Skrods auf sämtlichen Kanälen laufen und versuchte, diese Umgebung in Kontext mit anderen zu bringen, die sie kennen gelernt hatten. Technik: Was brauchten diese Leute? Was könnte funktionieren? In derart flachem Raum würde es wenig Anwendungen für Agrav-Gewebe geben. Und derart tief im Jenseits würden viele subtile Importe von weiter oben fast sofort kaputtgehen. Die Arbeiter jenseits der langen Fenster trugen ausgeprägte Druckanzüge – die Kraftfeld-Anzüge des Hohen Jenseits würden hier unten nur ein paar Wochen halten.

Sie fuhren an Bäumen vorbei, die wie Reben wuchsen. Manche von den Stämmen liefen rings um die Wände des Bogens, andere folgten Hunderte Meter weit ihrem Weg. Hauerbein-Gärtner schwebten überall über den Pflanzen, doch es gab keine Anzeichen von Landwirtschaft. Das alles war eine Verzierung. In der Ringebene jenseits der Fenster gab es ab und zu Türme, Bauwerke, die tausend Kilometer über die Ebene aufragten und die spitzen Schatten auf die Ringe warfen, die sie gegen Ende ihrer Annäherung an das System gesehen hatten. Ravnas Stimme und die Phams surrten gegen ihren Stiel, sie fragten Grünmuschel leise nach den Türmen und spekulierten über den Zweck solch instabiler Vorrichtungen. Sie speicherte die Theorien der beiden zur späteren Betrachtung ab…, doch sie zweifelte daran: manche würden nur im Hohen Jenseits funktionieren, und andere waren einfach unwirtschaftlich.

Grünmuschel hatte in ihrem Leben acht Ringsystem-Zivilisationen besucht. Sie waren eine verbreitete Folge von Unfällen und Kriegen (und gelegentlich von gezielter Habitatformung). Der Bibliothek der ADR zufolge war Harmonische Ruhe bis vor zehn Millionen Jahren ein normales Planetensystem gewesen. Dann hatte es dort einen richtigen Besitzstreit gegeben: Eine junge Rasse von Unten hatte sich angeschickt, eine Kolonie zu gründen und die siechen Bewohner auszurotten. Der Angriff war eine Fehlkalkulation gewesen, denn die Siechen konnten noch töten, und das System wurde kurz und klein geschlagen. Vielleicht überlebte die junge Rasse. Wenn aber nach zehn Millionen Jahren noch etwas von jenen jungen Mördern übrig war, dann waren sie jetzt die gebrechlichste unter den älteren Rassen des Systems. Wohl tausend neue Rassen waren in dieser Zeit vorübergegangen, und fast jede hatte etwas getan, um die Ringe und die Gaswolke, die von dem Debakel zurückgeblieben waren, zurechtzustutzen. Was übrig war, war durchaus keine Ruine, aber alt… alt. Die Schiffsbibliothek behauptete, dass in den letzten tausend Jahren keine Rasse von Harmonische Ruhe transzendiert war. Dieser Umstand war wichtiger als alle anderen. Die gegenwärtigen Zivilisationen befanden sich in ihrer Abenddämmerung und verfeinerten das Mittelmaß. Mehr als an alles andere erinnerte das System an einen alten und schönen Gezeitentümpel, herausgeputzt und gepflegt, abgeschirmt gegen die aufregenden Wellen, die seine Bonsai-Federn behelligen könnten. Höchstwahrscheinlich waren die Hauerbeine die lebhafteste Art hier, vielleicht die Einzigen, die sich für Handel mit der Außenwelt interessierten.

Ihr Wagen wurde langsamer und bog in einen kleinen Turm ein.

 

»Bei der Flotte, was würde ich darum geben, mit ihnen da draußen zu sein!« Pham Nuwen deutete auf die Bilder, die von den Skrodkameras kamen. Seit die Skrodfahrer fort waren, hing er ständig an den Bildschirmen und starrte abwechselnd mit großen Augen die Ringlandschaft an und schnellte geistesabwesend zwischen Boden und Decke des Steuerdecks hin und her. Ravna hatte ihn nie derart gefesselt, derart intensiv erlebt. Wie unecht die Erinnerungen an seine Tage als Händler sein mochten, er glaubte wirklich, etwas beeinflussen zu können. Und vielleicht hat er Recht.

Pham kam von der Decke herunter und zog sich nahe an den Bildschirm heran. Es sah aus, als würde der Handel gleich ernstlich beginnen. Die Skrodfahrer waren in einem kugelförmigen Raum von vielleicht fünfzig Metern Durchmesser angelangt. Anscheinend schwebten sie nahe bei der Mitte. Ein Wald wuchs aus allen Richtungen einwärts, und die Fahrer schienen nur ein paar Meter über den Baumkronen zu schweben. Hier und da sahen sie zwischen den Zweigen den Boden: ein Blumenmosaik.

Die Händlerwesen von Sankt Rihndell waren über die größten Bäume verstreut. Jeder saß da, seine Elfenbeinglieder um einen Baumwipfel geklammert. Hauerbein-Rassen waren in der Galaxis weit verbreitet, doch dies waren die ersten, die Ravna kennen lernte. Der Körperbau war ganz anders als alles, was sie von daheim kannte, und selbst jetzt hatte sie keine klare Vorstellung von ihrer Gestalt. Wie sie so auf den Bäumen saßen, ähnelten ihre Beine eher Knochenfingern, die den Stamm umklammerten. Ihr Hauptvertreter – der behauptete, Sankt Rihndell selbst zu sein – hatte geschnitzte Ornamente, die zwei Drittel seines Elfenbeins bedeckten. Zwei von den Fenstern zeigten die Schnitzereien aus der Nähe; Pham schien zu glauben, es könnte nützlich sein, die Kunst zu verstehen.

Sie kamen langsam voran. Triskweline war die gemeinsame Sprache, aber gute Übersetzungsgeräte funktionierten so tief im Jenseits nicht, und die Leute von Sankt Rihndell kannten die Handelssprache nur oberflächlich. Ravna war an saubere Übersetzungen gewöhnt. Sogar die Netzbotschaften, mit denen sie zu tun hatte, waren in der Regel verständlich, wenngleich manchmal auf irreführende Weise.

Sie redeten seit zwanzig Minuten und hatten bisher nur festgestellt, dass Sankt Rihndell möglicherweise imstande war, die ADR zu reparieren. Es lag an der üblichen Neigung der Skrodfahrer zu Abschweifungen, und an noch etwas. Pham schien die langweilige Unterredung zu gefallen. »Rav, das ist fast wie ein Unternehmen der Dschöng Ho, Auge in Auge mit fremden Geschöpfen und kaum eine gemeinsame Sprache.«

»Wir haben ihnen schon vor Stunden eine Beschreibung unseres Reparaturproblems geschickt. Warum sollte ein einfaches Ja oder Nein so lange dauern?«

»Weil sie feilschen«, sagte Pham, und sein Grinsen wurde breiter. »Der ›ehrliche‹ Sankt Rihndell hier« – er zeigte auf den Einheimischen mit den Ornamenten – »will uns klarmachen, wie schwierig der Auftrag ist… Bei Gott, ich wünschte, ich wäre da draußen.«

Sogar Blaustiel und Grünmuschel wirkten jetzt ein wenig sonderbar. Ihr Triskweline war rudimentär, kaum komplexer als das von Sankt Rihndell. Und ein großer Teil der Unterredung schien sehr umständlich zu laufen. Bei der Arbeit für die Vrinimi hatte Ravna einige Erfahrung mit Verkauf und Handel gesammelt. Aber feilschen? Man hatte seine Datenbanken mit den Preisen und strategische Unterstützung, dazu Richtlinien von Grondrs Leuten. Entweder man machte den Handel, oder man ließ es. Was zwischen der Skrodfahrern und Sankt Rihndell vor sich ging, gehörte zu den fremdartigsten Dingen, die Ravna jemals gesehen hatte.

»Eigentlich kommen sie ganz gut voran – glaube ich. Du hast gesehen, als wir ankamen, hat das Knochenbein Blaustiels Muster genommen. Mittlerweile wissen sie exakt, was wir haben. Unter diesen Mustern ist etwas, das sie gern hätten.«

»Ach ja?«

»Gewiss. Sankt Rihndell macht unser Zeug nicht zu seinem puren Vergnügen schlecht.«

»Verdammt, es kann sein, wir haben überhaupt nichts an Bord, was sie haben wollen. Das sollte ja nie eine Handelsexpedition sein.« Blaustiel und Grünmuschel hatten ›Warenmuster‹ aus den Schiffsvorräten locker gemacht, Dinge, ohne die die ADR überleben konnte. Dazu gehörten Sensorgeräte und etwas Computerausrüstung fürs Untere Jenseits. Manches davon wäre ein ernster Verlust. Aber so oder so, wir brauchen die Reparatur.

Pham kicherte. »Nein. Da ist etwas, das Sankt Rihndell haben möchte. Sonst würde er nicht immer noch quatschen… Und siehst du, wie er immer wieder mit den Wünschen seiner ›anderen Kunden‹ stichelt? Sankt Rihndell ist eine menschliche Sorte Kerl.«

Etwas wie menschlicher Gesang erklang über die Verbindung zu den Skrodfahrern. Ravna richtete Grünmuschels Kamera auf den Klang. Von ›Waldboden‹ auf der Seite gegenüber Blaustiel erschienen drei neue Wesen.

»Oh… sind die schön! Schmetterlinge«, sagte Ravna.

»Hä?«

»Ich meine, sie sehen aus wie Schmetterlinge. Du weißt? Hm. Insekten mit großen bunten Flügeln.«

Riesenschmetterlinge, wirklich. Die Neuankömmlinge hatten einen im allgemeinen humanoiden Körperbau. Sie waren etwa 150 Zentimeter groß und mit weich aussehendem braunem Pelz bedeckt. Ihre Flügel breiteten sich hinten von den Schulterblättern her aus. Sie hatten eine Spannweite von fast zwei Metern, in weichen Blau- und Gelbtönen, manche feiner gemustert als andere. Sicherlich waren sie künstlich oder eine genetisch hergestellte Marotte; bei fast jeder halbwegs normalen Gravitation wären sie zum Fliegen ungeeignet gewesen. Doch hier in der Schwerelosigkeit… Die drei schwebten nur einen Moment lang am Eingang, die großen, sanft blickenden Augen zu den Skrodfahrern emporgerichtet. Dann bewegten sie die Flügel mit gemessenen Schlägen und schwebten graziös in die Luft über dem Wald. Die ganze Wirkung erinnerte an ein Kindervideo. Sie hatten kecke Stupsnasen wie Schmuse-Jorakorns und Augen, so groß und schüchtern, wie sie nur je ein menschlicher Trickfilmer gezeichnet hatte. Ihre Stimmen klangen wie der Gesang von Kindern.

Sankt Rihndell und seine Kumpels schoben sich seitlich um ihre Baumkronen. Der größte der Besucher sang weiter und faltete sacht die Flügel. Nach einer Weile wurde Ravna bewusst, dass er fließend Trisk sprach, das von einem Gerät aus seiner eigenen Sprache übersetzt wurde: »Sankt Rihndell, Grüße! Unsere Schiffe sind bereit für deine Reparaturen. Wir haben anständig bezahlt, und wir sind in großer Eile. Deine Arbeit muss sofort beginnen!«

Sankt Rihndells Trisk-Spezialist übersetzte seinem Chef die Rede.

Ravna beugte sich über Phams Rücken. »Vielleicht ist unser freundlicher Handwerker also wirklich ausgebucht«, sagte sie.

»Hmm.«

Sankt Rihndell kam um seinen Baumwipfel herum zurück. Seine kleinen Arme zupften an den Baumnadeln, als er antwortete: »Geehrte Kunden. Ihr habt eine Bezahlung angeboten, die nicht voll akzeptiert wird. Was ihr verlangt, ist knapp, schwer zu… tun.«

Der knuddelige Schmetterling machte ein quietschendes Geräusch, das bei einem Kind als freudiges Lachen hätte gelten können. Der Sinn seines Gesangs war anders: »Die Zeiten ändern sich, Rihndell-Kreatur! Deine Leute müssen lernen: Wir lassen uns nicht anschmieren. Du kennst die heilige Mission meiner Flotte. Wir rechnen dir jede verstreichende Stunde als Schuld an. Denke an die Flotte, der du dich gegenübersehen wirst, wenn dein Mangel an Kooperation jemals bekannt wird – wenn er jemals auch nur vermutet wird.« Es gab einen Schlag der blauen und gelben Flügel, und der Schmetterling wandte sich um. Der Blick seiner dunklen, schüchternen Augen ruhte auf den Skrodfahrern: »Und diese Topfpflanzen, das sind Kunden? Schick sie weg! Solange wir hier sind, hast du keine anderen Kunden.«

Ravna holte tief Luft. Die drei besaßen keine sichtbaren Waffen, doch plötzlich hatte sie Angst um Blaustiel und Grünmuschel.

»Sieh an«, sagte Pham. »Schmetterlinge in Schaftstiefeln.«