SECHSUNDDREISSIG

 

Hjjet Svensndot war allein auf der Brücke der Ølvira, als die Flutwelle vorüberging. Sie hatten längst alle Vorbereitungen getroffen, die Sinn ergaben, und in dem Langsam, das sie umgab, verfügte das Schiff über keine Antriebsmittel. Dennoch verbrachte der Gruppenkapitän viel von seiner Zeit hier oben und versuchte, der verbleibenden Automatik eine Art vernünftige Reaktionen einzuprogrammieren. Programmieren auf halbidiotischem Niveau war ein Zeitvertreib, der wie Stricken bis zu den Anfängen menschlicher Erfahrung zurückreichen musste.

Natürlich wäre der tatsächliche Austritt aus dem Langsam völlig unbemerkt geblieben, wenn er und die Dirokime nicht all die Alarmanlagen installiert hätten. So rissen ihn der Lärm und die Lichter aus halbem Dahindösen in hellwache Erregung. Er hieb auf die Kom-Tasten des Schiffs: »Glimfrell! Tirroll! Seht zu, dass ihr herauf kommt.«

Als die Brüder das Deck erreichten, waren vorläufige Navigationsanzeigen berechnet worden, und eine Sprungsequenz wartete auf Bestätigung. Die beiden grinsten über beide Ohren, als sie hereinplatzten und sich an ihren Posten anschnallten. Ein paar Augenblicke lang gab es nicht viel Geplapper, nur gelegentlich einen Pfiff des Vergnügens von den Dirokimen. In den letzten reichlich hundert Stunden hatten sie das immer wieder durchgespielt, und bei der armseligen Automatik hatten sie jetzt eine Menge zu tun. Allmählich wurde das Bild auf den Bildschirmen des Decks schärfer. Wo zunächst nur vage Schlieren gewesen waren, meldeten die Ultrawellen-Sensoren einzelne Spuren mit zunehmend genauer Information über Sprungweite und -häufigkeit. Das Kommunikationsfenster zeigte eine ständig wachsende Warteschlange von Flottenmeldungen.

Tirroll blickte von seiner Arbeit auf. »He, Chef, diese Sprungberechnungen scheinen in Ordnung zu sein – zumindest für den ersten Versuch.«

»Gut. Bestätigen und Selbstbestätigung erlauben.« In den Stunden nach dem Eintritt in die Flutwelle hatten sie beschlossen, dass zunächst die Fortsetzung der Verfolgung Vorrang haben sollte. Was sie dann tun würden – darüber hatte sie lange gesprochen, und Gruppenkapitän Svensndot hatte sogar noch länger nachgedacht. Nichts war mehr wie üblich.

»Jawohl!« Die Innenfinger des Dirokims tanzten über das Pult, und ’Roll fügte ein paar verbale Kommandos hinzu. »Bingo!«

Der Statusschirm zeigte, dass fünf Sprünge durchgeführt worden waren, zehn. Kjet starrte ein paar Sekunden lang auf den optischen Außenbildschirm. Keine Veränderung, keine Veränderung… Dann bemerkte er, dass sich einer der hellsten Sterne im Bildausschnitt bewegt hatte, unmerklich über den Himmel glitt. Wie ein Jongleur, der allmählich sein Tempo fand, gewann die Ølvira an Geschwindigkeit.

»Hei hei!« Glimfrell beugte sich herüber, um zu sehen, was sein Bruder tat. »Wir machen 1,2 Lichtjahre pro Stunde. Das ist besser als vor der Flutwelle.«

»Gut. Kommunikation und Beobachtung?« Wo waren die anderen, und was hatten sie vor?

»Ja, ja. Ich bin dran.« Glimfrell beugte seine schlanke Gestalt zum Pult zurück. Ein paar Sekunden lang war er fast still. Svensndot begann, die Post durchzublättern. Es war noch nichts von Eignerin Limmende dabei. Seit fünfundzwanzig Jahren arbeitete Kjet für Limmende und die Sicherheitsgesellschaft von Sjandra Kei. Konnte er meutern? Und wenn er es tat, würde ihm jemand folgen?

»In Ordnung. So ist die Lage, Chef.« Glimfrell verschob das Hauptfenster, um seine Auslegung der Schiffsmeldungen zu zeigen. »Es ist, wie wir vermutet haben, vielleicht ein bisschen extremer.« Sie hatten fast von Anfang an begriffen, dass die Flutwelle größer als alles in der überlieferten Geschichte war; das war es nicht, was der Dirokim mit ›extrem‹ meinte. Er fuhr mit den Außenfingern nach unten und zog eine unscharfe blaue Linie über das Fenster. »Wir haben angenommen, dass sich die Vorderfront der Welle senkrecht zu dieser Linie bewegt. Das würde bewirken, dass sie Chefin Limmende vierhundert Sekunden früher ausschaltete, als sie die Aus der Reihe traf, und uns zehn Sekunden danach… Wenn nun die Vorderfront mit gewöhnlichen Wellen vergleichbar war« – in millionenfach größerem Maßstab –, »müssten erst wir und dann der Rest der verfolgenden Flotten auch vor der Aus der Reihe wieder heraustreten.« Er zeigte auf einen einzelnen leuchtenden Fleck, der die Ølvira darstellte. Neben und knapp vor ihm flammten Dutzende von Lichtpunkten auf, in dem Maße, wie die Schiffsdetektoren beobachtete Einleitungen von Ultrasprüngen meldeten. Es war wie ein kaltes Feuer, das sich von ihnen fort in die Dunkelheit ausbreitete. Schließlich würden auch Limmende und das Herz der anonymen Flotte wieder präsent sein. »Unser Empfangslog zeigt, dass es sich ungefähr so zugetragen hat. Der größte Teil der Verfolgerflotten wird vor der Aus der Reihe aus der Welle hervortauchen.«

»Hm. Sie wird also einen Teil ihres Vorsprungs einbüßen.«

»Ja. Doch wenn sie dahin fliegt, wohin wir glauben« – ein Stern der G-Klasse achtzig Lichtjahre vor dem Flüchtling –, »dann kommt sie immer noch an, ehe sie sie vernichten.« Er hielt inne und zeigte auf einen Nebel, der sich seitlich aus dem wachsenden Lichtklumpen löste. »Es nehmen nicht mehr alle an der Jagd teil.«

»Tja…« Svensndot hatte weiter in den Nachrichten gelesen, während er ’Frells Zusammenfassung hörte. »Dem Netz zufolge ist das die Allianz für die Verteidigung, die siegreich das Schlachtfeld verlässt.«

»Wie bitte?« Tirroll drehte sich abrupt in seinem Gefechtsharnisch. In seinen großen, dunklen Augen stand nichts von seinem gewohnten Humor.

»Wie ich sagte.« Kjet platzierte die Meldung so, dass die Brüder sie sehen konnten. Rasch lasen die beiden, wobei ’Frell manche Sätze laut murmelte: »… Tapferkeit der Kommandeure und Mannschaften… die fliehenden Streitkräfte im Wesentlichen vernichtet…«

Glimfrell schauderte, all seine Leichtfertigkeit war verschwunden. »Sie erwähnen die Flutwelle nicht einmal. Alles, was sie sagen, ist eine feige Lüge!« Seine Stimme glitt zu seinen normalen Sprechfrequenzen hinauf, und er fuhr in der eigenen Sprache fort. Kjet verstand einen Teil davon. Die Dirokime, die ihre Traumhabitate verließen, waren für gewöhnlich leichtfertige Leute, voll Ironie und sanftem Sarkasmus. Genauso klang Glimfrell jetzt beinahe, abgesehen von den hohen Spitzen in seinem Pfeifen und Schimpfworten, die saftiger waren als alles, was Svensndot jemals von ihnen gehört hatte: »… Söhne eines verwanzten Kuhfladens… Mörder unschuldiger Träume…« Sogar in Samnorsk waren das starke Worte, doch in der Dirokim-Sprache troff ›verwanzter Kuhfladen‹ geradezu von eindeutigen Bildern, die fast den Geruch solch eines Dings heraufbeschworen. Glimfrells Stimme kletterte immer höher, dann über die menschliche Hörschwelle hinaus. Auf einmal brach er ab, zitternd und leise stöhnend. Dirokime konnten weinen, obwohl Svensndot derlei niemals zuvor gesehen hatte. Glimfrell wiegte sich in den Armen seines Bruders hin und her.

Tirroll schaute über Glimfrells Schulter auf Kjet. »Wohin führt uns die Rache nun, Gruppenkapitän?« .

Eine kurze Zeit erwiderte Kjet den Blick schweigend. »Ich werde es dich wissen lassen, Leutnant.« Er schaute auf die Anzeigen. Noch ein bisschen hören und beobachten, und wir werden es vielleicht wissen. »Zunächst bring uns näher ans Zentrum der Verfolger«, sagte er sanft.

»Zu Befehl.« Tirroll schlug seinem Bruder sacht auf den Rücken und kehrte an sein Pult zurück.

 

In den nächsten fünf Stunden sah die Besatzung der Ølvira zu, wie die Allianzflotte Hals über Kopf das Weite suchte. Man konnte es nicht einmal einen Rückzug nennen, eher eine panische Auflösung. Große Opportunisten, die sie waren, hatten sie nicht gezögert, heimtückisch zu morden und sich an einer Jagd zu beteiligen, da sie glaubten, am Ende Beute machen zu können. Nun, angesichts der Möglichkeit, im Langsam gefangen zu werden oder zwischen den Sternen zu sterben, brachten sie sich eilends in Sicherheit. Ihre Verlautbarungen an die Nachrichtengruppen troffen vor Wagemut, doch ihr Manöver war nicht zu kaschieren. Bisher neutrale Beobachter wiesen auf die Diskrepanz hin; man stimmte mehr und mehr überein, dass die Allianz eine Schöpfung der Aprahant-Hegemonie war und vielleicht andere Motive als selbstlosen Widerstand gegen die PEST hatte. Man spekulierte nervös, wem sich die Aufmerksamkeit der Allianz wohl als Nächstes zuwenden würde.

Noch immer waren Haupttransceiver auf die Flotten ausgerichtet. Sie hätten ebenso gut in einem Hauptstamm des Netzes sein können. Der Nachrichtenverkehr war ein breiter Wasserfall und überstieg völlig die gegenwärtige Empfangskapazität der Ølvira. Nichtsdestoweniger hatte Svensndot ein Auge darauf. Irgendwo dort gab es vielleicht einen Schlüssel, eine Erleuchtung… Die Mehrheit der ›Kriegsbeobachter‹ oder der Gruppe ›Bedrohungen‹ schien wenig Interesse für die Allianz oder die Vernichtung von Sjandra Kei an sich aufzubringen. Die meisten waren entsetzt über die PEST, die sich noch immer über die Obergrenze des Jenseits ausbreitete. Keine von den Höchsten Zivilisationen hatte erfolgreich Widerstand geleistet, und es gab Gerüchte, zwei weitere MÄCHTE, die sich eingemischt hatten, seien vernichtet worden. Es gab welche (insgeheim Sprachrohre der PEST?), die die neue Stabilität an der Obergrenze begrüßten, selbst wenn sie auf ständigem Parasitismus beruhte.

Die Jagd hier unten am Grund, der Flug der Aus der Reihe und ihrer Verfolger, schien eigentlich die einzige Stelle zu sein, wo die PEST keinen vollständigen Triumph errungen hatte. Kein Wunder, dass sie Gegenstand von 10.000 Botschaften pro Stunde waren.

Die Geometrie des Austritts aus der Flutwelle war außerordentlich günstig für die Ølvira. Sie hatten sich am Rande des Geschehens befunden, doch nun hatten sie Stunden Startvorsprung vor den Hauptflotten. Glimfrell und Tirroll arbeiteten mehr als je in ihrem Leben, sie verfolgten das allmähliche Auftauchen der Flotte und teilten den anderen Schiffen der Sicherheitsgesellschaft die Identität der Ølvira mit. Solange Skrits und Limmende nicht aus dem Langsam hervortraten, war Kjet Svensndot der ranghöchste Offizier der Organisation. Außerdem kannten ihn die meisten Befehlshaber persönlich. Kjet war nie der Typ eines Admirals gewesen; seinen Rang als Gruppenkapitän hatte er für seine Fähigkeiten als Pilot erhalten, und das in Friedenszeiten. Er hatte sich immer damit abgefunden, den Willen seiner Arbeitgeber zu tun. Nun jedoch…

Der Gruppenkapitän nutzte die Privilegien seines Rangs. Die Schiffe der Allianz wurden nicht verfolgt. (»Warten Sie, bis wir alle zusammen handeln können«, befahl Svensndot.) Mögliche taktische Pläne sprangen zwischen den Schiffen der auftauchenden Flotte hin und her, einschließlich Vorgehensweisen für den Fall, dass das Hauptquartier zerstört war. Einigen Kommandeuren gegenüber deutete Kjet an, dass dies der Fall sein könnte, dass sich Limmendes Flaggschiff in der Hand des Feindes befand und dass die Allianz in gewisser Hinsicht nur ein Nebeneffekt jenes wahren Feindes war. Sehr bald würde Kjet auf den ›Verrat‹ festgelegt sein, den er plante.

Das Flaggschiff Limmendes und der Kern der Pestflotte tauchten fast gleichzeitig aus dem Langsam auf. Signalalarme erklangen auf dem Deck der Ølvira, während vorrangige Botschaften eintrafen und die Crypto-Apparatur des Schiffs durchliefen. »Absender: Limmende im HQ. Priorität Sternenbrecher«, sagte die Stimme des Schiffs.

Glimfrell legte die Botschaft auf den Hauptbildschirm, und Svensndot spürte, wie ihm kalte Gewissheit den Nacken hinaufkroch.

 

… Alle Einheiten haben fliehende Schiffe zu verfolgen. Dies ist der Feind, die Mörder unseres Volkes. WARNUNG: Tarnung zu erwarten. Vernichten Sie alle Schiffe, die diese Befehle widerrufen. Schlachtordnung und Beglaubigungscodes folgen.

 

Die Schlachtordnung war einfach, selbst für die Verhältnisse der Sicherheitsgesellschaft: Limmende wollte, dass sie sich trennten und verschwanden und gerade lange genug blieben, um ›getarnte Feinde‹ zu vernichten. Kjet sagte zu Glimfrell: »Was ist mit den Beglaubigungscodes?«

Der Dirokim schien wieder er selbst zu sein. »Sie sind sauber. Wir würden die Botschaft gar nicht empfangen, wenn der Absender nicht über die heutige Tagesmatrix verfügen würde… Wir bekommen die ersten Anfragen von den anderen, Chef. Über Ton- und Bildkanal. Sie wollen wissen, was sie tun sollen.«

Hätte er nicht in den letzten paar Stunden den Grund gelegt, so wäre Kjets Meuterei völlig aussichtslos gewesen. Wäre die Sicherheitsgesellschaft eine richtige Militärorganisation gewesen, wäre Limmendes Befehl vielleicht blindlings befolgt worden. So wie die Dinge lagen, erwogen die anderen Befehlshaber die Fragen, die Svensndot aufgeworfen hatte: Auf diese Entfernungen waren Bildübertragungen leicht, und die Flotte besaß hinreichend große Einwegcodierer, um riesige Informationsmengen zu verarbeiten. Dennoch hatte ›Limmende‹ eine ausgedruckte Botschaft für ihre vorrangige Botschaft gewählt. Wenn die Verschlüsselung korrekt war, war sie militärisch vollkommen sinnvoll, doch es war auch, was Svensndot vorhergesagt hatte: Das vermeintliche Hauptquartier hatte keine rechte Lust, hier unten, wo perfekte Tarnung unmöglich war, sein Gesicht zu zeigen. Seine Befehle würden schriftlich eintreffen oder als Animationen, die jeder scharfe Beobachter erkennen konnte.

An solch einer dünnen Schnur von Schlussfolgerungen hingen Kjet und seine Freunde.

Kjet betrachtete den Lichtknoten, der die Pestflotte darstellte. Sie litt nicht unter Unentschlossenheit. Keins von ihren Schiffen zog sich in sicherere Höhen zurück. Was immer dort den Befehl führte, gebot über eine Disziplin, die die der meisten menschlichen Armeen übertraf. Es würde für sein einziges Ziel, die Verfolgung eines einzelnen kleinen Sternenschiffs, alles opfern. Was nun, Gruppenkapitän?

Ein kleines Stück vor diesem kalten Lichtklumpen tauchte ein vereinzeltes Lichtpünktchen auf. »Die Aus der Reihe!«, sagte Glimfrell. »Jetzt fünfundsechzig Lichtjahre voraus.«

»Ich empfange verschlüsselte Bilder von ihr, Chef. Dieselbe angeknackste XOR-Matrix wie zuvor.« Er legte das Signal auf den Hauptschirm, ohne Kjets Anweisung abzuwarten.

Es war Ravna Bergsndot. Den Hintergrund bildete ein Wirrwar von Bewegung und Geschrei; der seltsame Mensch und ein Skrodfahrer stritten sich. Bergsndot blickte von der Kamera weg und trug ihren Teil zum Geschrei bei. Es sah noch schlimmer aus, als Kjet es von den ersten Momenten nach dem Austritt seines Schiffes in Erinnerung hatte.

»Das ist jetzt egal, sagte ich dir! Lass ihn in Ruhe. Wir müssen Verbindung…« Dann bemerkte sie offensichtlich Glimfrells Bestätigungssignal. »Sie sind da! Bei den MÄCHTEN, Pham, bitte…« Sie winkte wütend ab und wandte sich der Kamera zu. »Gruppenkapitän. Wir sind…«

»Ich weiß. Wir sind schon seit Stunden aus der Flutwelle heraus. Wir befinden uns jetzt nahe am Zentrum der Verfolger.«

Sie schnappte nach Luft. Selbst bei hundert Stunden Vorausplanung folgten die Ereignisse zu schnell für sie. Und für mich auch. »Das ist wenigstens etwas«, sagte sie nach einem Augenblick. »Alles, was wir vorher gesagt haben, gilt noch, Gruppenkapitän. Es ist die PEST, die uns auf den Fersen ist. Bitte!«

Svensndot bemerkte eine Kontrolllampe neben dem Fenster. Der dreiste Glimfrell leitete die Sendung an alle in der Flotte weiter, denen sie trauen konnten. Gut. Er hatte die Situation in den letzten Stunden mit den anderen durchgesprochen, doch es war etwas anderes, Ravna Bergsndot auf dem Bildschirm zu sehen, jemanden von Sjandra Kei, der noch lebte und ihre Hilfe brauchte. Ihr könnt den Rest eures Lebens damit zubringen, im Mittleren Jenseits der Rache nachzujagen, doch ihr werdet nichts als die Geier töten. Das, was auf Ravna Bergsndot Jagd macht, muss der Urheber all dessen sein.

Die Schmetterlinge waren längst weg und sangen immer noch das Loblied ihres Mutes übers Netz. Weniger als ein Prozent der Sicherheitsgesellschaft hatte ›Limmendes‹ Befehl, ihnen nachzusetzen, befolgt. Diese waren nicht das Problem: Es waren die zehn Prozent, die zurückblieben und sich zu den Streitkräften der PEST gesellten, die Kjet Svensndot Sorgen bereiteten. Manche von diesen Schiffen waren vielleicht nicht unterwandert, hielten sich vielleicht an Befehle, denen sie glaubten. Es würde sehr schwer sein, auf sie zu schießen.

Und es würde einen Kampf geben, kein Zweifel. Sich unter Ultraantrieb in die Position für eine Auseinandersetzung zu manövrieren, war schwer – wenn die andere Seite auszuweichen versuchte. Doch die Flotte der PEST blieb beharrlich bei ihrer Jagd auf die Aus der Reihe. Langsam, langsam kamen die beiden Flotten dahin, dasselbe Raumgebiet einzunehmen. Gegenwärtig waren sie über Kubik-Lichtjahre verstreut, doch mit jedem Sprung war die Aniara-Flotte des Gruppenkapitäns besser auf das Antriebsstakkato ihrer Beute abgestimmt. Manche Schiffe befanden sich schon wenige hundert Millionen Kilometer vom Feind entfernt – oder von der Stelle, wo der Feind gewesen war oder sein würde. Die taktischen Zielzuweisungen wurden festgelegt. Der erste Feuerwechsel lag nur noch ein paar hundert Sekunden entfernt.

»Nachdem die Aprahanti fort sind, haben wir die zahlenmäßige Überlegenheit. Ein normaler Feind würde sich jetzt zurückziehen…«

»Aber genau das ist die Pestflotte nicht.« Es war der rothaarige Bursche, der jetzt redete. Es war gut, dass Glimfrell sein Gesicht nicht an der Rest von Svensndots Flotte weitergegeben hatte. Der Bursche handelte die meiste Zeit kantig und fremdartig. Jetzt eben schien er darauf aus zu sein, jede Idee, die Svensndot aufbrachte, zu verwerfen. »Der PEST sind ihre Verluste gleichgültig, wenn sie nur bei der Ankunft die Oberhand hat.«

Svensndot zuckte die Achseln. »Sehen Sie, wir werden tun, was wir können. Das Feuer wird in einhundertundfünfzig Sekunden eröffnet. Wenn sie nicht einen geheimen Vorteil haben, können wir diesmal gewinnen.« Er musterte sein Gegenüber scharf. »Oder meinen Sie das? Könnte die PEST…« Noch immer trafen Geschichten darüber ein, wie sich die PEST an der Obergrenze des Jenseits ausbreitete. Zweifellos war es eine transhumane Intelligenz. Ein unbewaffneter Mann konnte einem Rudel Hunde zahlenmäßig unterlegen sein und sie dennoch besiegen. Könnte also die PEST…

Pham Nuwen schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein. Die Taktik der PEST hier unten wird Ihrer wahrscheinlich unterlegen sein. Ihren großen Vorteil hat sie an der Obergrenze, wo sie ihre Sklaven wie die Finger einer Hand unter Kontrolle hat. Ihre Kreaturen hier unten sind wie schlecht synchronisierte Fern-Manipulatoren.« Nuwen bedachte etwas außerhalb des Kamera-Blickfelds mit einem Stirnrunzeln. »Nein, was wir fürchten müssen, ist ihre strategische Schläue.« Seine Stimme klang auf einmal abwesend, und das war irritierender als die Ungeduld zuvor. Es war nicht die Ruhe von jemandem, der sich einer Drohung stellt; es war eher die Ruhe eines Schwachsinnigen. »Einhundert Sekunden bis zum Kontakt… Gruppenkapitän, wir haben eine Chance, wenn Sie Ihre Kräfte auf die richtigen Punkte konzentrieren.« Ravna schwebte von oben her ins Bild, legte dem Rotschopf eine Hand auf die Schulter. Gottsplitter hatte sie ihn genannt, ihre Geheimwaffe gegen den Feind. Gottsplitter, die Sterbebotschaft einer MACHT; Anfall oder ein Schatz – wer konnte das sagen?

Verdammt. Wenn die anderen Kerle schlecht synchronisierte Fern-Manipulatoren sind, was wird dann aus uns, wenn wir Pham Nuwen folgen? Doch er wies Tirroll an, die Ziele zu markieren, die Nuwen nannte. Neunzig Sekunden. Zeit für die Entscheidung. Kjet deutete auf die roten Markierungen, die Tirroll über die feindliche Flotte verstreut hatte. »Ist an diesen Zielen irgendwas Besonderes, ’Roll?«

Einen Moment lang pfiff der Dirokim. Quälend langsam erschienen in den Fenstern vor ihm die Korrelationen. »Die Schiffe, die er als Ziele nennt, sind weder die größten noch die schnellsten. Es wird zusätzliche Zeit erfordern, für sie in Position zu gehen.« Flaggschiffe? »Noch etwas. Manche von ihnen haben hohe Echtgeschwindigkeiten, überhaupt nicht das, was man als Restimpuls erwarten kann.« Schiffe mit Staustrahlantrieb? Planetenknacker?

»Hm.« Svensndot schaute nur noch eine Sekunde auf den Bildschirm. Dreißig Sekunden, und Jo Haugens Schiff Lynsnar würde Feindberührung haben, aber mit keinem von Pham Nuwens Zielen. »Nimm Verbindung auf, Glimfrell. Sag der Lynsnar, sie soll sich zurückziehen und neue Ziele suchen.« Alle sollten sich neue Ziele suchen.

Die Lichter, die die Aniara-Flotte waren, glitten langsam um den Kern der Pestflotte und suchten ihre neuen Ziele. Zwanzig Minuten vergingen, und mit ihnen nicht wenige Diskussionen mit den anderen Kapitänen. Was Kjet Svensndots Appell zum Erfolg verholfen hatte, war auch der Anlass zu ständigen Fragen und Gegenvorschlägen. Und dann gab es noch die Drohungen, die auf dem Kanal von Eignerin Limmende eintrafen: Tötet alle Meuterer, Tod allen, die der Gesellschaft nicht die Treue halten. Die Codes waren gültig, der Ton aber passte überhaupt nicht zu der milden, profitorientierten Giske Limmende. Jeder sah jetzt, dass es jedenfalls richtig gewesen war, Limmende nicht zu glauben.

Johanna Haugen war die Erste, die Synchronisation mit den neuen Zielen erreichte. Glimfrell öffnete das Hauptfenster für den Datenfluss der Lynsnar: Die Sicht war fast eine natürliche, ein Nachthimmel sich langsam verschiebender Sterne. Das Ziel lag weniger als dreißig Millionen Kilometer von der Lynsnar entfernt, aber etwa eine Millisekunde phasenverschoben. Haugen kam jedes Mal an, unmittelbar bevor oder nachdem der andere gesprungen war.

»Sonden ausgesetzt«, ertönte Haugens Stimme. Jetzt empfingen sie ein optisches Bild von der Lynsnar aus ein paar Meter Entfernung, aufgenommen von einer Kamera in einer der ersten gestarteten Sonden. Das Schiff war kaum zu sehen, eine dunkle Masse, die die Sterne dahinter verdeckte – ein gewaltiger Fisch in den Tiefen eines endlosen Meeres. Ein Fisch, der nun laichte. Das Bild flackerte, die Lynsnar verschwand und tauchte wieder auf, als die Sonde für Augenblicke außer Phase geriet. Ein Schwarm blauer Lichter quoll aus den Laderäumen des Schiffes. Waffensonden. Der Schwarm schwebte rings um die Lynsnar, eichte sich, richtete sich auf den Feind aus.

Das Licht rings um die Lynsnar verglomm in dem Maße, wie die Sonden gruppenweise die Phase in Raum und Zeit wechselten. Tirroll öffnete ein Fenster, das eine Sphäre von hundert Millionen Kilometern rund um die Lynsnar zeigte. Das Ziel war ein roter Punkt, der wie ein verrücktes Insekt die Sphäre umflatterte. Die Lynsnar schlich sich bei achttausendfacher Lichtgeschwindigkeit an ihre Beute an. Manchmal verschwand das Ziel für eine Sekunde, wenn die Synchronisation fast verloren war; dann wieder verschmolzen Lynsnar und Ziel für einen Moment, wenn sich die beiden Schiffe für eine Zehntelsekunde in einer Entfernung von weniger als einer Million Kilometer befanden. Was nicht akkurat dargestellt werden konnte, war die Verteilung der Sonden. Der Laich breitete sich auf einer Myriade von Flugbahnen aus, seine Sensoren auf der Suche nach Anzeichen des feindlichen Schiffes.

»Was ist mit dem Ziel, hat es einen Gegenschwarm abgesetzt? Braucht ihr Unterstützung?«, fragte Svensndot. Tirroll zuckte auf Dirokim-Art die Achseln. Was sie beobachteten, lag drei Lichtjahre entfernt. Er konnte es unmöglich wissen.

Doch Jo Haugen antwortete: »Ich glaube nicht, dass mein Popanz schwärmt. Ich habe nur fünf Sonden verloren, nicht mehr, als von knappen Fehltreffern her zu erwarten ist. Wir werden sehen…« Sie machte eine Pause, doch Spur und Signal der Lynsnar blieben kräftig. Kjet blickte auf die anderen Fenster. Fünf von der Aniara hatten schon Feindberührung, und drei hatten Schwärme ausgesetzt. Nuwen schaute von der Aus der Reihe her schweigend zu. Die Gottsplitter hatten ihren Willen gehabt, und nun waren Kjet und die Seinen festgelegt.

Und jetzt trafen gute und schlechte Nachrichten sehr schnell ein:

»Erwischt!«, rief Jo Haugen. Der rote Punkt im Schwarm der Lynsnar war nicht mehr da. Er war in ein paar Kilometern Entfernung an einer der Sonden vorbeigekommen. In den Millisekunden, die zur Berechnung und Durchführung eines neuen Sprungs nötig waren, hatte die Sonde seine Anwesenheit entdeckt und war detoniert. Selbst das wäre nicht tödlich gewesen, wenn das Ziel gesprungen wäre, ehe die Explosionsfront es traf; in den Sekunden zuvor hatte es mehrere solche knappen Fehltreffer gegeben. Diesmal konnte der Sprung nicht rechtzeitig vollendet werden. Ein Ministern war geboren, dessen Licht erst nach Jahren den Rest des dreidimensionalen Schlachtfeldes erreichen würde.

Glimfrell stieß ein kratzendes Pfeifen aus, einen unübersetzbaren Fluch. »Wir haben eben Ablsndot und Holder verloren, Chef. Ihr Ziel muss einen Gegenschwarm ausgesetzt haben.«

»Schick Gliwing und Trance hin.« Etwas in seinem Hinterkopf ballte sich zu einem Knoten des Entsetzens zusammen. Es waren seine Freunde, die da starben. Kjet war dem Tod schon früher begegnet, doch niemals so. Bei einer Polizeiaktion ging niemand tödliche Risiken ein, außer um jemanden zu retten. Und doch… Er wandte sich von der Feldübersicht ab, um weitere Schiffe zu einem Ziel zu beordern, um das sich Verteidiger geschart hatten. Tirroll führte selbständig andere in die Schlacht. Wenn sie sich um ein paar unwichtige Ziele zusammenrotteten, verloren sie vielleicht auf lange Sicht, doch vorerst… wurde der Feind verletzt. Zum ersten Mal seit dem Untergang von Sjandra Kei schlug die Sicherheitsgesellschaft zurück.

Haugen: »Bei den MÄCHTEN, war der Bursche in Fahrt! Eine Sekundärsonde hat bei der Vernichtung das elektromagnetische Spektrum aufgenommen. Das Ziel flog mit 15.000 Kilometer pro Sekunde Echtgeschwindigkeit.« Eine Raketenbombe, die sich gerade in Gang setzte? Verdammt. Sie mussten das zurückstellen, bis sie das Schlachtfeld unter Kontrolle hatten.

Tirroll: »Weitere Treffer am anderen Rande des Schlachtfelds. Der Feind gruppiert sich um. Irgendwie haben sie erraten, hinter welchen wir her sind…«

Glimfrell: Triumphierendes Pfeifen. »Erledigt sie, erledigt sie… och. Chef, ich glaube, Limmende hat herausgefunden, dass wir alles koordinieren…«

Über Tirrolls Posten öffnete sich ein neues Fenster. Es zeigte die fünf Millionen Kilometer rings um die Ølvira. Zwei weitere Schiffe waren jetzt dort: das Fenster identifizierte sie als Limmendes Flaggschiff und eins von den Schiffen, die nicht auf Svensndot Anwerbung geantwortet hatten.

Für einen Moment war es auf dem Steuerdeck der Ølvira still. Die Triumph- und Panikrufe vom Rest der Flotte schienen auf einmal sehr weit weg zu sein. Svensndot und seine Mannschaft sahen dem Tod in die Augen. »Tirroll! Wann werden sie…«

»Sie schwärmen schon – eben sind wir einer Sonde um zehn Millisekunden entgangen.«

»Tirroll! Steuerung laufender Gefechte einstellen. Glimfrell, sag Lynsnar und Trance, sie sollen das Kommando übernehmen, wenn wir Verbindung verlieren.« Diese Schiffe hatten ihre Sonden schon verbraucht, und Jo Haugen war allen anderen Kapitänen bekannt.

Dann war der Gedanke vergessen, und er hatte zu tun, den eigenen Kampfschwarm der Ølvira zu koordinieren. Das örtliche Taktikfenster zeigte, wie sich der Schwarm verteilte und verschiedene Farben annahm, je nachdem, ob die Sonden der Ølvira voraus- oder nacheilten.

Ihre beiden Angreifer hatten die Pseudo-Geschwindigkeiten perfekt angepasst. Zehnmal pro Sekunde sprangen alle drei Schiffe um den winzigen Bruchteil eines Lichtjahrs weiter. Wie flache Steine, die über die Oberfläche eines Teiches schnellen, erschienen sie in perfekt bemessenen Sprüngen im Echtraum – und bei jedem Auftauchen betrug der Abstand zwischen ihnen weniger als fünf Millionen Kilometer. Das Einzige, was sie jetzt trennte, waren Unterschiede von Millisekunden zwischen den Sprungzeiten und die Tatsache, dass das Licht selbst in der kurzen Zeit, die sie an jedem Sprungpunkt verweilten, nicht vom einen zum anderen laufen konnte.

Drei grelle Lichtblitze erhellten das Deck und zeichneten scharfe Schatten von Svensndot und den Dirokimen. Es war Licht aus zweiter Hand, das Notsignal des Bildschirms, das eine Explosion in nächster Nähe anzeigte. Mach, dass du wegkommst, war die Botschaft, die jede vernünftige Person aus diesem schrecklichen Licht lesen müsste. Es wäre einfach genug gewesen, aus der Phase zu gehen… und die taktische Kontrolle der Aniara-Flotte zu verlieren. Tirroll und Glimfrell wandten den Kopf vom örtlichen Fenster weg, scheuten vor dem Glanz des nahen Todes zurück. Ihre pfeifenden Stimmen gerieten kaum aus dem Gleichmaß, und weiterhin ergingen von der Ølvira die Befehle an die anderen. Ringsum waren Dutzende von weiteren Gefechten im Gange. Momentan war die Ølvira die einzige Quelle von Präzision und Steuerung, über die ihre Seite verfügte. Jede Sekunde, die sie auf dem Posten blieben, bedeutete für die Aniara Schutz und Vorteil. Zu fliehen hätte Minuten des Chaos bedeutet, bis Lynsnar oder Trance die Leitung übernehmen konnten.

Fast zwei Drittel von Pham Nuwens Zielen waren jetzt vernichtet. Der Preis war hoch gewesen, die Hälfte von Svensndots Freunden. Der Feind hatte viel geopfert, um diese Ziele zu schützen, dennoch war noch viel von seiner Flotte übrig.

Eine unsichtbare Hand versetzte der Ølvira einen Schlag und schleuderte Svensndot hart gegen seinen Gefechtsharnisch. Die Lichter gingen aus, selbst das Leuchten der Anzeigefenster. Dann drang trübes rotes Licht vom Fußboden her. Ein einziger kleiner Bildschirm zeichnete die Silhouetten der Dirokime. ’Roll pfiff leise. »Wir sind aus dem Spiel, Chef, zumindest solange es darauf ankommt. Ich habe nicht gewusst, dass Fehltreffer so nahe sein können.«

Vielleicht war es gar kein Fehltreffer. Kjet schälte sich aus seinem Harnisch und schnellte sich quer durch den Raum, um kopfunter über dem winzigen Monitor hängen zu bleiben. Vielleicht sind wir schon tot. Irgendwo sehr nahe war eine Sonde detoniert, und die Wellenfront hatte die Ølvira erreicht, ehe sie sprang. Der harte Stoß war die Explosion der äußeren Teile des Schiffsrumpfes gewesen, als sie die weiche Röntgenkomponente der feindlichen Ladung absorbiert hatten. Er starrte auf die roten Buchstaben, wie sie langsam über die Schadensanzeige wanderten. Höchstwahrscheinlich war die Elektronik auf Dauer tot; eventuell hatten sie alle eine tödliche Dosis Gammastrahlung abgekriegt. Der Geruch verbrannter Isolation drang mit dem Luftstrom des Ventilators durch den Raum.

»Ayja! Seht euch das an. Noch fünf Nanosekunden, und wir wären überhaupt nicht gestreift worden. Wir sind tatsächlich gesprungen, nachdem uns die Front traf!« Und irgendwie hatte die Elektronik lange genug durchgehalten, um den Sprung zu vollenden. Der Gammastrom durch das Steuerdeck hatte 200 rem betragen, nichts, was sie in den nächsten paar Stunden beeinträchtigen würde, und vom Schiffs-Chirurgen leicht zu behandeln. Was den Chirurgen und die übrige Automatik der Ølvira betraf…

Tirroll tippte etliche lange Abfragen in den Kasten; die Stimmerkennung war ausgefallen. Mehrere Sekunden vergingen, bis eine Antwort über den Bildschirm lief. »Zentrale Automatik außer Betrieb. Bildschirmverwaltung außer Betrieb. Antriebsberechnung außer Betrieb.« Tirroll stieß seinen Bruder an. »He, ’Frell, es sieht aus, als ob die ’Vira sich noch ordentlich abgeschaltet hat. Das meiste davon können wir wieder in Gang bringen!«

 

Dirokime waren bekannt als haltlose Optimisten, doch in diesem Fall lag Tirroll nicht weit von der Wahrheit entfernt. Ihre Begegnung mit der Bombensonde war etwas gewesen, das einmal in einer Milliarde Fälle vorkommt, der winzigste Bruchteil eines Treffers. Die nächsten anderthalb Stunden hindurch ließen die Dirokime vom gehärteten Prozessor des Monitors aus Routinen für den Neustart laufen und brachten erst ein Aggregat, dann das andere wieder in Gang. Manches war nicht mehr zu retten: Die Kommunikationsautomatik hatte die Sprachanalyse-Intelligenz verloren, und die Ultraantriebsdorne auf einer Seite des Schiffes waren teilweise geschmolzen. (Absurderweise hatte der Brandgeruch von einem verirrten Diagnosesystem gestammt, das eigentlich zusammen mit der übrigen Automatik der Ølvira hätte abgeschaltet werden müssen.) Sie lagen weit hinter der Pestflotte zurück.

… und es gab immer noch eine Pestflotte. Der Knoten der feindlichen Lichter war kleiner als zuvor, doch unbeirrbar auf derselben Flugbahn. Die Schlacht war lange vorüber. Die Reste der Sicherheitsgesellschaft waren über vier Lichtjahre verlassenes Schlachtfeld verstreut; sie hatten die Schlacht mit zahlenmäßiger Überlegenheit begonnen. Wenn sie richtig gekämpft hätten, hätten sie vielleicht gewonnen. Statt dessen hatten sie die Schiffe mit signifikanten Echtgeschwindigkeiten zerstört – und nur etwa die Hälfte der übrigen. Einige von den größten Flotteneinheiten des Feindes waren noch intakt. Diese übertrafen die entsprechenden Überlebenden der Aniara-Flotte zahlenmäßig um mehr als das Vierfache. Die PEST hätte leicht alles vernichten können, was von der Sicherheitsgesellschaft übrig war. Doch das hätte einen Umweg bei der Verfolgungsjagd bedeutet, und diese Jagd war die einzige Konstante im Verhalten des Feindes.

Tirroll und Glimfrell brachten Stunden damit zu, die Verbindung wiederherzustellen und herauszufinden, was zerstört war und was vielleicht wiederhergestellt werden konnte. Fünf Schiffe hatten alle Antriebsmittel eingebüßt, die Besatzungen aber hatten überlebt. Manche Schiffe waren an bekannten Orten getroffen worden, und Svensndot sandte Schiffe mit Sondenschwärmen aus, um die Wracks zu suchen. Kriegführung Schiff gegen Schiff war für die meisten Überlebenden eine saubere, intellektuelle Übung, doch Trümmer und Zerstörungen waren nicht weniger wirklich als bei einem Bodenkrieg, nur über das Billionenfache an Raum verteilt.

 

Schließlich war die Zeit für wunderbare Rettungen und traurige Entdeckungen vorüber. Die Befehlshaber von SjK versammelten sich auf einem gemeinsamen Kanal, um über eine gemeinsame Zukunft zu entscheiden. Es wäre vielleicht besser eine Totenwache gewesen – für Sjandra Kei und die Aniara-Flotte. Mitten in der Besprechung tauchte ein neues Fenster auf, ein Blick auf die Brücke der Aus der Reihe. Ravna Bergsndot verfolgte die Unterredung schweigend. Die ›Gottsplitter‹ von einst waren nirgends auszumachen.

»Was ist noch zu tun?«, sagte Johanna Haugen. »Die verdammten Schmetterlinge sind längst fort.«

»Sind wir sicher, dass wir alle gerettet haben?«, fragte Jan Trenglets. Svensndot gab eine wütende Erwiderung von sich. Der Kommandeur der Trance fing immer wieder damit an. Er hatte zu viele Freunde in der Schlacht verloren; den ganzen Rest seines Lebens würden ihn Alpträume von Schiffen plagen, die einen langsamen Tod in der tiefen Nacht starben.

»Wir haben alles registriert, sogar Gaswolken«, sagte Haugen so sanft, wie die Worte es erlaubten. »Die Frage ist, wohin wir uns jetzt wenden sollen.«

Ravna räusperte sich. »Meine Herren und Damen, wenn…«

Trenglets schaute auf ihr übertragenes Bild. All sein Schmerz verwandelte sich in einen Wutausbruch. »Wir sind nicht deine Herren, du Schlampe! Du bist keine Fürstin, für die wir gern in den Tod gehen. Du verdienst jetzt unser tödliches Feuer und weiter nichts.«

Die Frau wurde klein angesichts von Trenglets’ Zorn. »Ich…«

»Ihr habt uns in diese selbstmörderische Schlacht gehetzt«, schrie Trenglets. »Ihr habt uns dazu gebracht, unbedeutende Ziele anzugreifen. Und dann habt ihr nichts getan, um uns zu helfen. Die PEST ist auf euch fixiert wie ein Dämhai auf einen Kraken. Wenn ihr euren Kurs auch nur um den winzigsten Bruchteil geändert hättet, hättet ihr die Pestler von unserem Weg abbringen können.«

»Ich glaube nicht, dass das etwas genutzt hätte, mein Herr«, sagte Ravna. »Die PEST scheint eher an unserem Ziel interessiert zu sein.« An dem Sonnensystem ein paar Dutzend Lichtjahre vor der Aus der Reihe. Die Flüchtlinge würden dort gerade mal reichlich zwei Tage vor ihren Verfolgern eintreffen.

Jo Haugen zuckte die Achseln. »Ihnen muss klar sein, was der verrückte Schlachtplan Ihres Freundes angerichtet hat. Wenn wir den Angriff vernünftig geführt hätten, dann hätte unser Feind nur noch den Bruchteil seiner gegenwärtigen Stärke. Wenn er beschlossen hätte, die Verfolgung fortzusetzen, hätten wir Sie vielleicht auf dieser… dieser Klauenwelt beschützen können.« Sie schien dem Klang des sonderbaren Namens nachzulauschen und sich zu fragen, was er bedeuten mochte. »Jetzt… ich denke nicht daran, sie dorthin zu verfolgen. Was von dem Feind übrig ist, könnte uns auslöschen.« Sie schaute in Svensndots Richtung. Kjet zwang sich, den Blick zu erwidern. Egal, wer der Aus der Reihe die Schuld geben mochte, es war Gruppenkapitän Kjet Svensndot gewesen, der die Flotte zu ihrer Taktik überredet hatte. Aniaras Opfer war vergeudet worden, und er wunderte sich, dass Haugen und Trenglets und die anderen überhaupt noch mit ihm sprachen. »Schlage vor, wir setzen die Besprechung später fort. Rendezvous in eintausend Sekunden, Kjet.«

»Ich werde bereit sein.«

»Gut.« Jo unterbrach die Verbindung, ohne noch etwas zu Ravna Bergsndot zu sagen. Sekunden später waren Trenglets und die anderen Kommandeure fort. Nur noch Svensndot und die beiden Dirokime waren da – und Ravna Bergsndot, die über den Bildschirm von der Aus der Reihe her blickte.

Schließlich sagte Bergsndot: »Als ich ein kleines Mädchen auf Herte war, haben wir manchmal Kidnapper und Sicherheitsgesellschaft gespielt. Ich habe immer davon geträumt, von Ihrer Gesellschaft vor Dingen schlimmer als der Tod gerettet zu werden.«

Kjet lächelte matt. »Nun, Sie haben einen Rettungsversuch gekriegt«, und dabei sind Sie zur Zeit nicht einmal ein eingetragener Kunde. »Das war bei weitem die größte Schießerei, die ich je mitgemacht habe.«

»Es tut mir Leid, Kjet – Gruppenkapitän.«

Er betrachtete ihre dunklen Gesichtszüge. Ein Mädchen von Sjandra Kei, bis hin zu den violetten Augen. Das konnte unmöglich eine Simulation sein, nicht hier unten. Er hatte alles darauf gesetzt, dass sie keine war; er glaubte das noch immer. Dennoch… »Was sagt Ihr Freund zu alledem?« Pham Nuwen war seit seiner so beeindruckenden Gottsplitter-Nummer zu Beginn der Schlacht nicht mehr gesehen worden.

Ravnas Blick glitt etwas seitlich von der Kamera weg. »Er sagt nicht viel, Gruppenkapitän. Er läuft noch bestürzter als Ihr Kapitän Trenglets herum. Pham erinnert sich, dass er absolut überzeugt war, das Richtige zu verlangen, aber jetzt kann er nicht herausfinden, warum es richtig war.«

»Hmm.« Etwas spät, um es sich noch einmal zu überlegen. »Was werden Sie jetzt tun? Sie wissen, dass Haugen Recht hat. Es wäre für uns sinnloser Selbstmord, den Pestlern zu ihrem Ziel zu folgen. Ich wage zu sagen, dass es auch für Sie sinnloser Selbstmord ist. Sie werden vielleicht fünfundfünfzig Stunden vor ihnen ankommen. Was können Sie in der Zeit tun?«

Ravna Bergsndot erwiderte seinen Blick, und ihr Gesichtsausdruck brach langsam in gramvolles Schluchzen zusammen. »Ich weiß nicht. Ich… weiß nicht.« Sie schüttelte den Kopf, das Gesicht hinter den Händen und einer Strähne schwarzen Haares verborgen. Schließlich schaute sie auf und strich die Haare zurück. Ihre Stimme war ruhig, doch sehr leise.

»Ich… weiß nicht. Aber wir fliegen weiter. Darum sind wir gekommen. Es könnte immer noch klappen… Sie wissen, dass es da unten etwas gibt, etwas, das die PEST verzweifelt haben will. Vielleicht sind fünfundfünfzig Stunden genug, es herauszufinden und dem Netz mitzuteilen. Und… wir haben immer noch Phams Gottsplitter.«

Euren schlimmsten Feind? Es mochte durchaus sein, dass Pham Nuwen ein Gebilde der MÄCHTE war. Jedenfalls sah er so aus, als sei er nach einer Beschreibung der Menschheit aus zweiter Hand gebaut worden. Doch wie sollte man Gottsplitter von gewöhnlicher Spinnerei unterscheiden?

Sie zuckte die Achseln, als sei sie sich der Zweifel bewusst – und nehme sie hin. »Was werden Sie und die Sicherheitsgesellschaft also tun?«

»Es gibt keine Sicherheitsgesellschaft mehr. Es sieht so aus, als ob alle unsere Kunden vor unseren Augen abgeschossen worden seien. Jetzt haben wir die Besitzerin unserer Gesellschaft getötet – oder zumindest ihr Schiff zerstört, und die Schiffe, die sie unterstützt haben. Wir sind jetzt die Aniara-Flotte.« Das war der offizielle Name, der auf der soeben beendeten Flottenbesprechung beschlossen worden war. Es lag eine Art grimmiges Vergnügen darin, sich mit diesem Namen zu verbinden, mit dem Gespenst aus der Zeit vor Sjandra Kei und vor der Nyjora, aus den frühesten Zeiten der menschlichen Rasse. Denn nun waren sie tatsächlich abgeschnitten von ihren Welten und ihren Kunden und ihren früheren Führern. Einhundert Schiffe auf dem Wege nach… »Wir haben es besprochen. Ein paar wollten Ihnen immer noch auf die Klauenwelt folgen. Manche von den Besatzungen wollen ins Mittlere Jenseits zurückkehren und den Rest ihres Lebens mit dem Töten von Schmetterlingen zubringen. Die Mehrheit will die Rasse von Sjandra Kei von neuem beginnen lassen, an einem Ort, wo wir nicht bemerkt werden, wo es niemanden kümmert, ob wir leben.«

Und in einem Punkt stimmten alle überein: dass Aniara nicht weiter aufgespalten werden durfte, keine Opfer mehr für andere bringen sollte. Nachdem das klar war, fiel es nicht schwer, zu entscheiden, was zu tun sei. Nach der Großen Flutwelle war dieser Teil des Grundes ein unglaublicher Schaum von Langsam und Jenseits. Es würde Jahrhunderte dauern, ehe die zonographischen Schiffe von weiter oben brauchbare Karten der neuen Grenzschicht besaßen. Versteckt in den Falten und Fugen lagen Welten frisch aus dem Langsam, Welten, wo Sjandra Kei wiedergeboren werden konnte. Ny Sjandra Kei?

Er schaute quer über die Brücke nach Tirroll und Glimfrell. Sie waren damit beschäftigt, die Haupt-Navigationsprozessoren wieder in Gang zu bringen. Das war nicht unbedingt nötig für das Rendezvous mit der Lynsnar, doch es wäre viel bequemer, wenn beide Schiffe manövrieren könnten. Die Brüder schienen Kjets Unterhaltung mit Ravna nicht wahrzunehmen. Und vielleicht beachteten sie sie nicht. In mancher Hinsicht bedeutete für sie die Entscheidung für Aniara mehr als für die Menschen in der Flotte: Niemand zweifelte daran, dass im Jenseits noch Millionen von Menschen lebten (und wer wusste, wie viel Menschenwelten es vielleicht noch im Langsam gab, entfernte Vettern der Nyjora, ferne Nachkommen der Alten Erde). Doch diesseits des Transzens waren die Dirokime von Aniara die einzigen, die es gab. Die Traumhabitate von Sjandra Kei waren dahin, und mit ihnen die Rasse. An Bord der Aniara befanden sich mindestens eintausend Dirokime, Paare von Schwestern und Brüdern, auf hundert Schiffe verteilt. Es waren die Abenteuerhungrigsten aus den alten Tagen ihrer Rasse, und nun sahen sie sich ihrer größten Herausforderung gegenüber. Die beiden auf der Ølvira hatten schon unter den Überlebenden nach Freundinnen und Freunden Ausschau gehalten und begonnen, eine neue Wirklichkeit zu träumen.

Ravna hörte sich seine Erklärungen mit großem Ernst an. »Gruppenkapitän, Zonographie ist eine heikle Sache – und Ihre Schiffe haben bald ihre Grenzen erreicht. In diesem Schaum könnten Sie jahrelang suchen, ohne eine neue Heimat zu finden.«

»Wir treffen Sicherheitsvorkehrungen. Wir geben alle Schiffe außer die mit Staustrahlantrieb und Kälteschlaf-Vorrichtungen auf. Wir werden in koordinierten Netzen vorgehen; niemand dürfte länger als ein paar Jahre verlorengehen.« Er zuckte die Achseln. »Und wenn wir niemals finden, was wir suchen« – wenn wir zwischen den Sternen sterben, während die Lebenserhaltungssysteme allmählich versagen –, »nun gut, dann werden wir immer noch getreu unserem Namen gelebt haben.« Aniara. »Ich glaube, wir haben eine Chance.« Das ist mehr, als man von euch sagen kann.

Ravna nickte langsam. »Ja, gut. Es… ist gut, das zu wissen.«

Sie redeten noch eine Weile, Tirroll und Glimfrell beteiligten sich. Sie hatten sich im Mittelpunkt von etwas sehr Großem befunden, doch wie üblich in den Angelegenheiten der MÄCHTE wusste niemand recht, was geschehen war, noch welches Ergebnis die Bemühungen hatten.

»Rendezvous Lynsnar zweihundert Sekunden«, sagte die Stimme des Schiffs.

Ravna hörte es, nickte. Sie hob die Hand. »Lebt wohl, Kjet Svensndot und Tirroll und Glimfrell.«

Die Dirokime pfiffen das gemeinsame Lebewohl zur Antwort, und Svensndot hob die Hand. Das Fenster mit Ravna Bergsndot verschwand.

… Kjet Svensndot erinnerte sich sein ganzes Leben lang an ihr Gesicht, obwohl es in späteren Jahren immer mehr mit dem von Ølvira zu verschmelzen schien.