FÜNFZEHN
Zwei Skrodfahrer spielten in der
Brandung.
»Glaubst du, dass sein Leben in Gefahr ist?«, fragte der eine mit der grünen unteren Muschelschale.
»Wessen Leben?«, erwiderte der andere, ein großer Fahrer mit schlankem bläulichen Stiel.
»Von Jefri Olsndot, dem Menschenkind.«
Blaustiel seufzte und befragte seinen Skrod. An den Strand kommt man, um die Alltagssorgen zu vergessen, doch Grünmuschel wollte sie nicht sein lassen. Er durchmusterte den Gedächtnisverstärker nach ›Gefahr für Jefri‹. »Natürlich ist er in Gefahr, du Schussel! Sieh dir die letzten Botschaften von ihm an.«
»Oh.« Grünmuschels Ton drückte Verlegenheit aus. »Entschuldige die unvollständige Erinnerung« – genug, um sich Sorgen zu machen, mehr aber nicht. Sie verstummte; nach einer Weile hörte er sie wohlig summen. Die Brandung schlug endlos an ihnen vorbei.
Blaustiel öffnete sich dem Wasser und schmeckte das Leben, das in der Kraft der Wellen wirbelte. Es war ein schöner Strand. Er war wahrscheinlich einmalig – und das konnte man von den wenigsten Dingen im Jenseits sagen. Wenn die Gischt von ihren Körpern zurückwich, sahen sie den indigofarbenen Himmel, der sich von einer Seite der Docks zur anderen breitete, und das Glitzern der Sternenschiffe. Wenn die Brandung herankam, tauchten die beiden Fahrer in dem kalten Strudel unter, umgeben von Korallesken und Geschöpfen der Gezeitenzone, die hier ihre kleinen Behausungen bauten. Und bei ›Hochwasser‹ blieb die Beugung des Meeres für etwa eine Stunde konstant. Dann wurde das Wasser klarer, und bei Tageslicht konnten sie Fleckchen von dem glasigen Meeresgrund sehen – und durch sie hindurch tausend Kilometer tiefer die Oberfläche von DaUnten.
Blaustiel versuchte, sein Denken von den Kümmernissen zu befreien. Für jede Stunde friedlicher Kontemplation würden sich ein paar weitere natürliche Erinnerungen ansammeln… Vergebens. Momentan konnte er die Sorgen ebenso wenig verbannen wie Grünmuschel. Nach einer Weile sagte er: »Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Minderer Fahrer.« Ein Leben lang am selben Ort zu stehen und nur ein Minimum an Skrod zu besitzen.
»Ja«, sagte Grünmuschel. »Aber wir haben beschlossen umherzuwandern. Das heißt, bestimmte Dinge aufzugeben. Manchmal müssen wir uns an Dinge erinnern, die nur ein- oder zweimal geschehen. Manchmal haben wir große Abenteuer; ich bin froh, dass wir den Vertrag über die Rettungsexpedition abgeschlossen haben, Blaustiel.«
Keiner von ihnen war also gerade in der richtigen Stimmung fürs Meer. Blaustiel senkte die Räder ihres Skrods ab und fuhr ein bisschen dichter an Grünmuschel heran. Er blickte tief ins mechanische Gedächtnis seines Skrods und durchforstete die allgemeinen Datenbanken. Es stand eine Menge über Katastrophen darin. Wer immer die ursprünglichen Datenbanken der Skrods angelegt hatte, hatte Kriege und PEST-Epidemien und PERVERSIONEN sehr wichtig gefunden. Es waren aufregende Sachen, und sie konnten einen umbringen.
Doch Blaustiel sah auch, dass im richtigen Verhältnis betrachtet solche Katastrophen einen kleinen Teil der Zivilisationserfahrung ausmachten. Nur etwa einmal pro Jahrtausend gab es eine massive PERVERSION. Es war einfach Pech für sie, dass es sie in der Nähe von dergleichen erwischte. In den letzten zehn Wochen war ein Dutzend Zivilisationen im Hohen Jenseits vom Netz abgefallen, waren in das symbiotische Amalgam absorbiert worden, das man jetzt die Straumli-PEST nannte. Der Handel mit dem Hohen Jenseits hatte Schaden genommen. Seit sie ihr Schiff erworben hatten, hatten er und Grünmuschel etliche Aufträge geflogen, doch alle im Mittleren Jenseits.
Die beiden waren immer sehr vorsichtig gewesen, nun aber – wie Grünmuschel sagte – mochte es sein, dass ihnen Großtaten aufgezwungen wurden. Die Vrinimi-Org wollte einem geheimen Flug zum Grunde des Jenseits in Auftrag geben. Da er und Grünmuschel schon in das Geheimnis eingeweiht waren, fiel die Wahl naturgemäß auf sie. Zur Zeit befand sich die Aus der Reihe II in den Werftanlagen der Vrinimi-Org, wo zusätzliche Grundschlepper-Ausrüstungen eingebaut und ein großer Vorrat von ferngesteuerten Antennenprojektilen an Bord gebracht wurden. Auf einen Schlag hatte sich der Wert der ADR verzehntausendfacht. Sie hatten nicht einmal feilschen müssen!… und das war das Beängstigendste. Jeder Zusatz war offensichtlich für den Ausflug unerlässlich. Sie würden bis ganz nahe an den Rand des Langsam hinabsteigen. Unter den günstigsten Umständen wäre das eine langweilige Übung, doch die letzten Berichte meldeten Bewegung in den Zonengrenzen. Wenn sie Pech hatten, konnten sie auf die falsche Seite geraten, wo die Lichtgeschwindigkeit das Maximum war. Falls das geschähe, wäre der neue Staustrahlantrieb ihre einzige Hoffnung.
All dies lag im Rahmen dessen, was Blaustiel als Geschäft akzeptieren konnte. Ehe er Grünmuschel begegnet war, war er auf Grundschleppern gefahren, sogar ein-, zweimal gestrandet gewesen. Doch… »Ich mag das Abenteuer so sehr wie du«, sagte Blaustiel, und ein grantiger Ton schlich sich in seine Stimme. »Zum Grunde zu reisen, Vernunftwesen aus den Klauen wilder Bestien zu befreien – wenn man genug Geld hat, hat das vielleicht alles Sinn. Aber… was, wenn das Schiff der Straumer wirklich so wichtig ist, wie Ravna glaubt? Nach all der Zeit wirkt es absurd, doch sie hat die Vrinimi-Org von der Möglichkeit überzeugt. Wenn es da unten etwas gibt, das der Straumli-PEST schaden könnte…« Wenn der PEST jemals dieser Verdacht kam, konnte sie eine Flotte von zehntausend Kriegsschiffen zu ihrem Ziel hinabschicken. Unten am Grunde würden sie nicht viel besser als konventionelle Schiffe sein, aber er und Grünmuschel wären trotz allem tot.
Abgesehen von einem Summen wie im Tagtraum schwieg Grünmuschel. Hatte sie den Gesprächsfaden verloren? Dann drang ihre Stimme durchs Wasser zu ihm, eine Sicherheit gebende Liebkosung. »Ich weiß, Blaustiel, es könnte unser Ende sein. Und dennoch will ich es wagen. Wenn es ungefährlich ist, machen wir riesigen Gewinn. Wenn unser Flug der PEST Schaden zufügen könnte…, nun, dann ist er schrecklich wichtig. Unsere Hilfe könnte vielleicht Dutzende von Zivilisationen retten – und nebenbei Millionen von Stränden mit Skrodfahrern.«
»Hmm. Du gehst nach dem Stiel statt dem Skrod.«
»Wahrscheinlich.« Sie hatten das Vordringen der PEST von ihren Anfängen an verfolgt. Die Gefühle von Entsetzen und Mitleid waren jeden Tag verstärkt worden, bis sie sich in ihren natürlichen Persönlichkeiten festsetzten. Daher waren Grünmuschels Gefühle (und auch Blaustiels – er konnte es nicht leugnen) in bezug auf die PEST stärker als jene gegenüber der Gefahr, die mit ihrem neuen Vertrag verknüpft war. »Wahrscheinlich. Meine Befürchtungen wegen der Rettungsaktion sind noch analytisch« – noch an ihren Skrod gebunden. »Dennoch… glaube ich, wir könnten ein Jahr lang hier stehen bleiben, ehe wir wirklich alle Aspekte empfinden würden… Ich glaube, wir sollten uns trotzdem für den Flug entscheiden.«
Blaustiel rollte unstet vor und zurück. Der feine Sand wurde hoch und zwischen seinen Wedeln hindurch gewirbelt. Sie hatte Recht, sie hatte Recht. Doch er konnte es nicht laut sagen; der Auftrag flößte ihm immer noch Angst ein.
»Und bedenke, Partner: Wenn es wirklich so wichtig ist, können wir vielleicht Hilfe bekommen. Du weißt, dass die Org mit dem Abgesandten Apparat verhandelt. Mit etwas Glück erhalten wir am Ende einen Geleitschutz, entworfen von einer Transzendenten MACHT.«
Das Bild hätte Blaustiel beinahe zum Lachen gebracht. Zwei kleine Skrodfahrer auf der Reise zum Grunde des Jenseits – umgeben von Hilfe aus dem Transzens. »Ich will es hoffen.«
Nicht nur die Skrodfahrer hegten diesen Wunsch. Weiter oben am Strand ging Ravna Bergsndot in ihrem Büro auf und ab. Welch grausame Ironie, dass selbst die größten Katastrophen anständigen Leuten Chancen eröffnen können. Beim Untergang der Schiedskünste war ihre Übernahme in die Marketing-Abteilung auf Dauer festgelegt worden. In dem Maße, wie sich die PEST ausbreitete und die Märkte im Hohen Jenseits zusammenbrachen, wuchs das Interesse der Org noch weiter, Informationsdienste über die Straumli-PERVERSION bereitzustellen. Ihre ›Fachkenntnisse‹ in menschlichen Angelegenheiten erhielten mit einem Mal außerordentlich hohen Wert – ungeachtet der Tatsache, dass der Straumli-Bereich selbst nur ein kleiner Teil von dem war, was jetzt die PEST ausmachte. Das wenige, was die PEST über sich selbst sagte, kam oft in Samnorsk. Grondr & Co. waren weiterhin lebhaft an ihrer Analyse interessiert.
Nun ja, sie hatte einiges geleistet. Sie hatten das ›Hier bin ich‹ des Flüchtlingsschiffs aufgefangen und dann, neunzig Tage später, eine Botschaft von einem überlebenden Menschen, Jefri Olsndot. Gerade einmal vierzig Botschaften hatten sie ausgetauscht, doch genug, um von den Klauenwesen und Herrn Stahl und den bösen Holzschnitzern zu erfahren. Genug, um zu wissen, dass ein kleines Menschenleben ausgelöscht würde, wenn sie nicht helfen könnte. Bei aller Ironie war es natürlich: Meistens bedeutete ihr dieses einzelne Leben mehr als alle Schrecken der PERVERSION, selbst der Untergang des Straumli-Bereichs. Den MÄCHTEN sei Dank, dass Grondr die Rettungsexpedition gebilligt hatte: Es war eine Gelegenheit, etwas Wichtiges über die Straumli-PERVERSION in Erfahrung zu bringen. Und die Klauenrudel schienen ihn auch zu interessieren; Gruppenpersönlichkeiten waren im Jenseits rar und vergänglich. Grondr hatte die ganze Angelegenheit geheimgehalten und seine Chefs davon überzeugt, die Mission zu unterstützen. Doch all seine Hilfe reichte vielleicht nicht aus. Wenn das Flüchtlingsschiff so wichtig war, wie Ravna glaubte, konnten riesige Gefahren jeden Retter erwarten.
Ravna blickte über die Brandung hin. Wenn die Wellen über den Sand zurückrollten, sah sie die Wedel der Skrodfahrer aus der Gischt ragen. Wie sie sie beneidete: Wenn ihnen Spannungen lästig wurden, konnten sie sie einfach abschalten. Die Skrodfahrer gehörten zu den am weitesten verbreiteten Vernunftwesen im Jenseits. Es gab viele Abarten, doch in einem stimmten Analyse und Legenden überein: Vor sehr langer Zeit waren sie eine einzige Art gewesen. Irgendwann in der Vergangenheit außerhalb des Netzes waren sie sesshafte Bewohner von Meeresstränden gewesen. Sich selbst überlassen, hatten sie eine Form der Intelligenz entwickelt, der fast jedes Kurzzeitgedächtnis abging. Sie saßen in der Brandung und dachten Gedanken, die keine Spuren in ihrem Geist hinterließen. Nur die Wiederholung eines Stimulus über eine gewisse Zeit hinweg konnte das bewirken. Dennoch hatten die Intelligenz und das Gedächtnis, die sie besaßen, einen Überlebenswert: Sie ermöglichten es ihnen, die besten Stellen zum Ausstreuen ihres Puppensamens auszuwählen, Orte, die Sicherheit und Nahrung für die nächste Generation bedeuteten.
Dann war eine unbekannte Rasse auf die Träumer gestoßen und hatte beschlossen, ihnen ›aus der Klemme zu helfen‹. Jemand hatte sie auf fahrbare Untersätze gesetzt, die Skrods. Mit Rädern konnten sie sich die Strände entlang bewegen, konnten mit ihren Wedeln und Ranken zufassen und hantieren. Mit Hilfe des mechanischen Kurzzeitgedächtnisses ihrer Skrods konnten sie schnell genug lernen, um von ihrer neu erworbenen Beweglichkeit nicht umgebracht zu werden.
Ravna wandte den Blick von den Skrodfahrern ab – jemand schwebte über die Bäume heran. Der Abgesandte Apparat. Vielleicht sollte sie Grünmuschel und Blaustiel aus dem Wasser rufen. Nein. Sollten sie es noch eine Weile genießen. Wenn sie es nicht fertigbrachte, die Spezialausrüstung zu bekommen, würde es für sie später noch schwer genug werden…
Außerdem komme ich auch ohne Zeugen aus. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in den Himmel. Die Vrinimi-Org hatte versucht, mit dem ALTEN darüber zu sprechen, doch neuerdings wollte die MACHT nur durch ihren Abgesandten Apparat agieren… und er hatte auf einem Treffen von Angesicht zu Angesicht bestanden.
Der Abgesandte landete ein paar Meter entfernt und verneigte sich. Sein schiefes Grinsen verdarb den Effekt. »Pham Nuwen, zu Diensten.«
Ravna deutete ihrerseits eine Verbeugung an und führte ihn in den Schatten ihres Büroinneren. Wenn er glaubte, sie Angesicht zu Angesicht nervös machen zu können, dann hatte er Recht. »Danke, dass Sie gekommen sind, mein Herr. Die Vrinimi-Org hat ein wichtiges Anliegen an Ihren Prinzipal« – Besitzer? Meister? Lenker?
Pham Nuwen ließ sich auf einen Stuhl fallen und räkelte sich. Seit jener Nacht in der Wandergesellschaft war er ihr nicht über den Weg gelaufen. Grondr sagte allerdings, dass der ALTE ihn bei Relais behielt und die Archive nach Information über die Menschheit und ihre Ursprünge durchforsten ließ. Es ergab jetzt Sinn, dass der ALTE überredet worden war, seine Netznutzung einzuschränken: Der Abgesandte konnte die Information vor Ort verarbeiten, d.h. menschliche Intelligenz für die Suche und Zusammenfassung verwenden und nur das nach oben weitergeben, was der ALTE wirklich brauchte.
Ravna beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während sie vorgab, ihr Datio zu studieren. Pham hatte sein altes, träges Lächeln. Sie fragte sich, ob sie wohl jemals den Mut aufbringen würde, sich bei ihm zu erkundigen, wie viel an ihrer… Affäre… menschlich gewesen war. Hatte Pham Nuwen etwas für sie empfunden? Verdammt, hatte er wenigstens Spaß daran gehabt?
Aus transzendentem Blickwinkel war er vielleicht ein einfaches Gerät zur Verdichtung von Daten und für ferngesteuerte Manipulationen – doch aus ihrer Sicht war er immer noch ein Mensch. »Äh… ja… Also… Die Org hat das Flüchtlingsschiff der Straumer weiterhin beobachtet, obwohl Ihr Prinzipal das Interesse verloren hat.«
Phams Augenbrauen hoben sich mit höflichem Interesse. »Oh?«
»Vor zehn Tagen ist das einfache Signal ›Hier bin ich‹ von einer neuen Botschaft unterbrochen worden, anscheinend von einem überlebenden Besatzungsmitglied.«
»Gratulation. Ihr habt es geschafft, das geheim zu halten, sogar vor mir.«
Ravna nahm den Köder nicht an. »Wir tun unser Bestes, um es vor jedermann geheim zu halten, mein Herr. Aus Gründen, die Sie kennen müssen.« Sie legte die bisherigen Botschaften auf einen Bildschirm zwischen ihnen. Eine Handvoll von Rufen und Antworten, über zehn Tage verstreut. Die Triskweline-Übersetzung für Pham enthielt nicht mehr die ursprünglichen grammatischen und Schreibfehler, doch der Tonfall blieb unverändert. Ravna war auf sehen der Org für die Gespräche zuständig. Es war, als spräche man in einem dunklen Zimmer mit jemandem, den man nie gesehen hat. Manches konnte man sich leicht vorstellen: eine schrille, fiepsige Stimme hinter den großgeschriebenen Worten und den Ausrufezeichen. Sie besaß keine Videoaufnahme von dem Kind, aber über das Menschheits-Archiv bei Sjandra Kei hatte die Marketing-Abteilung Bilder von den Eltern des Jungen aufgetrieben. Sie sahen wie typische Straumer aus, aber mit den braunen Augen der Linden-Sippen. Der kleine Jefri dürfte schlank und dunkel sein.
Pham Nuwens Blick huschte über den Text abwärts und schien dann an den letzten paar Zeilen hängen zu bleiben:
Org[17]: Wie alt bist du, Jefri?
Ziel[18]: Ich bin acht. Ich meine, ich bin acht Jahre alt. ICH BIN ALT GENUG, ABER ICH BRAUCHE HILFE.
Org[18]: Wir werden helfen. Wir kommen so schnell wir können, Jefri.
Ziel[19]: Tut mir Leid, dass ich gestern nicht reden konnte. Die bösen Leute waren gestern wieder auf dem Berg. Es war gefährlich zum Schiff zu gehen.
Org[19]: Sind die Bösen so nahe?
Ziel[20]: Ja ja. Ich konnte sie von der Insel sehen. Ich bin jetzt mit Amdi im Schiff, aber als wir heraufgekommen sind, waren überall tote Soldaten. Holzschnitzerin macht hier oft Überfälle. Mutter ist tot. Vater ist tot. Johanna ist tot. Herr Stahl wird mich beschützen, so gut wie er kann. Er sagt ich muss tapfer sein.
Für einen Moment verschwand sein Lächeln. »Armer Junge«, sagte er leise. Dann zuckte er die Achseln und stieß mit der Hand nach einer der Botschaften. »Gut, ich bin froh, dass Vrinimi eine Rettungsexpedition ausschickt. Das ist großzügig von euch.«
»Eigentlich nicht, mein Herr. Schauen Sie sich die Nummern sechs bis vierzehn an. Der Junge beklagt sich über die Automatik des Schiffes.«
»Tja, bei ihm klingt das wie aus einer grauen Vorzeit: Tastaturen und Bildschirme, keine Stimmerkennung. Eine ganz und gar benutzerunfreundliche Schnittstelle. Sieht aus, als ob die Bruchlandung ziemlich alles zu Schrott gemacht hat, hm?«
Er war ausgesucht begriffsstutzig, doch Ravna hatte beschlossen, grenzenlose Geduld zu beweisen. »Vielleicht nicht, wenn man die Herkunft des Schiffes bedenkt.« Pham lächelte nur, also fuhr Ravna mit ihren Erklärungen fort. »Die Prozessoren stammen wahrscheinlich aus dem Hohen Jenseits oder dem Transzens und sind von ihrer gegenwärtigen Umgebung auf fast idiotisches Niveau beschränkt worden.«
Pham Nuwen seufzte. »Passt alles zur Theorie der Skrodfahrer, nicht wahr? Ihr hofft immer noch, dass diese Kiste irgendein gewaltiges Geheimnis birgt, das die PEST wegpustet.«
»Ja!… Sieh doch. Einmal war der ALTE auf alles das sehr neugierig. Warum jetzt das totale Desinteresse? Gibt es einen Grund, warum das Schiff nicht der Schlüssel zum Kampf gegen die PERVERSION sein kann?« Das war Grondrs Erklärung für den neuerlichen Mangel an Interesse seitens des ALTEN. Ihr Leben lang hatte Ravna Geschichten über die MÄCHTE gehört, und immer aus großer Entfernung. Hier war sie schrecklich nahe daran, einer direkt Fragen zu stellen. Es war ein sehr sonderbares Gefühl.
Nach einer Weile sagte Pham: »Nein. Es ist unwahrscheinlich, aber du könntest Recht haben.«
Ravna atmete aus – sie war sich gar nicht bewusst gewesen, dass sie die Luft angehalten hatte. »Gut. Dann ist es vernünftig, worum wir bitten. Angenommen, das nach unten geflogene Schiff enthält etwas, das die PERVERSION braucht, oder etwas, das sie fürchtet. Dann weiß die PERVERSION wahrscheinlich von seiner Existenz – vielleicht beobachtet sie sogar den Verkehr mit Ultraantrieb in jenem Teil des Grundes. Eine Rettungsexpedition könnte die PERVERSION geradewegs zu dem Schiff führen. In diesem Falle wäre die Mission selbstmörderisch für die Besatzung – und sie könnte die Gesamtkraft der PEST verstärken.«
»Also?«
Ravna schlug gegen ihr Datio – ihre Vorsätze, Geduld zu bewahren, zerrannen. »Also bittet die Vrinimi-Org den ALTEN um Hilfe, um eine Expedition auf die Beine zu bringen, gegen die die PEST nichts ausrichten kann!«
Pham Nuwen schüttelte nur den Kopf. »Ravna, Ravna. Du redest von einer Expedition zum Grunde des Jenseits. Es ist nicht möglich, dass eine MACHT dich dort unten bei der Hand nimmt. Sogar ein Abgesandter Apparat wäre dort größtenteils auf sich selbst gestellt.«
»Benimm dich nicht blöder als du bist, Pham Nuwen. Dort unten wird die PERVERSION genau dieselben Handicaps haben. Worum wir bitten, ist Ausrüstung aus transzendenter Produktion, für jene Tiefen konstruiert und in ausreichender Menge geliefert.«
»Blöd?« Pham Nuwen straffte sich, doch auf seinem Gesicht stand noch immer der Schatten eines Lächelns. »Ist das deine übliche Art, eine MACHT anzusprechen?«
Vor diesem Jahr wäre ich lieber gestorben, als eine MACHT überhaupt anzusprechen, egal wie. Sie lehnte sich zurück und zeigte ihm ihre eigene Version eines unverschämten Grinsens. »Sie haben einen direkten Draht zu Gott, mein Herr, aber ich will Ihnen ein kleines Geheimnis verraten: Ich kann unterscheiden, ob die Verbindung eingeschaltet ist.«
Höfliche Neugier: »Oh? Wie das?«
»Pham Nuwen – sich selbst überlassen – ist ein heller, egoistischer Bursche und ungefähr so einfühlsam wie eine Kopfnuss.« Sie dachte an die gemeinsam verbrachten Stunden zurück. »Ich mache mir keine echten Sorgen, solange die Arroganz und die klugen Sprüche nicht verschwinden.«
»Hm. Deine Logik ist etwas schwach. Wenn der ALTE mich direkt steuern würde, könnte er den Blödian ebenso leicht spielen« – er reckte den Kopf vor – »wie den Mann deiner Träume.«
Ravna bleckte die Zähne. »Mag sein, aber ich habe ein bisschen Unterstützung von meinem Chef. Er hat mir die Genehmigung verschafft, die Nutzung der Transceiver zu überwachen.« Sie schaute auf ihr Datio. »Momentan bekommt der ALTE weniger als zehn Kilobit pro Sekunde vom ganzen Relais…, was bedeutet, mein Freund, dass du gerade nicht ferngesteuert bist. Alle groben Manieren, die ich heute erlebe, gehen auf das Konto des echten Pham Nuwen.«
Der Rotschopf kicherte und konnte eine leichte Verlegenheit nicht verhehlen. »Du hast mich ertappt. Ich bin schon die ganze Zeit, seit die Org den ALTEN zum Rückzug überredet hat, im Außendienst. Aber du sollst wissen, dass diese ganzen zehn Kb/s dieser bezaubernden Unterhaltung gewidmet sind.« Er hielt inne, als horche er, und winkte dann. »Der ALTE sagt ›Hallo‹.«
Wider Willen musste Ravna lachen; es lag etwas Absurdes in der Geste und der Annahme, dass sich eine MACHT zu so trivialem Humor herablassen könnte. »In Ordnung. Ich bin froh, dass er… äh… dabeisein kann. Wie du siehst, Pham, verlangen wir nach transzendenten Maßstäben nicht viel, und es könnte für ganze Zivilisationen die Rettung bedeuten. Gebt uns ein paar tausend Schiffe; Robotschiffe zum einmaligen Gebrauch wären gut.«
»Der ALTE könnte so viele herstellen, aber sie wären nicht viel besser, als was hier unten gebaut wird. Die Zonen auszutricksen« – er hielt inne und wirkte erstaunt über seine eigene Wortwahl –, »die Zonen auszutricksen ist eine heikle Sache.«
»Na schön. Qualität oder Menge. Wir akzeptieren alles, was der ALTE für angebracht hält…«
»Nein.«
»Pham! Wir reden über ein paar Tage Arbeit für den ALTEN. Er hat für das Studium der PEST schon mehr bezahlt.« Ihre einzige wilde Nacht hatte vielleicht ebenso viel gekostet – doch das sagte sie nicht.
»Ja, und Vrinimi hat das meiste davon ausgegeben.«
»Um die Kunden zu entschädigen, denen ihr auf die Zehen getreten seid!… Pham, kannst du uns nicht wenigstens sagen, warum nicht?«
Das träge Lächeln wich von seinem Gesicht. Sie warf einen raschen Blick auf ihr Datio. Nein, Pham Nuwen war nicht besessen. Sie erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als er die Post von Jefri Olsndot las; hinter all der Arroganz verbarg sich ein anständiger Mensch. »Ich will es versuchen. Beachte, dass ich zwar ein Teil des ALTEN bin, bei meinen Erinnerungen und Erklärungen aber menschlichen Beschränkungen unterliege.
Du hast Recht, die PERVERSION schluckt immer mehr von der Obergrenze des Jenseits. Vielleicht werden fünfzig Zivilisationen umkommen, ehe diese MACHT die Lust verliert – und ein paar tausend Jahre danach wird es ›Echos‹ der Katastrophe geben, vergiftete Sternensysteme, künstliche Rassen mit hirnverbrannten Ideen. Aber – tut mir Leid, es so zu sagen – na und? Der ALTE hat über das Problem nachgedacht, seit mehr als hundert Tagen. Das ist eine lange Zeit für eine MACHT, vor allem für den ALTEN. Er existiert jetzt seit über zehn Jahren, seine Persönlichkeiten treiben schnell auf… Veränderungen… zu, die ihn über jede Kommunikation hinaus entrücken werden. Warum sollte er sich um all das kümmern?«
Es war ein Standardthema in der Schule, doch Ravna konnte nicht an sich halten. »Aber die Geschichte ist voll von Fällen, wo MÄCHTE Rassen des Jenseits, manchmal sogar Individuen geholfen haben.« Sie hatte bereits herausgefunden, welche Rasse den ALTEN geschaffen hatte. Sie waren Gasbeutel-Geschöpfe. Ihre Netzpost war selbst nach Ravnas bester Deutung größtenteils Kauderwelsch. Anscheinend hatten sie keinen besonderen Einfluss auf den ALTEN. Ihr blieb wohl nur der direkte Appell. »Sieh doch. Nimm es von der anderen Seite: Selbst gewöhnliche Menschen brauchen keine besonderen Erklärungen, um Tieren in Not zu helfen.«
Phams Lächeln kehrte allmählich zurück. »Du bist so stark in Analogien. Vergiss nicht, dass jeder Vergleich hinkt, und je komplexer der Automatismus, um so komplexer sind seine möglichen Beweggründe. Aber… gut, wie wäre es mit dieser Analogie: Der ALTE ist ein im Grunde anständiger Bursche mit einem hübschen Haus in einer guten Gegend der Stadt. Eines Tages bemerkt er, dass er einen neuen Nachbarn hat, einen verlotterten Kerl, dessen Wohnung nach giftigem Dreck stinkt. Wenn du der ALTE wärst, würde dich das bekümmern, nicht wahr? Du würdest vielleicht die Umgebung deines Grundstücks kontrollieren. Du würdest auch mit dem Neuen schwatzen und herauszubekommen versuchen, wo er herkommt und was los ist. Die Vrinimi-Org hat einen Teil dieser Nachforschungen mitangesehen.
Du stellst also fest, dass der neue Nachbar ungesund und nichtsnutzig ist. Sein Leben beruht im Wesentlichen darauf, dass er Sumpfgebiete vergiftet und den dabei entstehenden Dreck isst. Das ist lästig: es stinkt, und es schadet einer Menge harmloser Tiere. Aber den Nachforschungen zufolge ist klar, dass der Schaden deinen eigenen Besitz nicht betreffen wird, und du bringst den Nachbarn dazu, mit geeigneten Maßnahmen den Gestank zu vermindern. Schließlich ist giftigen Dreck zu essen eine Lebensweise, die sich früher oder später von selbst erledigt.« Er hielt inne. »Für einen Vergleich finde ich diesen ziemlich gut. Nachdem ihm anfangs manches rätselhaft war, ist der ALTE zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dieser PERVERSION um eines von den üblichen Mustern handelt, so unbedeutend und banal, dass sogar Wesen wie du und ich sie als böse erkennen. In der einen oder anderen Form kommt sie seit Hunderten von Jahrmillionen aus Archiven der Jenseiter hoch.«
»Verdammt! Ich würde meine Nachbarn zusammentrommeln und den perversen Kerl aus der Stadt jagen.«
»Davon war die Rede, aber es wäre teuer… und richtige Leute könnten dabei zu Schaden kommen.« Pham Nuwen erhob sich geschmeidig und entließ sie mit einem Lächeln. »Nun, das wäre in etwa alles, was wir dir zu sagen hatten.« Er trat unter den Bäumen hervor. Ravna sprang auf, um ihm zu folgen.
»Mein persönlicher Rat: Nimm das nicht so schwer, Ravna. Ich habe das alles gesehen, weißt du. Vom Grunde des Langsam bis ins Innere einer transzendenten MACHT hat jede Zone ihre besonderen Misslichkeiten. Die ganze Grundlage der PERVERSION – thermodynamisch, ökonomisch, wie du es auch darstellen willst – liegt in der hohen Qualität von Denken und Kommunikation an der Obergrenze des Jenseits. Die PERVERSION hat keine einzige Zivilisation im Mittleren Jenseits angetastet. Hier unten sind die Zeitlücken und die Kosten bei der Kommunikation zu groß, und sogar die beste Ausrüstung kann nicht denken. Um hier alles zu kontrollieren, bräuchte man stehende Flotten, Geheimpolizei, schwerfällige Transceiver – es wäre fast genauso umständlich wie jedes Imperium der Jenseiter und für eine MACHT ohne Nutzen.« Er wandte sich um und sah ihren finsteren Blick. »He, ich sage doch, dein hübscher Po ist in Sicherheit.« Er langte nach unten, um ihr einen Klaps zu geben.
Ravna schob seine Hand weg und trat zurück. Sie hatte sich gerade noch ein kluges Argument zurechtgelegt, das den Kerl vielleicht zum Nachdenken brachte; es hatte tatsächlich schon Fälle gegeben, wo Abgesandte Apparate ihren ursprünglichen Entschluss geändert hatten. Nun waren die halbfertigen Ideen wie weggeblasen, und ihr fiel nichts weiter ein, als zu sagen: »Und wie sicher ist dein eigener Hintern, hm? Du sagst, dass der ALTE im Begriff ist, seine Sachen zu packen und dahin zu gehen, wohin auch immer überalterte MÄCHTE gehen mögen. Wird er dich mitnehmen oder vielleicht einfach beseitigen, ein Haustier, das nun lästig wird?«
Es war ein dummer Ausbruch, und Pham Nuwen lachte nur. »Noch mehr Analogien? Nein… höchstwahrscheinlich wird er mich einfach zurücklassen. Du weißt, wie eine Robotersonde, die nach der letzten Verwendung frei weiterfliegt.« Wieder eine Analogie, aber eine, die ihm entsprach. »Wenn das bald genug geschieht, dann könnte vielleicht sogar ich gewillt sein, diese Rettungsexpedition zu unternehmen. Es sieht aus, als befände sich Jefri Olsndot in einer mittelalterlichen Zivilisation. Ich wette, es gibt in der Org niemanden, der solch einen Ort besser als ich versteht. Und unten am Grunde könnte sich eure Besatzung schwerlich einen besseren Kameraden wünschen als einen alten Dschöng-Ho-Typ.« Er sprach lässig, als seien Mut und Erfahrung für ihn selbstverständlich – auch wenn andere Leute feige Schlappschwänze waren.
»Oh, wirklich?« Ravna stemmte die Arme in die Hüften und neigte den Kopf. Das war einfach ein bisschen zu viel, wo doch sein ganzes Dasein ein Schwindel war. »Du bist der kleine Prinz, der mit Intrigen und Mordanschlägen aufgewachsen ist und dann mit der Dschöng Ho zu den Sternen fortgeflogen ist… Denkst du jemals wirklich an diese Vergangenheit, Pham Nuwen? Oder ist der ALTE so taktvoll, dich davon zurückzuhalten? Nach unserem bezaubernden Abend in der Wandergesellschaft habe ich darüber nachgedacht. Weißt du was? Es gibt nur wenige Dinge, die du mit Sicherheit wissen kannst: Du warst wirklich ein Raumfahrer aus der Langsamen Zone – vermutlich zwei oder drei Raumfahrer, da keiner von den Leichnamen vollständig war. Irgendwie haben du und deine Kumpel sich am unteren Ende des Langsam zu Tode gebracht. Was noch? Nun ja, dein Schiff verfügte nicht über ein wiederherstellbares Gedächtnis. Die einzige Aufzeichnung, die wir fanden, schien in einer ostasiatischen Sprache geschrieben zu sein. Das ist alles, alles, worauf sich der ALTE stützen konnte, als er den Schwindel zusammenfügte.«
Phams Lächeln wirkte ein wenig frostig. Ravna fuhr fort, ehe er zu Wort kam. »Aber mach dem ALTEN keinen Vorwurf. Er war ein bisschen in Eile, ja? Er musste Vrinimi und mich davon überzeugen, dass du echt seiest. Er hat in den Archiven herumgekramt und eine Mischmasch-Wirklichkeit für dich zusammengeschustert. Vielleicht hat er einen Nachmittag dazu gebraucht – bist du dankbar für die Mühe? Hier ein Schnäppchen, da ein Schnäppchen. Es hat wirklich jemanden namens Dschöng Ho gegeben, weißt du. Auf der Erde, tausend Jahre vor der Raumfahrt. Und es muss Sternenkolonien asiatischer Abstammung gegeben haben, obwohl das eine offensichtliche Extrapolation seinerseits ist. Der ALTE hat wirklich einen hübschen Sinn für Humor. Er hat dein ganzes Leben als phantastische Romanze erschaffen, bis hin zur letzten tragischen Expedition. Das hätte mich übrigens stutzig machen sollen. Es ist eine Kombination von etlichen Legenden aus der Zeit vor Nyjora.«
Sie holte Luft und sprach rasch weiter. »Es tut mir Leid für dich, Pham Nuwen. Solange du nicht allzu intensiv über dich nachdenkst, kannst du der zuversichtlichste Bursche im Weltraum sein. Aber alle Geschicklichkeit, all die erworbenen Fähigkeiten – hast du die jemals aus der Nähe betrachtet? Ich wette, nein. Ein großer Krieger oder ein erfahrener Pilot zu sein, schließt eine Million untergeordnete Fertigkeiten ein, bis hinab zu Bewegungsabläufen unter der Ebene bewussten Denkens. Der Schwindel des ALTEN benötigte nur die Erinnerungen in der obersten Schicht und eine forsche Persönlichkeit. Schau unter die Oberfläche, Pham. Ich denke, du wirst dort eine Menge leere Stellen finden.« Ein Traum von Tüchtigkeit, aus zu großer Nähe gesehen.
Der Rotschopf tippte sich mit einem Finger an die Schläfe. Als ihr endlich die Worte ausgingen, wurde sein Lächeln breit und gönnerhaft. »Ach, dumme kleine Ravna. Selbst jetzt begreifst du noch nicht, wie weit überlegen die MÄCHTE sind. Der ALTE ist nicht irgendein Despotenregime im Mittleren Jenseits, das seinen Opfern eine Gehirnwäsche mit oberflächlichen Erinnerungen verpasst. Sogar ein transzendenter Schwindel hat mehr Tiefe als das Abbild der Wirklichkeit in einem menschlichen Geist. Und woher willst du wissen, dass es wirklich ein Schwindel ist? Du hast also die Archive von Relais durchgesehen und meine Dschöng Ho nicht gefunden.« Meine Dschöng Ho. Er hielt inne. Erinnerte er sich? Versuchte er sich zu erinnern? Einen winzigen Augenblick lang sah Ravna auf seinem Gesicht Panik aufschimmern. Dann war es vorüber, und nur das träge Lächeln blieb. »Kann irgendjemand von uns sich die Archive des Transzens vorstellen, all die Dinge, die der ALTE über die Menschheit wissen muss? Die Vrinimi-Org sollte dem ALTEN dankbar sein, dass er meine Herkunft erklärt hat; sie selbst hätten es niemals herausfinden können.
Sieh doch. Es tut mir wirklich Leid, dass ich nicht helfen kann. Selbst wenn es in anderer Beziehung ein sinnloses Unternehmen ist, würde ich dieses Kind gern gerettet sehen. Aber mach dir keine Sorgen wegen der PEST. Sie hat jetzt fast das Maximum ihrer Expansion erreicht. Sogar wenn ihr sie vernichten könntet, würde das den armen Wichten nichts nützen, die von ihr absorbiert worden sind.« Er lachte, eine Spur zu laut. »Nun, ich muss jetzt gehen; der ALTE hat heute noch andere Aufträge für mich. Er war nicht froh darüber, dass das eine persönlichen Begegnung war, aber ich habe darauf bestanden. Die Vorteile des Außendienstes, weißt du. Du und ich…, du und ich hatten allerhand Spaß, und ich dachte, es wäre nett zu plaudern. Ich wollte dich nicht aufbringen.«
Pham warf seinen Agrav an und schwebte vom Sand auf. Er winkte lakonisch zum Gruß. Ravna starrte empor und hob die Hand, um zurückzuwinken. Seine Gestalt wurde kleiner und bekam einen schwachen Nimbus, als er die atembare Atmosphäre der Docks verließ und sich sein Raumanzug einschaltete.
Ravna winkte noch ein paar Minuten, bis die Gestalt zu einem weiteren Pendler am indigofarbenen Himmel geworden war. Verdammt. Verdammt. Verdammt.
Hinter ihr erklang das Geräusch von Rädern, die über den Sand knirschten. Blaustiel und Grünmuschel waren aus dem Wasser gekommen. Nässe glänzte an den Seiten ihrer Skrods und machte aus den Zierstreifen gezackte Regenbogen. Ravna ging hinab, ihnen entgegen. Wie soll ich ihnen sagen, dass keine Hilfe kommt?
Mit einem Repräsentanten wie Pham Nuwen hatte der ALTE so anders gewirkt als alles, was sie sich in der Schule daheim bei Sjandra Kei vorgestellt hatte. Beinahe hätte sie geglaubt, nur mit Reden etwas ändern zu können. Was für ein Witz. Jetzt eben hatte sie einen Blick hinter die Kulissen erhascht: von einem Wesen, das mit Seelen wie ein Programmierer mit einer geschickten Grafik spielen konnte, einem Wesen, das so hoch über ihr stand, dass nur seine Gleichgültigkeit sie schützen konnte. Sei froh, kleiner Falter Ravna. Du bist von der Flamme nur geblendet worden.