VIERUNDZWANZIG

 

Für Johanna änderte sich eine Menge in den Wochen nach Yaqueramaphans Tod. Das meiste waren Verbesserungen, zu denen es vielleicht ohne den Mord nie gekommen wäre…, und das machte Johanna sehr traurig.

Sie ließ Holzschnitzerin in ihrer Hütte wohnen und den Platz des Gehilfen einnehmen. Anscheinend hatte Holzschnitzerin das von Anfang an tun wollen, sich aber vor der Wut des Menschen gefürchtet. Nun behielten sie das Datio in der Hütte. Mindestens vier Rudel von Feilonius’ Sicherheitsdienst umringten ständig den Ort, und man sprach davon, Kasernen in der Umgebung zu errichten.

Die anderen sah sie tagsüber auf Versammlungen, und einzeln, wenn sie Hilfe beim Datio brauchten. Scrupilo, Feilonius und Narbenhintern – der ›Pilger‹ – sprachen jetzt alle fließend Samnorsk, mehr als genug, dass sie den Charakter hinter den unmenschlichen Gestalten sehen konnte: Scrupilo, zimperlich und sehr klug. Feilonius, so aufgeblasen, wie Schreiber nur jemals erschienen war, aber ohne dessen Spieltrieb und Phantasie. Pilger Wickwracknarb. Jedesmal, wenn sie sein Großes mit der Narbe sah, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Das Glied saß immer hinten, niedergehockt, um nicht bedrohlich auszusehen. Pilger wusste offensichtlich, wie sie den Anblick empfand, und versuchte, sie nicht zu kränken, doch selbst nach Schreibers Tod brachte sie nicht mehr fertig, als dieses Rudel zu tolerieren… Und schließlich konnte es Verräter in der Burg geben. Es war nur eine Theorie von Feilonius, dass der Mord ein Überfall von außen gewesen war. Sie behielt Pilger misstrauisch im Auge.

Wenn es Nacht wurde, scheuchte Holzschnitzerin die anderen Rudel fort. Sie hockte sich rings um die Feuergrube und fragte das Datio Dinge, die keine ersichtliche Beziehung zum Kampf gegen die Flenseristen hatten. Johanna saß bei ihr und versuchte zu erklären, was Holzschnitzerin nicht verstanden hatte. Es war seltsam. Holzschnitzerin war etwas sehr Ähnliches wie die Königin dieser Leute. Sie hatte diese gewaltige (primitive, unbequeme, hässliche, aber doch gewaltige) Burg. Sie hatte Dutzende von Dienern. Dennoch verbrachte sie den größten Teil jeder Nacht in dieser kleinen Holzhütte bei Johanna und kümmerte sich um das Feuer und ums Essen mindestens ebenso wie das Rudel, das vor ihr hier gewesen war.

So kam es, dass Holzschnitzerin Johannas zweite Freundin unter den Klauenwesen wurde. (Schreiber war der erste Freund gewesen, obwohl sie es erst nach seinem Tode erkannt hatte.) Holzschnitzerin war sehr klug und sehr seltsam. In mancher Beziehung war sie die klügste Person, der Johanna jemals begegnet war, obwohl sich diese Schlussfolgerung erst allmählich einstellte. Sie war nicht wirklich überrascht gewesen, als die Klauenwesen Samnorsk schnell erlernten – so war es in den meisten Abenteuergeschichten, und vor allem hatten sie ja die Sprachlernprogramme im Datio. Aber Nacht für Nacht beobachtete Johanna, wie Holzschnitzerin mit dem Datio spielte. Das Rudel interessierte sich nicht für die Militärtaktik und die Chemie, die sie den ganzen Tag über in Beschlag nahmen. Statt dessen las sie über die Langsame Zone und das Jenseits und die Geschichte des Straumli-Bereichs. Sie hatte das diskursive Lesen schneller als alle anderen erlernt. Manchmal saß Johanna einfach da und starrte ihr über die Schultern. Der Bildschirm war in Fenster aufgeteilt, und der Text im Hauptfenster rollte viel schneller, als Johanna folgen konnte. Ein Dutzendmal pro Minute mochte Holzschnitzerin auf Wörter stoßen, die sie nicht kannte. Die meisten waren einfach unbekanntes Samnorsk: Holzschnitzerin tippte mit einer Nase auf das störrische Wort, und in einem Lexikon-Fenster blitzte kurz eine Definition auf. Anderes war eine Frage der Konzepte, und die neuen Fenster führten das Rudel in andere Gebiete, manchmal nur für ein paar Sekunden, manchmal für viele Minuten – und manchmal wurde die Abschweifung zum neuen Hauptpfad. In gewisser Weise war sie all das, was Schreiber so gern gewesen wäre.

Oft hatte sie Fragen, die das Datio nicht wirklich beantworten konnte. Sie und Johanna sprachen dann bis spät in die Nacht miteinander. Wie war die menschliche Familie? Was hatte der Straumli-Bereich im Hochlabor tun wollen? Johanna dachte nicht länger, die meisten Rudel seien Banden von schlangenhalsigen Ratten. Lange nach Mitternacht war der Bildschirm des Datios heller als das graue Licht aus der Feuergrube. Es zeichnete die Rücken Holzschnitzerins in heiteren Farben. Das Rudel hatte sich um sie versammelt und blickte zu ihr auf, fast wie Kinder zu einem Lehrer.

Doch Holzschnitzerin war kein Kind. Beinahe von Anfang an war sie alt erschienen. In diesen Gesprächen spät in der Nacht begann Johanna, auch etwas über die Klauenwesen zu lernen. Das Rudel sagte Dinge, die es tagsüber nie erwähnte. Größtenteils mussten diese Dinge für andere Klauenwesen selbstverständlich sein, obwohl man niemals darüber sprach. Das Menschenmädchen fragte sich, ob Königin Holzschnitzerin jemanden hatte, dem sie sich anvertrauen konnte.

Nur eins von Holzschnitzerins Gliedern war körperlich alt, zwei waren kaum mehr als Welpen. Das Grundmuster des Rudels aber war ein halbes Jahrtausend alt. Und das machte sich bemerkbar. Holzschnitzerins Seele wurde fast nur noch von schierer Willenskraft zusammengehalten. Der Preis der Unsterblichkeit war Inzucht gewesen. Der Grundstock war gesund gewesen, aber nach sechshundert Jahren… Eins von ihren jüngsten Gliedern musste immerfort sabbern, sie hielt ihm ständig ein Tuch ans Maul. Ein anderes hatte milchweise Augen anstelle tiefbrauner. Holzschnitzerin sagte, es sei stockblind, aber gesund und ihr bester Sprecher. Ihr ältestes Glied war sichtlich hinfällig, es schnappte immerzu nach Luft. Leider, sagte Holzschnitzerin, war es das aufgeweckteste und schöpferischste von allen. Wenn es starb…

Nachdem sie erst einmal danach suchte, konnte Johanna die Schwäche in der ganzen Holzschnitzerin sehen. Selbst die beiden gesündesten Glieder, kräftig und mit üppigem Fell, gingen ein wenig seltsam, verglichen mit normalen Rudelgliedern. Lag das an Deformationen des Rückens? Die beiden wurden auch dicker, was die Sache nicht vereinfachte.

Johanna erfuhr das alles nicht auf einmal. Holzschnitzerin hatte ihr von verschiedenen Angelegenheiten der Klauenwesen erzählt, und allmählich war auch ihre eigene Geschichte zum Vorschein gekommen. Sie schien froh zu sein, sich jemandem anvertrauen zu können, aber Johanna bemerkte ein wenig Selbstmitleid in ihr. Holzschnitzerin hatte diesen Weg gewählt – anscheinend hielten das manche für pervers – und länger als jedes andere Rudel in der überlieferten Geschichte den Wechselfällen der Wahrscheinlichkeit getrotzt. Sie war von Wehmut ergriffen, dass ihr Glück sie endlich doch im Stich ließ.

 

Die Architektur der Klauenwesen neigte zu Extremen – von grotesker Übergröße oder zu eng für Menschen. Holzschnitzerins Ratskammer lag am oberen Ende der Skala, es war kein gemütlicher Ort. In dem als Senke geformten Raum hätten dreihundert Menschen Platz gefunden, und das bequem. Die unterteilten Galerien, die rings an den oberen Wänden entlangliefen, hätten weitere hundert fassen können.

Johanna war schon früher oft genug hier gewesen, hier wurde die meiste Arbeit mit dem Datio getan. Für gewöhnlich waren sie selbst und Holzschnitzerin anwesend, und wer immer gerade Information benötigte. An diesem Tag war es anders, es ging überhaupt nicht um das Datio: Es war Johannas erste Ratsversammlung. Zwölf Rudel gehörten zum Hohen Rat, und sie waren alle da. Jede Loge enthielt ein Rudel, und drei standen am Boden. Johanna wusste mittlerweile genug über die Klauenwesen, um zu sehen, dass trotz all den leeren Zwischenräumen der Ort schrecklich überfüllt war. In der Luft hingen die Denkgeräusche von fünfzehn Rudeln. Ungeachtet all der gepolsterten Wandbehänge spürte sie ab und zu ein Surren im Kopf oder vom Geländer her in den Händen.

Johanna stand mit Holzschnitzerin auf dem größten Balkon. Als sie anlangten, befand sich Feilonius schon unten im Parterre und ordnete Diagramme. Während sich die Rudel des Rates erhoben, schaute er empor und sagte etwas zu Holzschnitzerin. Die Königin antwortete in Samnorsk: »Ich weiß, dass es den Ablauf verzögern wird, aber vielleicht ist das gut so.« Sie stieß ein menschliches Lachen aus.

Wanderer Wickwracknarb stand in der nächsten Loge, ganz wie ein Ratsrudel. Seltsam. Johanna hatte noch nicht herausgefunden, warum, aber Narbenhintern schien einer von Holzschnitzerins Favoriten zu sein. »Pilger, würdest du für Johanna übersetzen?«

Pilger ließ etliche Köpfe hochschnellen. »Ist… ist das in Ordnung, Johanna?«

Das Mädchen zögerte, dann nickte sie. Es hatte Sinn. Nach Holzschnitzerin sprach Pilger besser Samnorsk als jeder andere von ihnen. Als sich Holzschnitzerin hinsetzte, nahm sie das Datio von Johanna und ließ es aufschnappen. Johanna blickte auf die Zeichen auf dem Schirm. Sie hat sich Notizen gemacht. Sie konnte sich ihrer Überraschung kaum bewusst werden, ehe die Königin wieder sprach – diesmal in den kollernden Lauten der Zwischenrudel-Sprache. Nach einer Sekunde begann Pilger zu übersetzen:

»Setzt euch bitte alle. Hockt euch hin. Diese Versammlung ist auch so schon voll genug.« Johanna hätte fast gelächelt. Pilger Wickwracknarb war ziemlich gut. Er ahmte die menschliche Stimme Holzschnitzerins perfekt nach. Seine Übersetzung vermittelte sogar die trockene Autorität ihrer Rede.

Nach einigem Hin und Her waren nur noch ein, zwei Köpfe über der Brüstung jeder Loge zu sehen. Die meisten Streugedanken müssten jetzt von der Polsterung der Logen aufgefangen oder von den dicken Wandbehängen verschluckt werden, die ringsum an den Wänden hingen. »Feilonius, du kannst fortfahren.«

Im Parterre stand Feilonius auf und blickte in alle Richtungen. Er begann zu sprechen. »Danke«, übersetzte Pilger und imitierte nun den Tonfall des Sicherheitschefs. »Die Holzschnitzerin hat mich wegen der akuten Entwicklungen im Norden gebeten, diese Versammlung einzuberufen. Unsere Quellen dort berichten, dass Stahl das Gebiet um Johannas Sternenschiff befestigt.«

Gekoller Gekoller Unterbrechung. Scrupilo? »Das ist nicht neu. Dafür sind unsere Geschütze und das Schießpulver bestimmt.«

Feilonius: »Ja, wir kennen diese Pläne seit einiger Zeit. Nichtsdestoweniger ist das Datum ihrer Vollendung vorverlegt worden, und in der endgültigen Version werden die Mauern ein gutes Stück dicker sein, als wir es erwartet haben. Außerdem scheint Stahl, wenn die Ummauerung erst einmal komplett ist, das Sternenschiff auseinanderzunehmen und seine Ladung auf seine verschiedenen Laboratorien verteilen zu wollen.«

Für Johanna kamen diese Worte wie ein Tritt in den Magen. Vorher hatte es eine Chance gegeben: Wenn sie hart genug kämpften, würden sie vielleicht das Schiff zurückerobern. Sie könnte die Mission ihrer Eltern vollenden, vielleicht sogar gerettet werden.

Pilger sagte selbst etwas und übersetzte anschließend: »Was also ist die neue Frist?«

»Sie glauben, dass sie die Hauptmauern in knapp zehn Zehntagen fertig haben.«

Holzschnitzerin beugte ein Paar Nasen zur Tastatur herab und tippte eine Notiz ein. Gleichzeitig reckte sie einen Kopf über die Brüstung und schaute zu dem Sicherheitschef hinab. »Ich habe schon früher bemerkt, dass Stahl oft etwas zu optimistisch ist. Verfügst du über eine objektive Schätzung?«

»Ja. Die Mauern werden in acht bis elf Zehntagen fertig sein.«

»Ich hatte mit mindestens fünfzehn gerechnet. Ist das eine Reaktion auf unsere Pläne?«

Im Parterre sammelte sich Feilonius. »Das war unser erster Verdacht, Euer Majestät. Aber… wie Ihr wisst, haben wir eine Anzahl sehr spezieller Informationsquellen… Quellen, über die wir nicht einmal in diesem Kreis reden sollten.«

»Was für ein Angeber. Manchmal frage ich mich, ob er alles weiß. Ich habe nie gesehen, dass er seine eigenen Hintern nach draußen vor Ort bewegt hätte.« Ha? Johanna brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, dass Pilger einen Kommentar einstreute. Sie schaute über die Brüstung. Drei von Pilgers Köpfen waren zu sehen, sie blickten in ihre Richtung. Den Ausdruck auf ihnen erkannte sie als törichtes Lächeln. Es schien weiter niemand auf seine Bemerkung zu reagieren, anscheinend konnte er seine Übersetzung auf Johanna allein fokussieren.

Sie starrte ihn an, und nach einem Moment fuhr er wieder mit nüchterner Übersetzung fort: »Stahl weiß, dass wir einen Angriff planen, aber er weiß nichts über unsere besonderen Waffen. Diese Änderung des Zeitplans scheint einem zufälligen Verdacht zu entspringen. Leider gereicht sie uns zum Schaden.«

Drei oder vier Ratsmitglieder begannen gleichzeitig zu sprechen. »Viel lautes Unbehagen«, fasste Pilger zusammen. »Lauter ›Ich habe gewusst, dass es niemals klappen könnte‹ und ›Warum haben wir uns überhaupt auf den Plan eingelassen, die Flenseristen anzugreifen?‹.«

Unmittelbar rechts von Johanna stieß Holzschnitzerin einen schrillen Pfiff aus. Die gegenseitigen Beschuldigungen verstummten allmählich. »Manche von euch vergessen ihren Mut. Wir haben uns auf den Angriff der Verborgenen Insel geeinigt, weil sie seit langem eine tödliche Bedrohung ist, die wir mit Johannas Kanonen glauben vernichten zu können – und weil sie mit Gewissheit uns vernichten können, wenn Stahl jemals lernt, das Sternenschiff zu gebrauchen.« Eins von Holzschnitzerins Gliedern, das am Boden kauerte, strich über Johannas Knie.

Pilgers fokussierte Stimme kicherte in ihrem Ohr. »Und dann ist da noch die Kleinigkeit, dich heimzubringen und Kontakt mit den Sternen aufzunehmen, aber das kann sie den ›Pragmatikern‹ nicht laut sagen. Falls du es nicht schon erraten hast – das ist einer der Gründe für deine Anwesenheit: die Schwachköpfe daran zu erinnern, dass es mehr Dinge im Himmel gibt, als sie sich jemals haben träumen lassen.«

Er hielt inne und nahm die Übersetzung von Holzschnitzerins Worten wieder auf: »Es war kein Fehler, diesen Feldzug in Angriff zu nehmen: Ihn zu vermeiden, wäre ebenso tödlich wie zu kämpfen und zu verlieren. Also – haben wir eine Chance, eine handlungsfähige Armee rechtzeitig die Küste hinauf zu bringen?« Sie wies mit einer Nase auf eine Loge auf der anderen Seite des Raums. »Scrupilo. Fasse dich bitte kurz.«

»Das Letzte, was Scrupilo kann, ist, sich kurz zu fassen – oh, Verzeihung.« Wieder eine Randbemerkung von Wanderer.

Scrupilo ließ ein paar Köpfe mehr sehen. »Ich habe das schon mit Feilonius durchgesprochen, Euer Majestät. Eine Armee aufzustellen, die Küste hinaufzumarschieren – das alles wäre ohne weiteres in weniger als zehn Zehntagen möglich. Das Problem sind die Geschütze, und vielleicht auch, Rudel den Umgang damit üben zu lassen. Das ist mein besonderer Verantwortungsbereich.«

Holzschnitzerin warf eine abrupte Bemerkung ein.

»Ja, Majestät. Wir haben das Schießpulver. Es ist genauso wirkungsvoll, wie das Datio sagt. Die Kanonenrohre waren bisher ein viel größeres Problem. Bis vor kurzem riss das Metall beim Abkühlen am Verschluss. Ich denke, wir haben das jetzt im Griff. Zumindest habe ich zwei makellose Kanonenrohre. Ich hatte gehofft, sie mehrere Zehntage lang erproben zu können…«

Holzschnitzerin unterbrach ihn: »… aber das können wir uns jetzt nicht mehr leisten.« Alle von ihr standen auf, und sie blickte sich überall im Saal um. »Ich will, dass die Versuche sofort mit ganzer Kraft beginnen. Wenn sie gelingen, werden wir so schnell wie möglich mit der Herstellung von Kanonenrohren beginnen.« Und wenn nicht…

 

Zwei Tage später…

Das Komischste war, dass Scrupilo von Johanna erwartete, sie würde das Kanonenrohr begutachten, ehe er es abfeuerte. Das Rudel ging aufgeregt um die Lafette herum und erklärte etwas in einem schauderhaften Samnorsk. Johanna folgte ihm mit gerunzelter Stirn. Ein paar Meter abseits, größtenteils hinter einer Böschung verborgen, beobachteten Holzschnitzerin und ihr Rat die Übung. Nun ja, das Ding wirkte ziemlich echt. Sie hatten es auf einem kleinen Wagen angebracht, der unter dem Rückstoß nach hinten in einen Haufen Erde rollen konnte. Das Rohr selbst war im ganzen Stück gegossen, etwa einen Meter lang und mit einem Kaliber von zehn Zentimetern. Schießpulver und die Kugel kamen von vorn hinein. Das Pulver wurde durch ein winziges Zündloch am hinteren Ende zur Explosion gebracht.

Johanna fuhr mit der Hand über das Rohr. Die bleigraue Oberfläche war höckrig, und in dem Metall schienen Schlacketeile eingeschlossen zu sein. Nicht einmal die Wände der Bohrung waren völlig glatt; würde das etwas ausmachen? Scrupilo erklärte gerade, wie er Stroh in den Gussformen verwendet hatte, damit das Metall beim Abkühlen nicht riss. Ah ja. »Du solltest es erst einmal mit kleinen Mengen Schießpulver versuchen«, sagte sie.

Scrupilos Stimme wurde ein bisschen vertraulich, enger fokussiert. »Ganz unter uns, das habe ich getan. Es ging sehr gut. Und nun die Generalprobe.«

Hm. Du bist also keine totale Lusche. Sie lächelte den Nächsten von ihm an, ein Glied, das überhaupt kein Schwarz im Kopffell hatte. Auf eine komische Art erinnerte Scrupilo sie an die Wissenschaftler im Hochlabor.

Scrupilo trat von der Kanone zurück und sagte laut: »Es ist alles richtig, dass ich jetzt anfangen kann?« Zwei von ihm blickten nervös auf die Ratsmitglieder hinter der Böschung.

»Äh… ja… es sieht gut aus.« Kein Wunder, die Konstruktion war unmittelbar von den nyjoranischen Modellen in Johannas Geschichtsdateien kopiert. »Aber sei vorsichtig – wenn es nicht richtig funktioniert, kann es jeden in der Nähe umbringen.«

»Ja, ja.« Nachdem er ihre offizielle Billigung erhalten hatte, kam Scrupilo auf ihre Seite des Geschützes und scheuchte sie hinter die Deckung. Während sie nach hinten zu Holzschnitzerin ging, redete er in der Klauensprache weiter, zweifellos erläuterte er den Versuch.

»Glaubst du, dass es klappen wird?«, fragte Holzschnitzerin sie leise. Sie wirkte noch gebrechlicher als sonst. Man hatte auf dem feuchten Heidekraut hinter der Böschung eine gewebte Matte für sie ausgebreitet. Die meisten von ihr lagen still, die Köpfe zwischen den Pfoten. Das Blinde sah aus, als schliefe es; der junge Sabberer kuschelte sich an es und zuckte nervös. Wie üblich, war Wanderer Wickwracknarb in der Nähe, doch er übersetzte jetzt nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Scrupilo.

Johanna dachte an das Stroh, das Scrupilo in den Gussformen verwendet hatte. Holzschnitzerins Leute versuchten ihr wirklich zu helfen, aber… Sie schüttelte den Kopf. »Ich… Wer weiß.« Sie kniete sich hin und schaute über die Böschung. Das Ganze sah wie eine Zirkusnummer aus einer Geschichtsdatei aus. Da waren die Tiere, die auftraten, da die Kanone. Es gab sogar ein Zirkuszelt: Feilonius hatte darauf bestanden, die Operation vor den Blicken möglicher Spione in den Bergen abzuschirmen. Der Feind sah vielleicht etwas, aber je länger es Stahl an Einzelheiten fehlte, um so besser.

Das Scrupilo-Rudel machte sich bei der Kanone zu schaffen und redete die ganze Zeit. Zwei von ihm hievten ein Pulverfässchen hoch, und er begann, das Zeug ins Rohr zu schütten. Ein Pfropfen von Seidenpapier folgte dem Pulver. Er stopfte ihn fest, dann lud er die Kanonenkugel. Gleichzeitig drehten seine übrigen den Wagen herum, sodass er aus dem Zelt hinaus zeigte.

Sie waren an der Waldseite des Burghofes, zwischen der alten und der neuen Mauer. Johanna konnte ein Stückchen grünen Abhang sehen, dazu tiefhängende Nieselwolken. Etwa hundert Meter entfernt befand sich die alte Mauer. Es war derselbe Mauerzug, wo Schreiber ermordet worden war. Selbst wenn die verdammte Kanone nicht explodierte, hatte niemand eine Ahnung, wie weit der Schuss gehen würde. Johanna hätte gewettet, dass er nicht einmal bis zur Mauer reichen würde.

Scrupilo war jetzt auf dieser Seite der Kanone und versuchte, einen langen Zündstock anzuzünden. Mit einem flauen Gefühl im Magen wusste Johanna, dass das nicht gutgehen konnte. Sie waren allesamt Narren und Amateure, sie selbst ebenso wie die anderen. Und dieser arme Kerl wird gleich für nichts und wieder nichts sterben.

Johanna richtete sich auf. Ich muss es unterbinden. Jemand fasste sie am Gürtel und zog sie hinab. Es war eins von Holzschnitzerins Gliedern, eins von den fetten, die nicht ganz richtig gehen konnten. »Wir müssen es versuchen«, sagte das Rudel leise.

Scrupilo hatte den Stock jetzt angezündet. Plötzlich hörte er auf zu reden. Alle von ihm außer dem mit dem weißen Kopf liefen in die Deckung der Böschung. Einen Moment lang erschien das Johanna als sonderbare Feigheit, und dann begriff sie: Ein Mensch, der mit einem Explosivstoff herumspielte, würde auch versuchen, seinen Körper zu schützen – außer der Hand, die das Streichholz hielt. Scrupilo riskierte eine Verstümmelung, aber nicht den Tod.

Der mit dem weißen Kopf schaute über die niedergetretene Heide zurück zu Scrupilo. Er schien weniger bestürzt zu sein als vielmehr eindringlich zu lauschen. In dieser Entfernung konnte er nicht mehr Teil von Scrupilos Verstand sein, aber das Geschöpf war vermutlich klüger als jeder Hund – und anscheinend erhielt es eine Art Anweisung von den übrigen.

Weißkopf wandte sich um und ging zur Kanone. Den letzten Meter kroch er auf dem Bauch und nutzte das bisschen Deckung, das das Erdreich seitlich hinter der Lafette bot. Er hielt den Stock so, dass die Flamme am Ende sich langsam auf das Zündloch senkte. Johanna duckte sich hinter die Böschung…

Die Explosion war ein scharfer Knall. Holzschnitzerin drängte sich zitternd an sie, und pfeifende Schmerzlaute erklangen ringsum im Zelt. Der arme Scrupilo! Johanna fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Ich muss hinschauen, ich bin mitverantwortlich. Langsam stand sie auf und zwang sich, über das Feld zu blicken, wo vor einer Minute die Kanone gestanden hatte… – und immer noch stand! Dichter Rauch quoll aus beiden Enden, aber das Rohr war heil. Mehr noch, Weißkopf schwankte benommen bei dem Wagen, das weiße Fell mit Ruß bedeckt.

Der Rest von Scrupilo rannte zu Weißkopf hinaus. Alle fünf von ihm liefen immer rund um die Kanone und sprangen triumphierend übereinander. Für einen langen Augenblick starrte das übrige Publikum schweigend hin. Die Kanone war ganz. Der Kanonier hatte überlebt. Und fast eine Nebenwirkung – Johanna schaute über die Kanone hinweg den Hang hinauf: In der Krone der alten Mauer war eine meterbreite Bresche, die vorher nicht dagewesen war. Feilonius würde zu tun haben, das vor den Augen des Feindes zu verbergen!

Die dumpfe Stille wich dem lautesten Tumult, den Johanna bisher erlebt hatte. Es gab das übliche Kollern und auch andere Laute – ein Zischen hart an der Hörgrenze. Auf der anderen Seite des Zeltes liefen zwei Klauenwesen, die sie nicht kannte, ineinander: Für einen Moment des vernunftlosen Jubels waren sie ein riesiges Rudel von neun oder zehn Gliedern.

Wir werden das Schiff doch noch zurückbekommen! Johanna wandte sich Holzschnitzerin zu, um sie zu umarmen. Doch die Königin hatte nicht ins allgemeine Geschrei eingestimmt. Sie hatte sich zitternd zusammengedrängt, die Köpfe eng beieinander. »Holzschnitzerin?« Sie streichelte den Hals eines der Fetten, Großen. Es schnellte mit zuckendem Körper weg.

Ein Schlag? Ein Herzanfall? Die Namen des Todes aus alter Zeit kamen ihr in den Sinn. Aber wie würden sie bei einem Rudel wirken? Etwas war schrecklich falsch, und weiter niemand hatte es bemerkt. Johanna sprang auf. »Pilger!«, schrie sie.

 

Fünf Minuten später hatten sie Holzschnitzerin aus dem Zelt gebracht. Der Ort war immer noch ein Irrenhaus, jetzt aber für Johannas Ohren tödlich still. Sie hatte der Königin auf ihren Wagen geholfen, doch danach wollte niemand sie in die Nähe lassen. Sogar Pilger, der tags zuvor alles so eifrig übersetzt hatte, schob sie beiseite. »Es geht in Ordnung«, war alles, was er sagte, als er ans Vorderende des Wagens lief und die Zügel der zottigen Dingsdas packte. Der Wagen fuhr los, umringt von mehreren Rudeln Wachen. Für einen Augenblick schlug die Fremdartigkeit der Klauenwelt wieder über Johanna zusammen. Das war offensichtlich ein schwerer Notfall. Möglicherweise lag eine Person im Sterben. Leute rannten hin und her. Und dennoch… Die Rudel zogen sich in sich selbst zusammen. Niemand kam den anderen näher. Niemand konnte einen anderen berühren.

Der Augenblick ging vorüber, und Johanna lief aus dem Zelt hinaus, dem Wagen nach. Sie bemühte sich, auf der Heide neben dem schlammigen Weg zu laufen, und holte den Wagen fast ein. Alles war nass und kalt, grau wie das Kanonenmetall. Jedermann hatte sich so sehr auf den Versuch konzentriert – war das vielleicht noch ein Attentat der Flenseristen? Johanna strauchelte, fiel im Schlamm auf die Knie. Der Wagen fuhr um eine Ecke, aufs Steinpflaster. Jetzt war er außer Sicht. Sie stand auf und trabte weiter durch die Nässe, jetzt aber etwas langsamer. Sie konnte nichts tun, nichts tun. Sie hatte sich mit Schreiber angefreundet, und Schreiber war ermordet worden. Sie hatte sich mit Holzschnitzerin angefreundet, und nun…

Sie ging die gepflasterte Gasse zwischen den Lagerhäusern der Burg entlang. Der Wagen war außer Sicht, doch sie hörte weiter vorn sein Klappern. Feilonius’ Sicherheitsrudel liefen in beiden Richtungen an ihr vorbei und hielten kurz in Seitennischen an, um die Entgegenkommenden vorbeizulassen. Niemand antwortete auf ihre Fragen – wahrscheinlich sprach überhaupt niemand von ihnen Samnorsk.

Beinahe hätte sich Johanna verlaufen. Sie konnte den Wagen hören, doch er war irgendwo umgekehrt. Hinter sich hörte sie ihn wieder. Sie brachten Holzschnitzerin ins Johannas Hütte! Sie ging zurück und wenige Minuten später den Weg zu dem einstöckigen Gebäude hinauf, das sie die letzten Wochen mit Holzschnitzerin geteilt hatte. Sie war zu fertig, als dass sie noch rennen konnte. Langsam ging sie den Hang hinan, sich ihres nassen und schmutzigen Zustandes vage bewusst. Der Wagen hatte etwa fünf Meter vor der Tür angehalten. Wachrudel hatten sich über den Hügel verteilt, ihre Armbrüste aber nicht gespannt.

Das nachmittägliche Sonnenlicht fand eine Lücke zwischen den Wolken im Westen und schien für einen Moment auf das feuchte Heidekraut und die glänzenden Holzwände, ließ sie hell vom dunklen Himmel über den Anhöhen abstechen. Es war eine Kombination von Licht und Dunkelheit, die Johanna immer besonders schön gefunden hatte. Bitte lass sie gesund sein.

Die Wachen ließen sie vorbei. Wanderer Wickwracknarb stand am Eingang, und drei von ihm sahen zu, wie sie näher kam. Der vierte, Narbenhintern, hatte seinen langen Hals durch die Türöffnung gesteckt und beobachtete, was immer drinnen geschehen mochte. »Sie wollte wieder hier sein, wenn es geschieht«, sagte er.

»W-was geschieht?«, fragte Johanna.

Pilger machte das Gegenstück eines Achselzuckens. »Es war der Schock der losgehenden Kanone. Aber alles Mögliche hätte dasselbe bewirken können.« Etwas war seltsam an der Art, wie seine Köpfe auf und ab wogten. Erschüttert begriff Johanna, dass das Rudel vergnügt lächelte.

»Ich will sie sehen!« Narbenhintern wich hastig zurück, als sie auf die Tür zu ging.

Drinnen gab es nur das Licht von der Tür und den hohen Fensterschlitzen. Es dauerte eine Sekunde, bis sich Johannas Augen eingewöhnt hatten. Etwas roch… nass. Holzschnitzerin lag im Kreis auf der gefütterten Matratze, die sie allabendlich benutzte. Johanna ging durch den Raum und kniete sich neben das Rudel. Das Rudel wich nervös vor ihrer Berührung zurück. In der Mitte der Matratze war Blut und etwas, das aussah wie ein Haufen Eingeweide. Johanna fühlte den Drang, sich zu übergeben. »Holzschnitzerin?«, sagte sie ganz leise.

Eins von der Königin kam wieder auf Johanna zu und legte die Schnauze in die Hand des Mädchens. »Hallo, Johanna. Es ist… so seltsam…, zu so einer Zeit jemanden bei sich zu haben.«

»Du blutest. Was ist passiert?«

Leises, menschlich klingendes Lachen. »Ich bin verletzt, aber es ist gut… Schau her.« Das Blinde hielt etwas Kleines und Nasses zwischen den Kiefern. Eins von den anderen leckte daran. Was immer es sein mochte, es zappelte, lebte. Und Johanna fiel wieder ein, wie sonderbar plump und unbeholfen Holzschnitzerin geworden war.

»Ein Baby?«

»Ja. Und in ein, zwei Tagen kriege ich noch eins.«

Johanna setzte sich auf die Holzdielen und schlug die Hände vors Gesicht. Gleich würde sie wieder zu weinen anfangen. »Warum hast du mir nichts gesagt?«

Holzschnitzerin schwieg eine Weile. Sie leckte das Kleine ringsum ab, dann setzte sie es an den Bauch des Gliedes, das die Mutter sein musste. Das Neugeborene schmiegte sich an, stukte die Nase in das Fell am Bauch. Es gab keinerlei Laute von sich, die Johanna hören konnte. Schließlich sagte die Königin: »Ich… ich weiß nicht, ob du das verstehen wirst. Das ist sehr schwer für mich gewesen.«

»Kinder zu kriegen?« Johannas Hände waren klebrig vom Blut auf der Matte. Natürlich war es schwer gewesen, aber so muss auf einer Welt wie dieser ja jedes Leben beginnen. Es war ein Schmerz, der des Beistandes von Freunden bedurfte, ein Schmerz, der zur Freude führte.

»Nein. Es ist nicht das Kinderkriegen. Ich habe mehr als hundert geboren, soweit ich zurückdenken kann. Aber diese beiden… sind mein Ende. Wie sollst du das verstehen? Ihr Menschen habt nicht einmal die Wahl, ob ihr weiterleben wollt; eure Nachkommen können niemals ihr selbst sein. Für mich aber bedeutet es das Ende einer Seele, die sechshundert Jahre alt ist. Weißt du, ich habe vor, diese beiden als Teil von mir zu behalten – und zum ersten Mal in all den Jahrhunderten bin ich nicht sowohl Mutter als auch Vater. Eine Neukunft werde ich sein.«

Johanna schaute auf das Blinde und den Sabberer. Sechshundert Jahre Inzucht. Wie lange hätte Holzschnitzerin so weitermachen können, bevor der Verstand selbst verfiel? Nicht sowohl Mutter als auch Vater.

»Aber wer ist dann der Vater?«, platzte sie heraus.

»Was meinst du wohl?« Die Stimme kam von unmittelbar hinter der Tür. Einer von Wanderer Wickwracknarbs Köpfen lugte gerade weit genug um die Ecke, dass ein Auge zu sehen war. »Wenn Holzschnitzerin einen Entschluss fasst, tut sie es gründlich. Sie ist die am sorgsamsten beisammengehaltene Seele aller Zeiten gewesen. Doch nun hat sie Blut – Gene, würde das Datio sagen – von Rudeln aus aller Welt, von einem der bröckligsten Pilger, der je seine Seele in den Wind verstreut hat.«

»Und von einem der klügsten«, sagte Holzschnitzerin mit Ironie und Schwermut zugleich in der Stimme. »Die neue Seele wird mindestens so intelligent wie vorher sein, und wahrscheinlich viel flexibler.«

»Und ich bin selber ein bisschen schwanger«, sagte Pilger. »Aber ich bin überhaupt nicht traurig. Ich bin schon zu lange ein Viersam gewesen. Stell dir vor, Welpen von Holzschnitzerin selbst zu haben! Vielleicht werde ich ganz konservativ und sesshaft.«

»Ha! Nicht einmal zwei von mir reichen aus, um deine Pilgerseele zu bremsen.«

Johanna hörte dem Wortgeplänkel zu. Die Gedanken waren so fremdartig, und dennoch wirkten die Obertöne von Zuneigung und Humor vertraut. Als Johanna gerade erst fünf gewesen war und Mutti und Vati den kleinen Jefri nach Hause gebracht hatten… Johanna konnte sich nicht an die Worte erinnern, nicht einmal an den Inhalt dessen, was sie gesagt hatten – der Ton aber war derselbe wie zwischen Holzschnitzerin und Pilger.

Johanna ließ sich in eine sitzende Haltung zurücksinken, und die Anspannung des Tages löste sich. Scrupilos Artillerie funktionierte wirklich; es bestand eine Chance, das Schiff zu bekommen. Und selbst wenn es misslang – ein klein wenig fühlte sie sich, als sei sie wieder daheim.

»Darf ich… darf ich dein Junges streicheln?«