EINUNDZWANZIG
Ravna wusste, dass sich unter
seiner stürmischen Oberfläche Blaustiel mindestens ebenso viel
Sorgen wie sie machte. Schlimmer, er war ein Krümelkacker. Als ihn
Ravna das nächste Mal nach ihrem Fortkommen fragte, wich er in
technische Einzelheiten aus.
Schließlich unterbrach ihn Ravna. »Sehen Sie: Der Junge sitzt da auf etwas, was vielleicht die PEST zur Hölle schicken kann, und er hat weiter nichts als Pfeil und Bogen. Wie lange wird es dauern, bis wir da unten sind, Blaustiel?«
Blaustiel rollte nervös an der Decke hin und her. Die Skrodfahrer hatten Rückstoßdüsen – bei Schwerelosigkeit konnten sie sich geschickter bewegen als die meisten Menschen. Statt dessen benutzten sie Haftflecken und rollten an den Wänden herum. In mancher Hinsicht war das hübsch. Momentan irritierte es.
Zumindest konnten sie sich unterhalten; sie warf einen Blick quer durch die Brücke, wo Pham Nuwen saß, den Blick an den Hauptbildschirm geheftet. Wie üblich galt seine ganze Aufmerksamkeit den sich langsam weiterschiebenden Sternen. Er war unrasiert, der rötliche Bart stach leuchtend von der Haut ab; sein langes Haar fiel verfilzt und ungekämmt. Körperlich war er von seinen Verletzungen geheilt. Der Schiffsarzt hatte sogar die Muskelmasse ersetzt, die die Kommunikationsvorrichtungen des ALTEN verdrängt hatten. Pham konnte sich jetzt selbst anziehen und ernähren, doch er lebte noch immer in einer eigenen Traumwelt.
Die beiden Fahrer zwitscherten einander etwas zu. Es war Grünmuschel, die schließlich Ravnas Frage beantwortete: »Eigentlich wissen wir nicht genau, wie lange. Die Eigenschaften des Jenseits verändern sich, je tiefer wir kommen. Jeder Sprung kostet uns einen Bruchteil mehr Zeit als der vorige.«
»Das weiß ich. Wir nähern uns der Langsamen Zone. Aber das Schiff ist dafür konstruiert; es müsste leicht sein, die Verlangsamungsrate zu errechnen.«
Blaustiel streckte eine Ranke von der Decke zum Fußboden aus. Eine Sekunde lang machte er sich am selbstregulierenden Oberflächenprofil zu schaffen, dann gab seine Voderstimme ein Geräusch menschlicher Verärgerung von sich. »Normalerweise hätten Sie Recht, meine Dame Ravna. Doch in diesem besonderen Fall… Zum einen hat es den Anschein, dass die Zonen selbst in Bewegung sind.«
»Was?«
»Das ist nicht so unerhört. Kleine Verschiebungen finden ständig statt. Das ist einer der Hauptzwecke für Grundschlepper-Schiffe: die Änderungen zu verfolgen. Wir haben das Pech, mitten durch das Ungewisse Gebiet zu fliegen.«
Eigentlich hatte Ravna gewusst, dass am Boden unter ihnen eine hohe Grenzschicht-Turbulenz bestand. Sie dachte daran nur nicht in großartigen Begriffen wie ›Zonenverschiebung‹; ihr war auch nicht bewusst geworden, dass es ernst genug war, um Auswirkungen auf sie zu haben.
»In Ordnung. Wie schlimm kann es also werden? Um wie viel kann es unseren Flug verlangsamen?«
»O je.« Blaustiel rollte zur Wand gegenüber, er stand jetzt auf gestirntem Himmel. »Es wäre so schön, ein Minderer Skrodfahrer zu sein. So viele Probleme, die meine hohe Berufung mit sich bringt. Am liebsten stünde ich in diesem Moment tief in der Brandung und würde an Erinnerungen von einst denken.« An andere Tage in der Brandung.
Grünmuschel nahm den Faden auf: »Die Frage ist nicht: ›Die Flut, wie hoch kann sie steigen?‹, sondern: ›Dieser Sturm, wie schlimm kann er werden?‹ Momentan ist es schlimmer als alles in dieser Region während der letzten tausend Jahre. Immerhin haben wir die lokalen Nachrichten verfolgt; die meisten stimmen darin überein, dass der Sturm seinen Höhepunkt erreicht hat. Wenn unser anderes Problem sich nicht verschlechtert, müssten wir in etwa einhundertundzwanzig Tagen am Ziel sein.«
Unser anderes Problem. Ravna schwebte zur Mitte der Brücke und schnallte sich an einem Sattel fest. »Sie meinen die Schäden, die wir beim Abflug von Relais erhalten haben. Die Ultraantriebs-Dorne, ja? Wie halten sie sich?«
»Anscheinend ziemlich gut. Wir haben nicht versucht, schneller als achtzig Prozent des vorgesehenen Maximums zu springen. Andererseits fehlen uns gute Diagnostikroutinen. Es ist denkbar, dass es ganz plötzlich zu ernsthaften Ausfällen kommt.«
»Denkbar, aber unwahrscheinlich«, warf Grünmuschel ein.
Ravna nickte. Angesichts all ihrer anderen Probleme hatte es keinen Zweck, sich über Möglichkeiten den Kopf zu zerbrechen, die sie sowieso nicht beeinflussen konnten. Auf Relais hatte das wie ein Ausflug von dreißig, vierzig Tagen ausgesehen. Jetzt… Der Junge im Brunnen musste vielleicht noch lange Zeit tapfer sein, egal, wie sehr sie es sich anders wünschte. Hmm. Also Zeit für Plan B. Zeit für etwas, wie jemand wie Pham Nuwen es vorschlagen würde. Sie stieß sich vom Boden ab und ließ sich neben Grünmuschel nieder. »Gut, wir können uns also bestenfalls auf einhundertundzwanzig Tage einstellen. Wenn der Zonensturm schlimmer wird oder wenn wir Reparaturen vornehmen lassen müssen…« Wo eigentlich? Möglicherweise wäre das nur eine Verzögerung, aber nicht unmöglich. Die umgebaute ADR sollte sogar im Unteren Jenseits repariert werden können. »Vielleicht sogar zweihundert Tage?« Sie warf Blaustiel einen Blick zu, doch er unterbrach sie nicht mit seinen üblichen Zusätzen und Einschränkungen. »Sie haben beide die Botschaften gelesen, die wir von dem Jungen erhalten. Er sagt, die Einheimischen werden in Kürze überrannt, wahrscheinlich in weniger als hundert Tagen. Irgendwie müssen wir ihm helfen…, ehe wir selbst dort sind.«
Grünmuschel raschelte mit ihren Wedeln auf eine Weise, die Ravna für Verwunderung hielt.
Sie schaute über das Deck und hob ein wenig die Stimme. He du, du müsstest dafür der Fachmann sein! »Ihr Skrodfahrer bemerkt es vielleicht nicht, aber das ist ein Problem, das in der Langsamen Zone millionenfach vorgekommen ist: Zivilisationen sind durch Reisezeiten von Jahren, von Jahrhunderten getrennt. Sie fallen in dunkle Zeitalter zurück. Sie werden genauso primitiv wie diese Rudelwesen, die ›Klauen‹. Dann bekommen sie Besuch von außerhalb. Binnen kurzer Zeit verfügen sie wieder über Technik.« Phams Kopf wandte sich nicht um; er schaute einfach weiter hinaus in die Sternenweiten.
Die Skrodfahrer rasselten einander etwas zu, dann:
»Aber was nützt uns das? Dauert es nicht Dutzende von Jahren, um eine Zivilisation wiederaufzubauen?«
»Und außerdem ist das auf der Klauenwelt nicht wiederaufzubauen. Dem Kind zufolge ist es eine Welt ohne Vorgänger. Wie lange dauert es, eine neue Zivilisation von den Anfängen an zu errichten?«
Ravna wischte die Einwände mit einer Handbewegung weg. Haltet mich nicht auf, ich bin in Fahrt. »Darum geht es nicht. Wir haben bereits Verbindung mit ihnen. Wir haben eine gute allgemeine Bibliothek an Bord. Ursprüngliche Erfinder wissen nicht, wohin der Weg führt; sie tappen im Dunkeln. Sogar die Archäologieingenieure auf der Nyjora mussten viel neu erfinden. Wir aber wissen alles über den Bau von Flugzeugen und dergleichen; wir kennen Hunderte von Wegen, um dorthin zu gelangen.« Nun, da sie sich der Notwendigkeit gegenübersah, war Ravna auf einmal gewiss, dass sie es schaffen würden. »Wir können alle Entwicklungswege studieren, die Sackgassen ausschließen. Mehr noch, wir können den schnellsten Weg vom Mittelalter zu bestimmten Erfindungen feststellen, zu Dingen, die mit jeglichen Barbaren fertig werden, die Jefris Freunde angreifen mögen.«
Ravnas Rede trudelte aus. Grinsend starrte sie erst Blaustiel an, dann Grünmuschel. Aber ein schweigender Skrodfahrer ist einer der gelassensten Zuhörer im Weltall. Es war sogar schwer zu sagen, ob sie sie überhaupt anschauten. Nach einer Weile sagte Grünmuschel: »Ja, ich verstehe. Und so oft, wie Wiederentdeckungen in der Langsamen Zone vorkommen, kann das meiste davon schon in der Schiffsbibliothek ausgearbeitet vorliegen.«
Da geschah es: Pham wandte sich vom Fenster ab. Er blickte übers Deck zu Ravna und den Fahrern. Zum ersten Mal seit Relais sprach er. Mehr noch, seine Worte waren kein Unsinn, obwohl sie einen Moment brauchte, um ihn zu verstehen. »Kanonen und Radios«, sagte er.
»Ah… ja.« Sie erwiderte seinen Blick. Irgendwie bewirken, dass er mehr sagt. »Warum gerade das?«
Pham Nuwen zuckte die Achseln. »Auf Canberra hat es funktioniert.«
Dann begann der verdammte Blaustiel zu reden, etwas über eine Suche in der Bibliothek. Pham starrte sie alle einen Augenblick lang an, das Gesicht ausdruckslos. Dann wandte er sich wieder den Sternen zu, und der Augenblick war verloren.