FÜNFUNDZWANZIG

 

Die Reise der Aus der Reihe II hatte in einer Katastrophe begonnen, wo ein paar Minuten oder Stunden über Leben und Tod entschieden. In den ersten Wochen hatte es Entsetzen und Einsamkeit und Phams Wiederbelebung gegeben. Die ADR war schnell zur Galaxisebene hin abgestiegen, fort von Relais. Tag für Tag kippte der Sternenwirbel nach oben, ihnen entgegen, bis er ein einziges Lichtband war, die Milchstraße aus der Perspektive der Nyjora und der Alten Erde – und der meisten bewohnbaren Planeten der Galaxis.

Zwanzigtausend Lichtjahre in drei Wochen. Aber da hatte der Weg durchs Mittlere Jenseits geführt. Jetzt, in der Galaxisebene, waren sie noch etliche tausend Lichtjahre von ihrem Ziel am Grunde des Jenseits entfernt. Die Grenzflächen der Zonen folgten annähernd den Flächen gleicher mittlerer Dichte; in galaktischem Maßstab war der Grund eine unscharf linsenförmige Fläche, die einen großen Teil der Galaxisscheibe umschloss. Die ADR flog jetzt in der Ebene der Scheibe, mehr oder weniger auf das Zentrum der Galaxis zu. Jede Woche brachte sie näher an das Langsam heran. Schlimmer, ihre Route samt allen Varianten, die überhaupt ein Vorankommen versprachen, führte mitten durch ein Gebiet massiver Zonenverschiebungen. Die Netznachrichten hatten es den Großen Zonensturm genannt, obwohl es natürlich nicht die geringsten physikalischen Anzeichen von Turbulenzen innerhalb des Gebiets gab. Doch an manchen Tagen legten sie weniger als achtzig Prozent vom erwarteten Wert zurück.

Schon früh hatten sie festgestellt, dass es nicht nur der Sturm war, der ihren Flug verlangsamte. Blaustiel war nach draußen gegangen und hatte sich den Schaden angesehen, der von ihrer Flucht zurückgeblieben war.

»Es ist also das Schiff selbst?« Ravna hatte auf der Brücke gestanden und auf die nahen Sterne gestarrt, die jetzt unmerklich am Himmel entlangkrochen. Die Bestätigung kam nicht unerwartet. Doch was tun?

Blaustiel zockelte an der Decke hin und her. Jedesmal, wenn er die gegenüberliegende Wand erreichte, fragte er die Schiffsprogramme nach dem Druckverschluss an der Bugluke ab. Ravna starrte ihn an. »He, das war das x-te Mal, dass du in den letzten drei Minuten den Status überprüft hast. Wenn du wirklich glaubst, dass etwas nicht stimmt, dann bring es in Ordnung.«

Das Hin und Her des Skrodfahrers hörte abrupt auf. Seine Wedel bewegten sich unsicher. »Aber ich war gerade draußen. Ich möchte sicher sein, dass ich die Luke richtig verschlossen habe… Oh, Sie meinen, ich habe das schon überprüft?«

Ravna schaute zu ihm hoch und versuchte, nicht bissig zu klingen. Blaustiel war nicht das geeignete Ziel für ihre Frustration. »Hm. Mindestens fünfmal.«

»Tut mir Leid.« Er machte eine Pause und versenkte sich in die Stille vollständiger Konzentration. »Ich habe es ans Gedächtnis weitergegeben.« Manchmal war diese Gewohnheit nett und manchmal einfach irritierend: Wenn die Fahrer versuchten, an mehrere Dinge gleichzeitig zu denken, waren ihre Skrods mitunter außerstande, das Kurzzeitgedächtnis zu bewahren. Vor allem Blaustiel geriet oft in Verhaltenszyklen, wo er eine Tätigkeit wiederholte und sofort vergaß, dass er sie erledigt hatte.

Pham grinste, er sah viel gelassener aus, als sich Ravna fühlte. »Was ich nicht begreife: Warum tut ihr Fahrer nichts dagegen?«

»Was?«

»Na, der Schiffsbibliothek zufolge habt ihr diese Skrod-Geräte, solange es ein Netz gibt. Wieso habt ihr dann nicht die Konstruktion verbessert, die dummen Räder abgeschafft, die Gedächtnisroutinen modernisiert? Ich wette, dass sogar ein Kampfprogrammierer aus der Langsamen Zone wie ich eine bessere Konstruktion als die hinkriegt, mit der ihr fahrt.«

»Das ist wirklich eine Frage der Tradition«, sagte Blaustiel steif. »Wir sind Dem dankbar, der oder das uns zum erstenmal Räder und Gedächtnis gegeben hat.«

»Hmm.«

Fast hätte Ravna gelächelt. Mittlerweile kannte sie Pham gut genug, um zu wissen, was er dachte – nämlich, dass vielleicht eine Menge Fahrer es im Transzens zu etwas Besserem gebracht hatten. Die zurückgeblieben waren, hatten sich wahrscheinlich selbst Beschränkungen auferlegt.

»Ja. Tradition. Viele, die einst Fahrer waren, haben sich verändert – sind sogar transzendiert. Wir aber beharren.« Grünmuschel machte eine Pause, und als sie fortfuhr, klang sie sogar noch schüchterner als sonst. »Sie haben vom Großen Fahrer-Mythos gehört?«

»Nein«, sagte Ravna, gegen ihre Natur beunruhigt. In der Zeit, die vor ihnen lag, würde sie über diese Skrodfahrer so viel wissen wie über jeden Freund unter den Menschen, doch vorerst steckten sie noch voller Überraschungen.

»Nicht viele kennen ihn. Nicht, dass es ein Geheimnis wäre; wir machen nur nicht viel Gerede darum. Er ist beinahe eine Religion, aber wir missionieren nicht. Vor vier oder fünf Milliarden Jahren hat jemand die ersten Skrods gebaut und die ersten Fahrer zu intelligentem Bewusstsein erhoben. So weit sind es nachgeprüfte Tatsachen. Der Mythos besagt, dass etwas unseren Schöpfer und alle seine Werke vernichtet hat… Eine Katastrophe, so groß, dass sie aus dieser Entfernung nicht einmal als gezielte Tat einer Intelligenz zu fassen ist.«

Es gab eine Menge Theorien, wie die Galaxis in ferner Vergangenheit ausgesehen hatte, in der Zeit der Ur-Trennung. Aber das Netz konnte nicht schon immer bestanden haben. Es musste einen Anfang geben. Ravna hatte nie besonders an die Alten Kriege und Katastrophen geglaubt.

»In gewissem Sinne«, sagte Grünmuschel, »sind wir Fahrer also die Getreuen, die darauf warten, dass unser Schöpfer wiederkehrt. Der traditionelle Skrod und die traditionelle Anschlussstelle sind ein Standard. Dabei zu bleiben, hat unsere Geduld möglich gemacht.«

»Durchaus«, sagte Blaustiel. »Und die Konstruktion ist sehr subtil, meine Dame, obwohl die Funktion einfach ist.« Er rollte in die Mitte der Decke. »Der Skrod der Tradition zwingt zu guter Disziplin – Konzentration auf das wirklich Wichtige. Jetzt eben habe ich versucht, mir über zu viele Dinge Sorgen zu machen…« Abrupt kehrte er zum aktuellen Thema zurück: »Zwei von unseren Antriebsdornen haben sich nie von den Schäden bei Relais erholt. Drei weitere scheinen allmählich schlechter zu werden. Wir dachten, dieses langsame Fortkommen läge nur am Sturm, doch jetzt habe ich die Dorne aus der Nähe untersucht. Die Warnungen der Diagnosesysteme waren kein blinder Alarm.«

»Und es wird noch schlimmer?«

»Leider ja.«

»Wie schlimm wird es also?«

Blaustiel zog alle seine Ranken zusammen. »Meine Dame Ravna, wir können die Extrapolationen noch nicht sicher einschätzen. Vielleicht wird es nicht schlimmer als jetzt, oder… Sie wissen, dass die ADR nicht vollständig zum Abflug bereit war. Die letzten Funktionsproben standen noch bevor. In gewissem Sinne beunruhigt mich das mehr als alles andere. Wir wissen nicht, welche Programmfehler da womöglich versteckt sind, vor allem, wenn wir den Grund erreichen und auf unsere normale Automatik verzichten müssen. Wir müssen die Antriebsaggregate sehr gründlich im Auge behalten… und hoffen.«

Das war der Alptraum, der Reisende verfolgte, vor allem am Grunde des Jenseits: Wenn der Ultraantrieb ausfiel, war ein Lichtjahr auf einmal keine Frage von Minuten mehr, sondern von Jahren. Selbst wenn sie den Staustrahlantrieb in Gang setzten und sich in Kälteschlaf legten, wäre Jefri Olsndot tausend Jahre tot, ehe sie ihn erreichten, und das Geheimnis um das Schiff seiner Eltern wäre in einem mittelalterlichen Abfallhaufen begraben.

Pham Nuwen wies auf die sich langsam verschiebenden Sternenfelder. »Das ist immer noch das Jenseits. Jede Stunde kommen wir weiter voran, als es die Flotte der Dschöng Ho in einem Jahrzehnt vermocht hätte.« Er hob die Schultern. »Es gibt gewiss einen Ort, wo wir Reparaturen vornehmen lassen können?«

»Mehrere.«

Das war’s dann mit einem ›schnellen Flug, ganz unbeobachtet‹. Ravna seufzte. Die letzte Anpassung bei Relais hatte Ersatzteile und erprobte, grundtaugliche Software umfassen sollen. All das waren jetzt weit entfernte Wenns. Sie blickte Grünmuschel an. »Hast du irgendwelche Ideen?«

»Worüber?«, sagte Grünmuschel.

Ravna biss sich auf die Lippe. Manche behaupteten, die Skrodfahrer seien eine Rasse von Komödianten; das waren sie wirklich – doch größtenteils unwillkürlich.

Blaustiel rasselte seiner Partnerin etwas zu.

»Oh! Sie meinen, wo wir Hilfe finden können. Ja, es gibt mehrere Möglichkeiten. Sjandra Kei liegt dreitausendneunhundert Lichtjahre antispinwärts von hier, aber außerhalb dieses Sturms. Wir…«

»Zu weit.« Ravna und Blaustiel sprachen fast im Chor.

»Ja, ja, aber bedenkt: Die Welten von Sjandra Kei sind größtenteils von Menschen bewohnt, Ihre Heimat, meine Dame Ravna. Und Blaustiel und ich kennen sie gut; schließlich waren sie der Ursprungsort der Crypto-Fracht, die wir nach Relais gebracht haben. Wir haben Freunde dort, und Sie Ihre Familie. Sogar Blaustiel ist der Meinung, dass wir die Arbeiten dort erledigen lassen können, ohne dass es auffällt.«

»Ja, falls wir es dorthin schaffen.« Blaustiels Voderstimme klang bockig.

»Nun gut, welche anderen Möglichkeiten haben wir?«

»Sie sind nicht so gut bekannt. Ich werde eine Liste zusammenstellen.« Ihre Wedel huschten über ein Pult. »Unsere letzte Gelegenheit, uns zu entscheiden, liegt ziemlich nahe an unserem geplanten Kurs. Es ist eine Ein-System-Zivilisation. Der Netzname ist… Übersetzt lautet er Harmonische Ruhe.«

»Ruhe sanft, ja?«, sagte Pham.

Aber sie hatten beschlossen, still weiterzufliegen, die beschädigten Antriebsdorne ständig zu beobachten und die Entscheidung, ob sie einen Reparaturhalt einlegen wollten, zu verschieben.

 

Aus Tagen wurden Wochen, und Wochen summierten sich langsam zu Monaten. Vier Reisende auf einer Mission zum Grund hin. Der Antrieb wurde schlechter, aber langsam, genau, wie die Diagnosesysteme der ADR es vorausgesagt hatten.

Die PEST breitete sich weiter über die Obergrenze des Jenseits aus, und ihre Angriffe auf Netzarchive erstreckten sich weit über ihren unmittelbaren Bereich hinaus.

Die Verbindung mit Jefri wurde besser. Botschaften tröpfelten mit einer Häufigkeit von einer oder zweien pro Tag herein. Manchmal, wenn der Antennenschwarm der ADR genau richtig abgestimmt war, unterhielten sich Jefri und Ravna fast in Echtzeit. Die Arbeiten auf der Klauenwelt kamen schneller voran, als sie erwartet hatte – vielleicht schnell genug, dass sich der Junge retten konnte.

Es hätte schwer sein müssen – eingeschlossen in einem einzigen Schiff mit nur drei anderen, mit einem einzigen Verbindungsdraht nach draußen, der zudem zu einem verirrten Kind führte.

Jedenfalls war es selten langweilig. Ravna stellte fest, dass jeder von ihnen eine Menge zu tun hatte. Für sie selbst hieß das, die Schiffsbibliothek zu bedienen und die Pläne zutage zu fördern, die Herrn Stahl und Jefri helfen würden. Die Bibliothek der ADR war nichts im Vergleich zum Archiv bei Relais oder selbst zu den Universitätsbibliotheken bei Sjandra Kei, aber ohne die geeignete Suchautomatik wäre sie genauso unergründlich gewesen. Und in dem Maße, wie ihre Reise voranschritt, benötigte die Automatik mehr und mehr besondere Pflege.

Und… mit Pham in der Nähe konnte es niemals langweilig werden. Er hatte ein Dutzend Projekte und war neugierig auf alles. »Reisezeit kann ein Geschenk sein«, pflegte er zu sagen. »Jetzt haben wir Zeit, selbst aufzuholen, uns auf alles vorzubereiten, was vor uns liegen mag.« Er lernte Samnorsk. Es ging langsamer als sein vorgespiegeltes Lernen auf Relais, aber der Bursche hatte eine natürliche Neigung für Sprachen, und Ravna verschaffte ihm eine Menge Übung.

Mehrere Stunden pro Tag verbrachte er in der Werkstatt der ADR, oft zusammen mit Blaustiel. Realitätsgrafik war neu für ihn, aber nach ein paar Wochen hatte er die Spielzeug-Prototypen hinter sich. Die Skaphander, die er baute, verfügten über eigenen Antrieb und Waffenholster. »Wir wissen nicht, wie die Dinge stehen können, wenn wir ankommen; eine Rüstung mit eigenem Antrieb könnte wirklich nützlich sein.«

Am Ende jedes Arbeitstages trafen sie sich alle auf dem Steuerdeck, um Beobachtungen zu vergleichen, das Neueste von Jefri und Herrn Stahl zu überdenken, den Antriebsstatus zu überprüfen. Für Ravna konnte das die glücklichste Zeit des Tages sein – und manchmal die schwerste. Pham hatte die Bildschirmautomatik manipuliert, sodass sie ringsum Burgmauern zeigte. Ein großer Kamin ersetzte das normale Kom-Status-Fenster. Der Klang war fast perfekt; Pham hatte es sogar geschafft, dass die Wand eine kleine Menge ›Feuerwärme‹ ausstrahlte. Es war eine Burghalle aus Phams Erinnerung, von Canberra, wie er sagte. Aber sie unterschied sich nicht allzu sehr vom Zeitalter der Fürstinnen auf der Nyjora (obwohl die meisten von jenen Burgen in tropischem Sumpfland gestanden hatten, wo große Kamine selten benutzt wurden). Aus irgendeinem perversen Grunde schien es sogar den Skrodfahrern zu gefallen; Grünmuschel sagte, dass es sie an einen Handelsposten aus ihren ersten Jahren mit Blaustiel erinnerte.

Wie Reisende, die einen langen Tag über gegangen sind, ruhten sich die vier in der Gemütlichkeit einer Phantomhütte aus. Und wenn die neuen Aufgaben festgelegt waren, erzählten Pham und die Skrodfahrer Geschichten, oft bis spät in die ›Nacht‹.

Ravna saß neben ihm, die am wenigsten Gesprächige von den vier. Sie beteiligte sich am Gelächter und manchmal an der Diskussion: Einmal machte sich Blaustiel über Phams Glauben an öffentliche Verschlüsselungscodes lustig, und Ravna kannte ein paar eigene Geschichten, die geeignet waren, die Meinung des Skrodfahrers zu illustrieren. Doch es war für sie auch die schwerste Zeit. Ja, die Geschichten waren wunderbar. Blaustiel und Grünmuschel waren an so vielen Orten gewesen, und sie waren mit ganzer Seele Kauffahrer. Betrügereien und Geschäfte und beidseitiger Nutzen gehörten zu ihrem Leben. Pham lauschte seinen Freunden, fast bezaubert – und erzählte dann seine eigenen Geschichten, wie er auf Canberra ein Prinz, in der Langsamen Zone ein Kauffahrer und Forscher gewesen war. Und bei all den Beschränkungen des Langsam übertrafen die Abenteuer seines Lebens sogar die der Skrodfahrer. Ravna lächelte und versuchte Begeisterung vorzutäuschen.

Denn Phams Geschichten waren zu viel. Er glaubte aufrichtig daran, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch so viel tat, so viel sah. Seinerzeit auf Relais hatte sie behauptet, seine Erinnerungen seien synthetisch, ein kleiner Scherz des ALTEN. Sie war sehr wütend gewesen, als sie es sagte, und mehr als alles wünschte sie, es nie gesagt zu haben – denn es war so offensichtlich wahr. Grünmuschel und Blaustiel bemerkten es nie, aber manchmal kam es vor, dass Pham mitten in einer Geschichte ins Stocken geriet und ein Ausdruck schwer verhohlener Panik in seine Augen trat. Irgendwo im Innern kannte auch er die Wahrheit, und sie fühlte unvermittelt den Wunsch, sich an ihn zu kuscheln, ihn zu trösten. Es war, wie wenn man einen schrecklich verwundeten Freund hat, mit dem man reden, niemals jedoch einander das Ausmaß der Verletzungen eingestehen kann. Statt dessen tat sie so, als gäbe es die Brüche nicht, und lächelte oder lachte über den Rest seiner Geschichte.

Und der Witz des ALTEN war so völlig unnötig. Pham brauchte kein großer Held zu sein. Er war ein anständiger Mensch, wenngleich egozentrisch und eine Art Spielverderber. Er hatte allemal so viel Beharrlichkeit wie sie, und mehr Mut.

Welche Kunstfertigkeit musste der ALTE besessen haben, um solch eine Person zu erschaffen, welche… Macht. Und wie sehr sie ihn hasste, auf Kosten solch einer Person einen Scherz gemacht zu haben.

 

Phams Gottsplitter machten sich kaum bemerkbar. Dafür war Ravna sehr dankbar. Ein- oder zweimal im Monat überkam ihn eine Art Trance. Ein, zwei Tage danach kaprizierte er sich dann auf ein neues Projekt, oft etwas, das er nicht deutlich erklären konnte. Aber es wurde nicht schlimmer, er trieb nicht von ihr fort.

»Und vielleicht retten uns die Gottsplitter letzten Endes«, sagte er, wenn sie den Mut aufbrachte, ihn danach zu fragen. »Nein, ich weiß nicht.« Er tippte sich an die Stirn. »Das da oben ist immer noch Gottes eigener Gerümpelboden. Und es sind mehr als Erinnerungen. Manchmal brauchen die Gottsplitter zum Denken meinen ganzen Geist, dann ist da kein Platz mehr für mein eigenes Bewusstsein, und danach kann ich es nicht erklären, aber… manchmal habe ich einen Schimmer. Was Jefris Eltern auch auf die Klauenwelt gebracht haben mögen: Es kann der PEST Schaden zufügen. Man könnte es ein Gegengift nennen – besser noch, ein Gegenmittel. Etwas, das der PERVERSION entwendet wurde, während sie in dem Straumli-Labor zur Welt kam. Etwas, wovon die PERVERSION erst sehr viel später auch nur das Geringste ahnte.«

Ravna seufzte. Es war schwer, sich gute Neuigkeiten vorzustellen, die zugleich derart beängstigend waren. »Die Straumer konnten so etwas direkt aus dem Herzen der PERVERSION herausschmuggeln?«

»Vielleicht. Oder vielleicht hat das GEGENMITTEL die Straumer benutzt, um der PERVERSION zu entkommen. Um sich unerreichbar tief zu verbergen und zu warten, bis es zuschlägt. Und ich glaube, der Plan könnte funktionieren, zumindest, wenn ich – wenn die Gottsplitter des ALTEN – dorthin gelangen und ihm helfen können. Sieh dir die Nachrichten an. Die PEST kehrt an der Obergrenze des Jenseits das Unterste zuoberst – auf der Jagd nach etwas. Der Schlag gegen Relais war noch das Geringste davon, eine kleine Nebenwirkung ihres Mordes an dem ALTEN. Sie sucht an lauter falschen Stellen. Wir werden bei dem GEGENMITTEL unsere Chance bekommen.«

Sie dachte an Jefris Botschaften. »Der Schimmel an den Wänden in Jefris Schiff. Du glaubst, das ist es?«

Phams Blick wurde unbestimmt. »Ja. Er wirkt völlig passiv, aber Jefri sagt, dass er von Anfang an da war, dass seine Eltern ihn davon fern hielten. Er scheint davon ein wenig abgestoßen zu sein… Das ist gut, es hält wahrscheinlich seine Klauenfreunde davon fern.«

Tausend Fragen blitzten auf. Gewiss taten sie das auch in Phams Kopf. Und auf keine konnten sie die Antwort wissen. Doch eines Tages würden sie vor diesem Unbekannten stehen, und die tote Hand des ALTEN würde handeln – durch Pham. Ravna erschauderte und sagte eine Weile nichts mehr.

 

Monat für Monat blieb das Schießpulver-Projekt auf der Tagesordnung des Forschungsprogramms für die Bibliothek. Die Klauenwesen waren leicht imstande gewesen, den Stoff herzustellen; es hatte sehr wenig Irrwege durch die Verzweigungen des Programms gegeben. Das kritische Ereignis, das alles verzögerte, war die Erprobung der Legierungen gewesen, doch damit waren sie jetzt auch überm Berg. Die Rudel von der »Verborgenen Insel« hatten die ersten drei Prototypen gebaut: Hinterladerkanonen, die klein genug waren, dass ein einzelnes Rudel sie ziehen konnte. Jefri schätzte, sie könnten in zehn Tagen mit der Massenproduktion beginnen.

Das Radioprojekt war das Sonderbare. In mancher Hinsicht blieb es hinter dem Zeitplan zurück, in anderer war mehr daraus geworden, als sich Ravna jemals vorgestellt hatte. Nach einer langen Zeit normaler Fortschritte war Jefri mit einem Gegenplan hervorgetreten. Er bestand in einer vollständigen Überarbeitung der Tabellen für das akustische Bindeglied.

»Ich dachte, diese Witzbolde sind in ihrem ersten Mittelalter«, sagte Pham Nuwen, als er Jefris Botschaft sah.

»Das stimmt. Anscheinend haben sie nur Schlussfolgerungen aus dem gezogen, was wir ihnen geschickt haben. Sie wollen das Rudeldenken per Funk unterstützen.«

»Hmm. Ja. Wir haben beschrieben, wie diese Tabellen das Transduktorgitter festlegen – alles in Samnorsk ohne technische Fachbegriffe. Dabei haben wir auch gezeigt, wie kleine Veränderungen in der Tabelle das Gitter ändern würden. Aber schau, unsere Konstruktion würde ihnen ein Drei-Kilohertz-Band verschaffen – eine hübsche Verbindung für Sprechfunk. Und du behauptest, dass die Anwendung dieser neuen Tabelle ihnen zweihundert Kilohertz liefern würde.«

»Ja. Das sagt mein Datio.«

Er zeigte sein eitles Grinsen. »Ha! Und das ist der springende Punkt. Gewiss, im Prinzip haben wir ihnen genug Information gegeben, um die Modifikation durchzuführen. Mir scheint, diese erweiterte Tabelle aufzustellen, entspricht der Lösung von, hmm…« – er zählte Reihen und Spalten –, »einer numerischen partiellen Differentialgleichung mit fünfhundert Knoten. Und Klein Jefri behauptet, dass alle seine Datios zerstört sind und dass der große Schiffscomputer nicht allgemein benutzbar ist.«

Ravna lehnte sich vom Bildschirm zurück. »Tut mir Leid. Ich verstehe, was du meinst.« Man gewöhnt sich so an alltägliche Werkzeuge, dass man manchmal vergisst, wie es ohne sie sein muss. »Du… du glaubst, das könnte das Werk… äh… des GEGENMITTELS sein?«

Pham Nuwen zögerte, als habe er diese Möglichkeit überhaupt nicht in Betracht gezogen. »Nein… nein, das ist es nicht. Ich glaube, dieser ›Herr Stahl‹ spielt mit uns. Wir haben weiter nichts als einen Bitstrom von ›Jefri‹. Was wissen wir, was wirklich vor sich geht?«

»Nun, ich will dir etwas sagen, das ich weiß. Wir reden mit einem Menschenkind, das im Straumli-Bereich aufgewachsen ist. Du hast die meisten von diesen Botschaften in Trisk-Übersetzung gelesen. Dabei geht eine Menge von der Umgangssprache und den kleinen Fehlern eines Kindes verloren, dessen Muttersprache Samnorsk ist. Die Einzigen, die so etwas imitieren könnten, wären erwachsene Menschen… Und nach über zwanzig Wochen, die ich Jefri kenne, kann ich dir sagen, dass sogar das unwahrscheinlich ist.«

»In Ordnung. Nehmen wir also an, Jefri ist echt. Wir haben dieses achtjährige Kind unten auf der Klauenwelt. Er sagt uns, was er für die Wahrheit hält. Und ich sage, es sieht danach aus, dass ihn jemand belügt. Vielleicht können wir dem trauen, was er mit eigenen Augen sieht. Er sagt, diese Geschöpfe haben keine Intelligenz, außer in Gruppen von fünf oder so. Gut. Glauben wir ihm das.« Pham ließ die Augen rollen. Anscheinend hatte seine Lektüre ihm gezeigt, wie selten Gruppenintelligenz unterhalb des Transzens war. »Der Junge sagt, sie haben vom Weltraum aus nichts außer kleinen Städten gesehen. Gut, akzeptiert. Aber. Wie groß sind die Chancen, dass diese Rasse klug genug ist, partielle Differentialgleichungen in den Köpfen zu lösen, und das nur auf Grundlage von Schlüssen, die sie aus deiner Botschaft gezogen haben?«

»Nun, es hat ein paar Menschen gegeben, die so klug waren.« Sie konnte einen Fall in der Geschichte der Nyjora nennen, ein paar weitere von der Alten Erde. Wenn derlei Fähigkeiten unter den Rudeln verbreitet waren, dann waren sie klüger als jede natürliche Rasse, von der sie je gehört hatte. »Es ist also kein erstes Mittelalter?«

»Richtig. Ich wette, das ist eine herabgesunkene Kolonie, die schwere Zeiten durchmacht – wie deine Nyjora oder mein Canberra, außer dass sie das Glück haben, sich im Jenseits zu befinden. Diese Hunderudel haben irgendwo einen funktionierenden Computer. Vielleicht steht er unter der Kontrolle ihrer Priesterkaste, vielleicht haben sie weiter nicht viel. Doch sie verheimlichen es uns.«

»Aber warum? Wir würden ihnen in jedem Fall helfen. Und Jefri hat uns erzählt, wie diese Gruppe ihn gerettet hat.«

Pham begann wieder zu lächeln, das alte hochnäsige Lächeln. Dann wurde er nüchterner. Er gab sich wirklich Mühe, diese Gewohnheit abzulegen. »Du bist auf einem Dutzend verschiedener Welten gewesen, Ravna. Und ich weiß, dass du von weiteren Tausenden gelesen hast, zumindest im Überblick. Wahrscheinlich kennst du Spielarten des Mittelalters, von denen ich nichts ahne. Aber denk daran, ich bin wirklich dort gewesen – glaube ich.« Das Letzte kam als nervöses Gemurmel.

»Ich habe vom Zeitalter der Fürstinnen gelesen«, sagte Ravna sanft.

»Ja…, und es tut mir Leid, dass ich das herabgesetzt habe. In jeder mittelalterlichen Politik hängen Klinge und Denken eng zusammen. Aber viel stärker für jemanden, der es durchgemacht hat. Schau, selbst wenn wir alles glauben, wovon Jefri sagt, dass er es gesehen hat, ist dieses Königreich der Verborgenen Insel eine finstere Sache.«

»Du meinst die Namen?«

»Wie Flenser, Stahl, Klauen? Raue Namen haben nicht unbedingt etwas zu bedeuten.« Pham lachte. »Ich meine, als ich acht Jahre alt war, lautete einer von meinen Titeln schon ›Fürst Meisterausdärmer‹.« Er sah Ravnas Gesichtsausdruck und fügte eilig hinzu: »Und in diesem Alter hatte ich höchstens ein paar Hinrichtungen auch nur gesehen! Nein, die Namen sind nur ein kleiner Teil davon. Ich denke an die Beschreibung des Kindes von der Burg – die sich nahe am Schiff zu befinden scheint – und von diesem Überfall, vor dem er glaubt, gerettet worden zu sein. Das passt nicht zusammen. Du hast gefragt, was sie davon hätten, uns zu betrügen. Ich kann die Frage aus ihrer Sicht sehen. Wenn sie eine herabgesunkene Kolonie sind, haben sie eine klare Vorstellung, was sie verloren haben. Sie haben wahrscheinlich Reste von Technik und einen Verfolgungswahn, der nicht seinesgleichen findet. An ihrer Stelle würde ich ernsthaft erwägen, die Retter in einen Hinterhalt zu locken, wenn diese Retter schwach oder sorglos wirken. Und wenn wir stark auftreten – sieh dir die Fragen an, die Jefri für Stahl stellt. Der Kerl schlägt auf den Busch, er versucht herauszubekommen, woran uns wirklich gelegen ist: an dem Flüchtlingsschiff, an Jefri und den Kälteschläfern oder an etwas im Schiff. Bis wir eintreffen, wird Stahl wahrscheinlich die örtliche Opposition ausgerottet haben – mit unserer Hilfe. Ich vermute, wenn wir die Klauenwelt erreichen, steht uns ein schwerer Fall von Erpressung bevor.«

Und ich dachte, wir reden von den guten Neuigkeiten. Ravna blätterte in den jüngsten Botschaften zurück. Pham hatte Recht. Der Junge sagte die Wahrheit, so gut er sie kannte, aber… »Ich sehe nicht, wie wir irgend anders vorgehen könnten. Wenn wir Stahl nicht gegen die Holzschnitzer helfen…«

»Tja. Wir wissen nicht genug, um viel anderes tun zu können. Was immer sonst die Wahrheit sein mag, die Holzschnitzer scheinen eine ernste Bedrohung für Jefri und das Schiff zu sein. Ich sage nur, wir sollten an alle Möglichkeiten denken. Was wir auf keinen Fall tun dürfen, ist, Interesse an dem GEGENMITTEL zu zeigen. Wenn die Einheimischen wissen, wie verzweifelt uns daran gelegen ist, haben wir keine Chance.

Und vielleicht ist es an der Zeit, uns unsererseits ein paar Lügen zurechtzulegen. Stahl hat davon gesprochen, dass er einen Landeplatz für uns bauen will – innerhalb seiner Burg. Die ADR kann unmöglich da hinein passen, aber ich denke, wir sollten mitspielen, Jefri sagen, dass wir uns von unserem Ultraantrieb lösen können, etwas in der Art seines Containerschiffes. Soll sich Stahl darauf konzentrieren, harmlose Fallen zu bauen…«

Er summte eine seiner seltsamen kleinen ›Marschmelodien‹. »Was das Radio betrifft: Warum sollten wir den Klauenwesen nicht einfach gelegentlich ein Kompliment machen, dass sie unsere Konstruktion verbessert haben? Ich bin gespannt, was sie antworten werden…«

Pham Nuwen erhielt seine Antwort in weniger als drei Tagen. Jefri Olsndot sagte, er habe die Optimierung durchgeführt. Wenn man also dem Jungen glaubte, gab es keine Anzeichen für verborgene Computer. Pham war nicht ganz überzeugt: »Wir haben also rein zufällig Isaac Newton am anderen Ende der Strippe?« Ravna widersprach nicht. Es war wirklich ein enormes Stück Glück, doch… Sie ging die früheren Botschaften durch. In Sprache und Allgemeinwissen schien der Junge sehr normal für sein Alter. Doch gelegentlich gab es Situationen, die mathematisches Verständnis voraussetzten – keine formale Schulmathematik –, wo Jefri frappierende Dinge sagte. Manche von diesen Gesprächen hatten unter guten Bedingungen stattgefunden, mit Zeitverzögerungen von weniger als einer Minute. Es wirkte alles zu sehr wie aus einem Guss, als dass es die Lüge sein konnte, die Pham Nuwen vermutete.

Jefri Olsndot, du bist jemand, dem ich sehr gern begegnen möchte.

 

Etwas war immer: Probleme mit den technischen Entwicklungen der Klauenwesen, Ängste, die mörderischen Holzschnitzer könnten Herrn Stahl überrennen, Sorgen wegen der noch immer schlechter werdenden Antriebsdorne und der Zonenturbulenz, die das Fortkommen der ADR noch mehr verzögerte. Das Leben war abwechselnd und gleichzeitig deprimierend, langweilig, beängstigend. Und dennoch…

Eines Nachts, etwa im vierten Flugmonat, erwachte Ravna in der Kabine, die sie nun mit Pham teilte. Vielleicht hatte sie geträumt, aber sie konnte sich an nichts erinnern, außer dass es kein Alptraum gewesen war. Es gab kein besonderes Geräusch im Raum, nichts, das sie hätte wecken können. Neben ihr schlief Pham tief in ihrer Hängematte. Sie ließ den Arm seinen Rücken hinab gleiten und zog ihn sacht an sich. Sein Atem änderte sich, er murmelte etwas Friedvolles und Unverständliches. Nach Ravnas Ansicht war Sex bei Schwerelosigkeit nicht die tolle Erfahrung, für die manche Leute ihn ausgaben; aber wirklich mit jemandem zu schlafen – das war bei Schwerelosigkeit viel hübscher. Eine Umarmung war dann leicht und dauerhaft und mühelos.

Ravna schaute sich in der schwach erleuchteten Kabine um und versuchte sich vorzustellen, wovon sie aufgewacht war. Vielleicht waren es einfach die Probleme des Tages gewesen – davon hatte es, wissen die MÄCHTE, genug gegeben. Sie schmiegte ihr Gesicht an Phams Schulter. Ja, immerzu Probleme, aber… in mancher Beziehung war sie zufriedener als seit Jahren. Gewiss gab es Probleme. Die Lage des armen Jefri. All die Leute, die bei Straum und Relais umgekommen waren. Doch sie hatte drei Freunde und eine Liebe. Allein in einem winzigen Schiff unterwegs zum Grund war sie weniger einsam als in der Zeit, seit sie Sjandra Kei verlassen hatte. Mehr als jemals in ihrem Leben hatte sie vielleicht die Möglichkeit, etwas zur Lösung der Probleme zu tun.

Und dann kam ihr – teils mit Trauer, teils freudig – die Ahnung, dass sie Jahre später vielleicht auf diese Monate als auf eine wunderbar glückliche Zeit zurückblicken würde.