NEUNZEHN

 

Johanna hustete, alles hier schien immer nur noch schlimmer zu werden. Seit drei Tagen hatte sie eine raue Kehle und Schnupfen. Sie wusste nicht, ob sie Angst haben sollte oder nicht. Krankheiten waren im Mittelalter eine alltägliche Angelegenheit. Eben, und eine Menge Leute sind daran auch gestorben! Sie schnäuzte sich und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was Holzschnitzerin gerade sagte.

»Scrupilo hat schon etwas Schießpulver hergestellt. Es funktioniert genauso, wie es das Datio vorausgesagt hat. Leider hätte er beinahe ein Glied bei dem Versuch verloren, es in einer Holzkanone zu verwenden. Wenn wir keine Geschütze machen können, dann fürchte ich…«

Vor einer Woche wäre Holzschnitzerin hier nicht willkommen gewesen; alle ihre Treffen hatten unten in den Sälen der Burg stattgefunden. Doch dann war Johanna krank geworden – es war eine Erkältung, kein Zweifel – und hatte keine Lust gehabt, draußen herumzulaufen. Außerdem hatte Schreibers Besuch sie in gewisser Weise… beschämt. Manche von den Rudeln waren anständig genug. Sie hatte beschlossen, möglichst mit Holzschnitzerin auszukommen – und mit dem Aufgeblasenen Clown auch, falls er jemals wieder vorbeikommen sollte. Solange Kreaturen wie Narbenhintern ihr aus dem Weg blieben… Johanna lehnte sich ein bisschen näher ans Feuer und wischte Holzschnitzerins Einwände weg; manchmal kam ihr dieses Rudel wie ihre älteste Großmutter vor. »Geh davon aus, dass wir welche bauen können. Wir haben eine Menge Zeit bis zum Sommer. Sag Scrupilo, er soll das Datio sorgfältiger studieren und aufhören, nach Abkürzungen zu suchen. Die Frage ist, wie man sie verwenden kann, um mein Sternenschiff zurückzugewinnen.«

Holzschnitzerins Mienen hellten sich auf. Der Sabberer hörte auf, sein Maul abzuwischen, um sich am Wippen der anderen Köpfe zu beteiligen. »Ich habe darüber mit Wand… mit verschiedenen Leuten gesprochen, vor allem mit Feilonius. Normalerweise wäre es schrecklich schwierig, eine Armee zur Verborgenen Insel zu bringen. Zur See geht es schnell, aber unterwegs gibt es ein paar tödliche Engen. Durch den Wald dauert es lange, und die andere Seite würde reichlich Warnungen erhalten. Aber zum großen Glück hat Feilonius etliche sichere Routen gefunden. Möglicherweise schleichen wir uns also…«

Jemand kratzte an der Tür.

Holzschnitzerin hob ein Paar Köpfe. »Das ist seltsam«, sagte sie.

»Wieso?«, fragte Johanna abwesend. Sie raffte die gefütterte Decke um die Schultern und stand auf. Zwei von Holzschnitzerin gingen mit ihr zur Tür.

Johanna öffnete und schaute in den Nebel hinaus. Plötzlich sprach Holzschnitzerin laut, lauter Kollern. Ihr Besucher hatte sich zurückgezogen. Etwas war wirklich seltsam, und im Moment konnte sie nicht ausmachen, was. Es war das erste Mal, dass sie ein Hundewesen ganz allein sah. Sie war sich der Bedeutung noch nicht ganz bewusst, als die meisten von Holzschnitzerin an ihr vorbei aus der Tür stürzten. Dann begann Johannas Diener oben auf dem Boden zu schreien. Der Klang trieb Schmerz durch Johannas Ohren.

Das einzelne Klauenwesen wand sich unbeholfen auf seinem Hinterteil und versuchte sich davonzuschleppen, doch Holzschnitzerin hatte es umzingelt. Sie rief etwas, und das Kreischen auf dem Boden hörte auf. Man hörte Pfoten über Holzstufen springen, und der Diener sprang ins Freie, seine Armbrüste schussbereit. Von weiter unten am Hang hörte sie Waffengeklirr, als Wachen zu ihnen eilten.

Johanna lief zu Holzschnitzerin, bereit, mit den Fäusten zu jeder notwendigen Verteidigung beizutragen. Doch das Rudel beschnüffelte den Fremdling und leckte seinen Hals. Einen Augenblick später packte Holzschnitzerin das Klauenwesen an der Jacke. »Hilf mir ihn hineintragen, bitte, Johanna.«

Das Mädchen hob die Flanken des Klauenwesens an. Das Fell war feucht vom Nebel – und klebrig von Blut.

Dann waren sie durch die Tür und legten das Glied auf ein Kissen am Feuer. Das Geschöpf stieß jenes tiefe Pfeifen aus, das äußersten Schmerz bedeutete. Es blickte zu ihr auf, die Augen so weit, dass sie ringsherum das Weiße sehen konnte. Einen Moment lang glaubte sie, es sei ihretwegen entsetzt, doch als sie zurücktrat, machte es den Ton nur noch lauter und streckte den Hals zu ihr hin. Sie kniete sich neben das Kissen. Das Wesen legte die Schnauze auf ihre Hand.

»W-was ist das?« Sie blickte an seinem Körper entlang, hinter die gepolsterte Jacke. Die Hüften waren in sonderbarem Winkel verdreht, ein Bein hing nahe am Feuer herab.

»Siehst du denn nicht…«, begann Holzschnitzerin. »Das ist ein Teil von Yaqueramaphan.« Sie schob eine Nase unter das herabhängende Bein und hob es aufs Kissen.

Die Wachen und Johannas Diener sprachen laut miteinander. Durch die offene Tür sah sie Glieder mit Fackeln, sie hatten die Vorderpfoten auf die Schultern ihrer Gefährten gestellt und hielten die Lichter hoch. Niemand versuchte hereinzukommen, der Platz hätte nicht ausgereicht.

Johanna schaute wieder auf das verletzte Klauenwesen. Schreiber? Dann erkannte sie die Jacke. Das Geschöpf erwiderte ihren Blick, noch immer vor Schmerz pfeifend. »Kannst du denn keinen Arzt kommen lassen!«

Holzschnitzerin war rings um sie. Sie antwortete: »Ich bin Arzt, Johanna.« Sie nickte zu dem Datio hinüber und fuhr leise fort: »Wenigstens, was hier als Arzt gilt.«

Johanna wischte Blut vom Halse des Geschöpfs. Es quoll mehr hervor. »Und, kannst du ihn retten?«

»Dieses Fragment vielleicht, aber…« Eins von Holzschnitzerin ging zur Tür und sprach mit den Rudeln draußen. »Meine Leute suchen nach dem Rest von ihm. Ich glaube, er ist größtenteils ermordet worden, Johanna. Wenn es noch andere gäbe… nun ja, sogar Fragmente halten sich beisammen.«

»Hat er etwas gesagt?« Es war eine andere Stimme, die Samnorsk sprach. Narbenhintern. Seine große hässliche Schnauze ragte durch die Türöffnung.

»Nein«, sagte Holzschnitzerin. »Und seine Denklaute sind ein einziges Wirrwarr.«

»Lass mich ihm zuhören«, sagte Narbenhintern.

»Du bleib weg, du!« Johanna schrie es; das Wesen in ihren Armen zuckte zusammen.

»Johanna! Das ist Schreibers Freund. Lass ihn helfen.« Während das Narbenhintern-Rudel in den Raum kam, stieg Holzschnitzerin zum Boden hinauf, um Platz zu machen.

Johanna zog den Arm unter dem verletzten Klauenwesen hervor und wich zurück, bis sie selbst an der Tür stand. Es waren viel mehr Rudel draußen, als sie geglaubt hatte, und sie standen dichter beieinander, als sie es jemals gesehen hatte. Ihre Fackeln glühten wie weiche Fluoreszenzstoffe in der nebligen Dunkelheit.

Ihr Blick schnellte zur Feuergrube zurück. »Ich beobachte dich!«

Narbenhinterns Glieder drängten sich um das Kissen. Der Große legte den Kopf neben den des Verletzten. Einen Augenblick lang fuhr das Klauenwesen mit seinem tiefen Pfeifen fort. Narbenhintern kollerte auf es ein. Die Antwort war ein gleichmäßiges Trällern, fast schön. Vom Boden herab sagte Holzschnitzerin etwas. Sie und Narbenhintern redeten hin und her.

»Und?«, fragte Johanna.

»Ya – das Fragment – ist kein ›Sprecher‹«, erklärte Holzschnitzerin.

»Noch schlimmer«, sagte Narbenhintern. »Vorläufig zumindest kann ich mich auf seine Denktöne nicht einstellen. Ich bekomme weder Sinn noch Bilder von ihm, ich kann nicht sagen, wer Schreiber ermordet hat.«

Johanna trat zurück in den Raum und ging langsam zu dem Kissen. Narbenhintern wich zur Seite, verließ das verwundete Klauenwesen aber nicht. Sie kniete sich zwischen zwei von ihm und streichelte den langen, blutbedeckten Hals. »Wird… Ya« – sie sprach den Klang so gut sie konnte aus – »am Leben bleiben?«

Narbenhintern fuhr mit drei Nasen an dem Körper entlang. Sie drückten sanft gegen die Wunden. Ya wand sich und pfiff… außer wenn Narbenhintern an die Hinterkeulen drückte. »Ich weiß nicht. Das meiste von diesem Blut sind nur Spritzer, vermutlich von den anderen Gliedern. Aber sein Rückgrat ist gebrochen. Sogar wenn das Fragment am Leben bleibt, wird es nur zwei Beine gebrauchen können.«

Johanna überlegte eine Weile und versuchte, die Dinge aus der Perspektive der Klauenwesen zu sehen. Es gefiel ihr gar nicht. Vielleicht war es sinnlos, doch für sie war dieser ›Ya‹ immer noch Schreiber. Für Narbenhintern war das Geschöpf ein Fragment, ein Organ aus einem frischen Leichnam. Noch dazu ein beschädigtes. Sie sah Narbenhintern an, das große Glied, den Mörder. »Was tut eure Art mit solchem… Abfall?«

Drei von seinen Köpfen wandten sich ihr zu, und sie sah, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Seine synthetische Stimme kam hoch und im Stakkato: »Schreiber war ein guter Freund. Wir können einen zweirädrigen Wagen für Yas Hinterteil bauen, er wäre imstande, sich halbwegs zu bewegen. Das Schwierigste wird sein, ein Rudel für ihn zu finden. Du weißt, dass wir nach anderen Fragmenten suchen; vielleicht können wir etwas zusammenflicken. Wenn nicht… nun, ich habe nur vier Glieder. Ich will versuchen, ihn zu adoptieren.« Während er sprach, tätschelte ein Kopf das verwundete Glied. »Ich bin nicht sicher, ob es klappt. Schreiber war keine Person mit einer losen Seele, alles andere als ein Pilger. Und momentan kann ich überhaupt keine Übereinstimmung mit ihm finden.«

Johanna ließ sich zurücksinken. Narbenhintern war nicht an allem schuld, was im Weltall schiefging.

»Holzschnitzerin hat hervorragende Züchter. Vielleicht lässt sich etwas anderes Passendes finden. Aber du musst verstehen – für erwachsene Glieder ist es schwer, sich neu einzufügen, vor allem für Nichtsprecher. Einzelne Fragmente wie Ya sterben aus eigenem Willen, sie hören einfach auf zu essen. Oder manchmal… Geh ab und zu zum Hafen hinunter und sieh dir die Arbeiter an. Du wirst ein paar große Rudel dort sehen – aber mit dem Verstand von Idioten. Sie können sich nicht zusammenhalten; beim kleinsten Problem laufen sie in alle Richtungen auseinander. So enden die unglücklichen Neurudel…« Narbenhinterns Stimme lief zwischen zweien von seinen Gliedern hin und her und verstummte schließlich. Alle seine Köpfe wandten sich Ya zu. Das Glied hatte die Augen geschlossen. Schlief es? Es atmete noch, doch es klang irgendwie gurgelnd.

Johanna blickte durch den Raum zu der Falltür zum Boden. Holzschnitzerin hatte einen einzelnen Kopf durch die Öffnung herabgestreckt. Das kopfstehende Gesicht erwiderte Johannas Blick. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre der Anblick komisch gewesen. »Wenn nicht ein Wunder geschieht, ist Schreiber heute gestorben. Du musst das verstehen, Johanna. Aber wenn das Fragment am Leben bleibt, wenigstens für kurze Zeit, werden wir wahrscheinlich den Mörder finden.«

»Wie, wenn er sich nicht mitteilen kann?«

»Ja, aber er kann es uns immer noch zeigen. Ich habe Feilonius’ Leuten befohlen, das Personal in den Wohnungen festzuhalten. Wenn Ya sich etwas beruhigt hat, werden wir jedes Rudel auf der Burg an ihm vorbeigehen lassen. Das Fragment erinnert sich gewiss, was Schreiber widerfahren ist, und will es uns sagen. Wenn unter den Mördern einer von unseren Leuten ist, wird er ihn erkennen.«

»Und er wird sich bemerkbar machen.« Ganz wie ein Hund.

»Richtig. Die Hauptsache ist also, ihm jetzt Sicherheit zu geben… und zu hoffen, dass unsere Ärzte ihn retten können.«

 

Die Reste Schreibers fand man ein paar Stunden später, auf einem Eckturm auf der alten Mauer. Feilonius sagte, anscheinend seien ein oder zwei Rudel aus dem Wald gekommen und hätten den Turm erklettert, vielleicht in der Hoffnung, ins Innere der Burg schauen zu können. Es sah ganz nach einem ungeschickten ersten Versuch aus: Von dem Turm aus war nichts von Interesse zu sehen, nicht einmal an einem klaren Tag. Doch für Schreiber war es zum Verhängnis geworden. Anscheinend hatte er die Eindringlinge überrascht. Fünf von seinen Gliedern waren auf verschiedene Art von Pfeilen durchbohrt, zerhackt, geköpft worden. Das sechste, Ya, hatte sich auf dem schrägen Steingefüge am Fuße der Mauer das Rückgrat gebrochen. Johanna ging am Tag darauf hinaus zu dem Turm. Selbst von unten sah sie bräunliche Flecken auf der Brüstung. Sie war froh, dass sie nicht hinaufgehen konnte.

 

Ya starb in der Nacht, wenn auch nicht von Feindeshand; er befand sich die ganze Zeit unter dem Schutz von Feilonius.

Ein paar Tage lang war Johanna sehr schweigsam. Nachts weinte sie ein bisschen. Zum Teufel mit ihrer ›ärztlichen Kunst‹. Ein gebrochenes Rückgrat konnten sie diagnostizieren, aber innere Verletzungen und Blutungen – davon hatten sie keine Ahnung. Holzschnitzerin schien berühmt zu sein für ihre Theorie, dass das Herz das Blut durch den Körper pumpt. Vielleicht noch tausend Jahre, und sie könnte mehr leisten als ein Metzger!

Eine Zeit lang hasste sie alle: Narbenhintern aus all den alten Gründen, Holzschnitzerin für ihre Unwissenheit, Feilonius dafür, dass er Flenseristen so nahe an die Burg herangelassen hatte…, und Johanna Olsndot dafür, dass sie Schreiber zurückgewiesen hatte, als er ihr Freund zu sein versuchte.

Was würde Schreiber jetzt sagen? Er hatte gewollt, dass sie ihnen vertraute. Er hatte gesagt, Narbenhintern und die anderen seien gute Leute. Eines Nachts, etwa eine Woche später, war sie drauf und dran, mit sich selbst Frieden zu schließen. Sie lag auf ihrer Pritsche, die Decke schwer und warm über sich. Die an die Wand gemalten Muster schimmerten matt im Glutschein. Also gut, Schreiber. Um deinetwillen… will ich ihnen vertrauen.