DREISSIG

 

Tyrathect war im Begriff, den Kampf in ihrem Innern zu verlieren, den Kampf mit dem Flenser. Oh, es war noch längst nicht entschieden, man sollte wohl lieber sagen, dass sich das Blatt gewendet hatte. Zu Beginn hatte es kleine Triumphe gegeben, etwa, als sie Amdijefri allein mit dem Kom-Gerät hatte spielen lassen, ohne dass auch nur die Kinder selbst ahnten, dass sie dahinter steckte. Doch das alles lag viele Zehntage zurück, und nun… An manchen Tagen war sie völlig Herr über sich selbst. An anderen – und diese kamen ihr oft als die glücklichsten vor – schien es zunächst, als ob sie die Kontrolle hätte.

Es war noch nicht klar, was für eine Sorte Tag das heute sein würde.

Tyrathect schritt an den Bretterzäunen entlang, die die Burgmauern krönten. Das Bauwerk war gewiss neu, aber wohl noch kaum eine Burg. Stahl hatte in panischer Eile gebaut. Die Süd- und die Westmauern waren sehr dick, von Gängen durchzogen. Aber es gab Stellen an der Nordseite, die einfach nur Palisaden mit Geröll dahinter waren. Mehr war in der kurzen Frist, die Stahl zur Verfügung stand, nicht zu schaffen. Für einen Moment blieb sie stehen und atmete den Geruch frisch gesägten Bauholzes ein. Der Blick den Schiffsberg hinab war so schön wie eh und je. Die Tage wurden länger. Jetzt gab es nur Zwielicht zwischen Sonnenunter- und -aufgang. Der Schnee in der Gegend hatte sich auf die üblichen Sommerflecken zurückgezogen und Heidekraut zurückgelassen, das sich in der Wärme grün färben sollte. Von hier aus konnte sie meilenweit sehen, bis dahin, wo der bläuliche Dunst überm Meer auf ferne Inseln niedersank.

Nach der herkömmlichen Theorie wäre es Selbstmord gewesen, die neue Burg – selbst in ihrem gegenwärtigen klapprigen Zustand – mit weniger Leuten als einer Horde anzugreifen. Tyrathect lächelte bitter. Natürlich würde Holzschnitzerin diese Theorie ignorieren. Die alte Holzschnitzerin glaubte, eine Geheimwaffe zu haben, die aus Hunderten Fuß Entfernung Breschen in diese Mauern schlagen könnte. Schon jetzt meldeten Stahls Spione, dass die Holzschnitzer den Köder geschluckt hätten und ihre kleine Armee mit den rohen Geschützen auf den Landmarsch die Küste entlang aufgebrochen war.

Sie stieg die Holztreppe in den Hof hinab. Sie hörte schwachen Donnerhall. Irgendwo nördlich von Stromtal begannen Stahls eigene Kanoniere mit den morgendlichen Übungen. Wenn der Wind günstig stand, konnte man es hören. Es durfte keine Übungen in der Nähe von Ackerland geben, und niemand außer hochgestellten Dienern und isolierten Arbeitern wusste von den Waffen. Doch mittlerweile besaß Stahl dreißig von den Apparaten und genügend Schießpulver. Am meisten mangelte es an Kanonieren. Sich unmittelbar neben dem Feuerlärm zu befinden, war die Hölle. Länger anhaltendes Feuer konnte taub machen. Ja, aber die Waffen selbst: Sie hatten eine Reichweite von fast acht Meilen, dreimal so viel wie die von Holzschnitzerin. Sie konnten Schießpulver-›Bomben‹ verschießen, die beim Aufprall detonierten. Es gab Stellen jenseits der Berge im Norden, wo der Wald kahlgerissen war und Erdrutsche den nackten Felsen bloßgelegt hatten – alles die Folge von Dauerbeschuss mit Kanonen.

Und bald – vielleicht heute – würden die Flenseristen auch Radio haben.

Verdammt sollst du sein, Holzschnitzerin! Natürlich hatte Tyrathect den Holzschnitzer niemals kennen gelernt, doch Flenser hatte das Rudel gut gekannt: Er bestand größtenteils aus Holzschnitzers Nachkommen. Der ›sanfte Holzschnitzer‹ hatte ihn geboren und an die Macht gebracht. Holzschnitzer war es gewesen, der ihn die Freiheit des Denkens und Experimentierens gelehrt hatte. Holzschnitzer hätte den Stolz kennen sollen, der in Flenser steckte, hätte wissen sollen, dass er weiter gehen würde, als sein Elter es je gewagt hatte. Und als die monströse Natur des Neuen deutlich wurde, als seine ersten ›Experimente‹ entdeckt wurden, hätte ihn Holzschnitzer töten oder allerwenigstens in Fragmente aufspalten müssen. Statt dessen war es Flenser erlaubt worden, ins Exil zu gehen – damit er Wesen wie Stahl schuf und die ihrerseits ihre eigenen Ungeheuer hervorbrachten, bis letzten Endes diese Hierarchie des Wahnsinns entstand.

Und nun, ein Jahrhundert zu spät, kam Holzschnitzerin, um ihren Fehler zu korrigieren. Sie kam mit ihren Spielzeugkanonen, so übermäßig zuversichtlich und idealistisch wie eh und je. Sie kam in eine Falle von Feuer und Stahl, die keiner ihrer Leute überleben würde. Wenn es nur eine Möglichkeit gegeben hätte, die Holzschnitzerin zu warnen. Tyrathects einziger Grund für ihre Anwesenheit hier war der Eid, den sie sich geschworen hatte – Flensers Bewegung zu Fall zu bringen. Wenn Holzschnitzerin wüsste, was sie hier erwartete, wenn sie wenigstens von den Verrätern im eigenen Lager wüsste, dann könnte es eine Chance geben. In vorigen Herbst war Tyrathect drauf und dran gewesen, eine anonyme Botschaft nach Süden zu schicken. Es gab Händler, die beide Reiche besuchten. Ihre von Flenser her stammenden Erinnerungen sagten ihr, welche davon wahrscheinlich unabhängig waren. Beinahe hätte sie einem eine Mitteilung zugesteckt, ein einzelnes Blatt Seidenpapier, das von der Landung des Sternenschiffs und Jefris Überleben berichtete. Dabei war sie dem Tod um weniger als einen Tag entgangen: Stahl hatte ihr einen Bericht aus dem Süden über den anderen Menschen und Holzschnitzerins Fortschritte mit dem ›Datio‹ gezeigt. Der Bericht enthielt Dinge, die nur jemand an der Spitze in Holzschnitzerheim kennen konnte. Wer? Sie fragte nicht, vermutete aber, dass es Feilonius war; der Flenser in Tyrathect erinnerte sich gut an dieses Geschwisterrudel. Sie hatten… Geschäfte miteinander gemacht. Feilonius hatte nichts vom ursprünglichen Genie ihres gemeinsamen Elters in sich, wohl aber ein gut Teil Opportunismus.

Stahl hatte ihr den Bericht nur gezeigt, um sich wichtig zu machen, um ihr zu beweisen, dass er etwas zustande gebracht hatte, das Flenser niemals versucht hatte. Und es war in der Tat ein Meisterstück. Tyrathect hatte Stahl aufrichtiger als sonst beglückwünscht – und ihre Warnpläne still ad acta gelegt. Wenn an der Spitze in Holzschnitzerheim ein Spion saß, wäre jede Botschaft sinnloser Selbstmord gewesen.

Jetzt trottete Tyrathect über den äußeren Burghof. Es waren noch viele Bauarbeiten im Gange, aber die Teams waren kleiner. Stahl baute überall im Hof Holzhütten. Viele waren leere Hüllen. Stahl hoffte Ravna dazu bewegen zu können, an einer besonderen Stelle im inneren Mauerring zu landen.

Der innere Ring. Das war das einzige an der Burg, was nach den Maßstäben der Verborgenen Insel gebaut war. Es war schönes Mauerwerk. Es konnte wirklich sein, als was Stahl es Amdijefri darstellte: ein Schrein, um Jefris Schiff Ehre zu erweisen und es vor dem Angriff der Holzschnitzer zu schützen. Die Zentralkuppel war ein sanftes Rund von Auslegern und Maßwerk, so weit wie der Hauptversammlungssaal auf der Verborgenen Insel. Tyrathect beobachtete sie mit einem Augenpaar, während sie es umrundete. Stahl hatte vor, die Kuppel mit feinstem rosa Marmor zu verkleiden. Sie würde Dutzende von Meilen hoch vom Himmel her zu sehen sein. Die in das Mauerwerk eingebauten Todesfallen waren das Herzstück von Stahls Plan, selbst wenn die Retter nicht in seiner anderen Falle landeten.

 

Sreck und zwei weitere hochgestellte Diener standen auf den Stufen zum Versammlungsraum der Burg. Sie nahmen Haltung an, als sie sich näherte. Die drei wichen rasch zurück, mit den Bäuchen über den Steinboden schurrend…, aber nicht so schnell wie vorigen Herbst. Sie wussten, dass die anderen Flenser-Fragmente vernichtet worden waren. Als Tyrathect an ihnen vorüberging, lächelte sie beinahe. Bei all ihrer Schwäche und all ihren Problemen wusste sie, dass sie diesen drei überlegen war.

Stahl war schon drinnen, allein. Die wichtigsten Versammlungen liefen immer so ab, nur Stahl und sie selbst. Sie verstand die Beziehung. Anfangs hatte Stahl einfach fürchterliche Angst vor ihr gehabt – der einzigen Person, die er glaubte, niemals töten zu können. Zehn Tage lang war er hin und her gerissen gewesen, ob er vor ihr kriechen oder sie umbringen sollte. Es war amüsant zu sehen, wie die von Flenser vor Jahren ihm eingepflanzten Bande immer noch wirkten. Dann war die Nachricht vom Tode der anderen Fragmente gekommen. Tyrathect war nicht mehr Flenser im Wartestand. Halb hatte sie damals mit dem Tode gerechnet. Doch in mancher Beziehung stärkte es ihre Sicherheit. Nun war Stahl weniger ängstlich, und sein Bedarf an vertraulichem Rat konnte auf eine Weise befriedigt werden, die er als weniger bedrohlich ansah. Sie war sein Flaschengeist: Flensers Weisheit ohne die damit verbundene Gefahr.

Diesen Nachmittag wirkte er fast gelöst; als Tyrathect eintrat, nickte er ihr beiläufig zu. Sie nickte zurück. In vielerlei Hinsicht war Stahl ihr – Flensers – bestes Geschöpf. So viel Mühe war darauf verwendet worden, Stahl zu schleifen. Wie viele Rudel von Gliedern waren geopfert worden, nur um die Kombination zu erhalten, die Stahl war. Sie – Flenser – hatte Brillanz gewollt und Skrupellosigkeit. Als Tyrathect konnte sie die Wahrheit erkennen: Mit all dem Flensen hatte Flenser ein armes, trauriges Wesen erschaffen. Es war seltsam, aber… manchmal erschien Stahl ihr als Flensers bedauernswertestes Opfer.

»Bereit zur Generalprobe?«, fragte Tyrathect. Endlich schienen die Radios fertig zu sein.

»Gleich. Ich wollte dich nach dem Zeitplan fragen. Meine Quellen sagen, dass Holzschnitzerins Armee unterwegs ist. Wenn sie ordentlich vorankommen, müssten sie in fünf Zehntagen hier sein.«

»Also mindestens drei Zehntage, ehe Ravnas Schiff eintrifft.«

»Mindestens. Wir werden deinen alten Feind aus dem Weg schaffen, lange bevor wir um die hohen Einsätze spielen. Aber… etwas ist seltsam an den jüngsten Botschaften der Zweibeiner. Wie viel, meinst du, ahnen sie? Kann es sein, dass Amdijefri ihnen mehr erzählt, als wir wissen?«

Diese Ungewissheit hätte Stahl verborgen gehalten, als Tyrathect noch Flenser im Wartestand war. Sie setzte sich hin, ehe sie antwortete. »Du könntest die Antwort wissen, wenn du dir die Mühe gemacht hättest, mehr von der Sprache der Zweibeiner zu lernen, lieber Stahl, oder wenn du mir die Gelegenheit dazu gegeben hättest.« Den ganzen Winter über hatte Tyrathect verzweifelt gehofft, mit den Kindern allein sprechen zu können, um dem Schiff eine Warnung zukommen zu lassen. Amdijefri waren so leicht zu durchschauen, so unschuldig. Wenn sie einen Blick von Stahls Verrat erhascht hätten, so hätten sie es nicht verbergen können. Und was konnten die Retter tun, wenn sie von Stahls Hinterlist erführen? Tyrathect hatte ein Sternenschiff im Fluge gesehen. Die Landung allein schon konnte eine schreckliche Waffe sein. Außerdem… Wenn Stahls Plan gelingt, werden wir nicht auf den guten Willen der Fremden angewiesen sein.

Laut fuhr Tyrathect fort: »Solange du mit deiner großartigen Vorstellung weitermachen kannst, hast du von dem Kind nichts zu befürchten. Siehst du denn nicht, dass er dich liebt?«

Einen Moment lang schien Stahl zufrieden zu sein, dann kehrte der Verdacht zurück. »Ich weiß nicht. Amdi scheint mich immerzu zu verspotten, als ob er meine Rolle durchschaute.«

Der arme Stahl. Amdiranifani war sein größter Erfolg, und er würde es niemals begreifen. In dieser einen Sache hatte Stahl seinen Meister wahrlich übertroffen, er hatte eine Technik entdeckt und verfeinert, die einst Holzschnitzer benutzt hatte. Der Flenser musterte seinen ehemaligen Schüler mit fast hungrigem Blick. Wenn er ihn nur ganz von neuem machen könnte; es musste einen Weg geben, Furcht und Flensen mit Liebe und Zuneigung zu vereinen. Das dabei entstehende Werkzeug würde den Namen Stahl wirklich verdienen. Tyrathect zuckte mit den Schultern. »Mein Wort darauf. Wenn du deine freundliche Rolle weiterspielen kannst, werden dir beide Kinder treu sein. Was den Rest deiner Frage betrifft: Ich habe eine gewisse Veränderung in Ravnas Botschaften bemerkt. Sie scheint in Bezug auf die Zeit ihrer Ankunft viel zuversichtlicher zu sein, aber etwas ist bei ihnen schiefgegangen. Ich glaube nicht, dass sie misstrauischer als zuvor sind, sie glauben anscheinend, dass Jefri hinter Amdis Idee mit den Radios steckt. Das war übrigens eine gute Lüge. Sie hat ihr Gefühl der Überlegenheit angesprochen. Auf einem ordentlichen Schlachtfeld sind wir ihnen wahrscheinlich überlegen – und das dürfen sie nicht ahnen.«

»Aber was macht ihnen plötzlich so zu schaffen?«

Das Fragment zuckte die Achseln. »Geduld, lieber Stahl. Geduld und Beobachtung. Vielleicht hat Amdijefri es auch bemerkt. Du könntest die beiden sehr vorsichtig auf den Gedanken bringen, danach zu fragen. Ich vermute, die Zweibeiner haben sich um ihre eigene Politik zu kümmern.« Er hielt inne und wandte alle Köpfe Stahl zu. »Könntest du deine ›Quelle‹ unten in Holzschnitzerheim dieser Frage nachgehen lassen?«

»Das werde ich vielleicht tun. Das Datio ist Holzschnitzerins einziger großer Vorteil.« Stahl blieb für einen Augenblick schweigend sitzen und kaute sich nervös auf den Lippen. Unvermittelt gab er sich einen Ruck, als wolle er die vielfältigen Bedrohungen abschütteln, die er heraufziehen sah. »Sreck!«

Es erklang das Geräusch von Pfoten. Die Luke ging quietschend auf, und Sreck steckte einen Kopf herein. »Herr?«

»Hol die Radioausrüstung herein. Und dann bitte Amdijefri, dass er herunterkommt und mit uns spricht.«

 

Die Radios waren schöne Gegenstände. Ravna behauptete, dass das Grundprinzip von Zivilisationen erfunden werden konnte, die kaum weiter fortgeschritten waren als Flensers. Das war schwer zu glauben. Es gab so viele Schritte bei der Herstellung, so viele unwichtige Abschweifungen. Das Endergebnis: acht ellengroße Quadrate von Nachtdunkel. Gold und Silber schienen in dem seltsamen Material auf. Das zumindest war kein Rätsel: Ein Teil von Flensers Gold und Silber waren beim Bau verwendet worden.

Amdijefri traf ein. Sie rannten über den Fußboden in der Mitte, stukten gegen die Radios, riefen Stahl und dem Flenser-Fragment etwas zu. Manchmal fiel es schwer, zu glauben, dass sie nicht wirklich ein Rudel waren, dass der Zweibeiner nicht einfach ein zusätzliches Glied war: Sie hingen so eng zusammen, wie es ein einzelnes Rudel tun konnte. Andauernd beantwortete Amdi Fragen über die Zweibeiner, ehe Jefri auch nur den Mund aufmachen konnte, und benutzte das ›Rudel-Ich‹-Fürwort, wenn sie beide gemeint waren.

Heute jedoch schienen sie uneins zu sein. »Oh, bitte, mein Fürst, lasst mich es ausprobieren!«

Jefri rasselte etwas in Samnorsk herunter. Als Amdi nicht übersetzte, wiederholte er die Worte langsamer, direkt an Stahl gewandt. »Nein. Es ist (unverständlich unverständlich) gefährlich. Amdi ist (unverständlich) klein. Und auch die Zeit (unverständlich) knapp.«

Der Flenser bemühte sich, die Bedeutung zu erfassen. Verdammt. Früher oder später würde sie ihre Unkenntnis der Zweibeiner-Sprache teuer zu stehen kommen.

Stahl hörte dem Menschen zu und seufzte dann in dieser wunderbar geduldigen Art. »Bitte. Amdi. Jefri. Wo liegt das Problem?« Er sprach Samnorsk und war für das Flenser-Fragment besser zu verstehen als das Menschenkind.

Amdi zögerte einen Moment lang. »Jefri glaubt, dass die Radiojacken zu groß für mich sind! Aber seht, sie passen gar nicht so schlecht!« Amdi sprang um eins der nachtdunklen Quadrate herum und zerrte es unbekümmert von einer Samtpritsche zu Boden. Er zog den Stoff über Rücken und Schultern seines größten Gliedes.

Nun hatte das Radio annähernd die Form eines Umhangs; Stahls Schneider hatten an den Schultern und am Bauch Verschlussspangen hinzugefügt. Aber es war dem kleinen Amdi viel zu groß. Es stand um ihn herum wie ein Zelt. »Seht ihr? Seht ihr?« Der winzige Kopf ragte hervor und blickte erst Stahl, dann Tyrathect an, in der Hoffnung, sie möchten ihm glauben.

Jefri sagte etwas. Das Amdi-Rudel kreischte ärgerlich zurück. Dann: »Jefri macht sich andauernd Sorgen, aber jemand muss die Radios ausprobieren. Es gibt ein kleines Problem mit der Geschwindigkeit. Radio geht viel schneller als Schall. Jefri hat einfach Angst, es könnte so schnell sein, dass es das Rudel, welches es benutzt, verwirrt. Das ist Unsinn. Um wie viel schneller könnte es denn sein als Denken mit den Köpfen zusammen?« Es klang wie eine Frage. Tyrathect/Flenser lächelte. Das Welpenrudel konnte nicht richtig lügen, doch er erriet, dass Amdi die Antwort auf seine Frage kannte – und dass sie ihm nicht in den Kram passte.

Auf der anderen Seite des Saales hörte Stahl mit vorgereckten Köpfen zu – ein Bild wohlwollender Geduld. »Es tut mir Leid, Amdi. Es ist einfach zu gefährlich, als dass du der Erste sein könntest.«

»Aber ich bin tapfer! Und ich will helfen.«

»Tut mir Leid. Wenn wir wissen, dass es ungefährlich ist…«

Amdi stieß einen Schrei der Entrüstung aus, viel höher als normale Zwischenrudel-Sprache, fast in der Tonlage des Denkens. Er lief um Jefri herum und rempelte dessen Beine mit seinen Hinterteilen an. »Heimtückischer Verräter!«, schrie er und setzte die Beleidigungen auf Samnorsk fort.

Es dauerte etwa zehn Minuten, bis er sich halbwegs beruhigt hatte. Er und Jefri saßen am Boden und murrten miteinander in Samnorsk. Tyrathect beobachtete die beiden und Stahl auf der anderen Seite des Raumes. Wenn Ironie Geräusche machen würde, wären sie inzwischen alle taub. Ihr ganzes Leben lang hatten Flenser und Stahl andere Experimenten unterworfen – für gewöhnlich mit tödlichen Folgen. Nun hatten sie ein Opfer, das buchstäblich darum bettelte, Opfer sein zu dürfen – und das abgewiesen werden musste. Selbst wenn Jefri keine Einwände erhoben hätte, war das Amdi-Rudel zu wertvoll, als dass man es aufs Spiel setzen konnte. Zudem war Amdi ein Achtsam. Es war ein Wunder, dass so ein großes Rudel überhaupt funktionieren konnte. Welche Gefahren das Radio auch in sich barg, für ihn waren sie viel größer.

Also würde ein passendes Opfer gefunden werden. Ein passender armer Schlucker. Sicherlich gab es davon massenhaft in jenen Verliesen unter der Verborgenen Insel. Tyrathect dachte zurück an all die Rudel, die getötet zu haben sie sich erinnern konnte. Wie sehr sie Flenser hasste, seine berechnende Grausamkeit. Ich bin um so vieles schlechter als Stahl. Ich habe Stahl gemacht. Sie rief sich ins Gedächtnis, wo ihre Gedanken die letzte Stunde über gewesen waren. Das war einer von den schlechten Tagen, einer von den Tagen, an denen Flenser aus den Winkeln ihres Verstandes hervorkroch, wenn sie die Kraft der Vernunft höher und höher ausspielte, bis daraus kalte Rationalität wurde, und aus ihr er. Dennoch, ein paar Sekunden lang hatte sie vielleicht noch die Gewalt. Was konnte sie damit tun? Eine Seele, die stark genug war, konnte sich selbst verleugnen, konnte eine andere Persönlichkeit werden… konnte, wenn es zum Äußersten kam, mit sich selbst Schluss machen.

»Ich… ich will das Radio erproben.« Die Worte waren fast eher ausgesprochen als gedacht. Schwaches, dummes Ding.

»Was?«, sagte Stahl.

Aber die Worte waren deutlich gewesen, und Stahl hatte es gehört. Das Flenser-Fragment lächelte trocken. »Ich möchte sehen, was das Radio zustande bringt. Lass es mich versuchen, lieber Stahl.«

 

Sie nahmen die Radios in den Hof hinaus, auf die Seite des Sternenschiffs, die den Blicken der Allgemeinheit verborgen war. Hier wären nur Amdijefri, Stahl und wer immer ich momentan gerade bin. Das Flenser-Fragment lachte gegen die aufsteigende Furcht an. Disziplin, hatte sie gedacht! Vielleicht war es so am besten. Er stand in der Mitte des Hofes und ließ sich von dem Menschen in die Radiokleidung helfen. Seltsam, ein anderes vernunftbegabtes Wesen so nahe und ihn überragen zu sehen.

Jefris unglaublich feingliedrige Pfoten ordneten die Jacken lose auf seinen Rücken an. Das Futter war weich, dämpfend. Und im Unterschied zu normaler Kleidung bedeckten die Radios die Trommelfelle des Trägers. Der Junge versuchte zu erklären, was er gerade tat. »Siehst du? Dieses Ding« – er zog an der Ecke des Umhangs – »kommt über den Kopf. An der Innenseite ist (unverständlich), das aus Tönen Radio macht.«

Das Fragment schreckte zurück, als der Junge versuchte, die Klappe nach vorn zu ziehen. »Nein. Ich kann nicht denken, wenn ich diese Umhänge anhabe.« Nur so, wie er dastand, alle Glieder nach innen gewandt, konnte das Fragment das volle Bewusstsein bewahren. Schon jetzt trieben die schwächeren Teile von ihm auf die Panik der Isolation zu. Das Bewusstsein, das Tyrathect war, würde heute etwas lernen.

»Oh, Verzeihung.« Jefri wandte sich um und sagte zu Amdi etwas über die Verwendung des alten Entwurfs.

Amdi stand mit den Köpfen beisammen vielleicht dreißig Fuß entfernt. Alle von ihm blickten finster drein, beleidigt, dass man ihn abgewiesen hatte, nervös, weil der Zweibeiner nicht bei ihm war. Doch als die Vorbereitungen weitergingen, verloren sich die finsteren Blicke. Die Augen des Welpenrudels wurden groß von glücklicher Faszination. Das Fragment fühlte eine Welle von Zuneigung für die Welpen, die fast zu schnell kam und wieder verschwand, als dass es im Bewusstsein registriert wurde.

Nun schob sich Amdi näher heran und machte sich dabei die Tatsache zunutze, dass die Umhänge viel von den Denklauten des Fragments dämpften. »Jefri sagt, vielleicht hätten wir nicht versuchen sollen, das Gedanken-Radio zu machen«, sagte er. »Aber es wird so viel besser sein. Ich weiß es! Und«, sagte er mit vordergründiger Verschlagenheit, »ihr könnt es immer noch mich versuchen lassen.«

»Nein, Amdi. So muss es sein.« Stahls Stimme war ganz sanfte Sympathie. Nur das Flenser-Fragment konnte das breite Grinsen von ein paar Gliedern des Fürsten sehen.

»Gut, in Ordnung.« Die Welpen kamen noch ein wenig näher. »Habt keine Angst, Fürst Tyrathect. Wir haben die Radios eine Zeit lang in der Sonne gehabt. Sie müssen eine Menge Kraft haben. Damit sie funktionieren, zieht ihr einfach alle Riemen eng, sogar die am Halse.«

»Alle zugleich?«

Amdi zappelte ein wenig. »So ist es wahrscheinlich am besten. Sonst gibt es so ein Durcheinander der Geschwindigkeiten, dass…« Er sagte etwas zu dem Zweibeiner.

Jefri beugte sich nahe herab. »Dieser Riemen kommt hierhin, und der hierhin.« Er zeigte auf die Laschen aus Flechtenbein, die die Kopfbedeckung festzogen. »Und dann zieht einfach mit dem Mund hieran.«

»Je stärker man zieht, um so lauter ist das Radio«, fügte Amdi hinzu.

»Gut.« Das Fragment nahm sich zusammen. Er ruckte mit den Achseln die Jacken zurecht und zog Schulter- und Bauchriemen fest. Eine tödliche Dumpfheit. Die Jacken schienen fast mit seinen Trommelfellen zu verschmelzen. Er betrachtete sich selbst und rang verzweifelt um den Rest des Bewusstseins. Die Jacken waren schön, magische Dunkelheit, aber mit einer Spur vom Gold und Silber eines Flenserfürsten. Schöne Folterwerkzeuge. Selbst Stahl hatte sich eine derart wahnwitzige Rache nicht einfallen lassen. Oder?

Das Fragment packte die Kopflaschen und zog daran.

 

Vor zwanzig Jahren, als Tyrathect neu war, war sie gern mit ihrem Spaltungseiter über die Grasdünen am Kitcherri-See entlang gewandert. Das war vor ihrem großen Zerwürfnis gewesen, bevor die Einsamkeit Tyrathect auf der Suche nach ›Sinn‹ in die Hauptstadt der Republik getrieben hatte. Nicht das ganze Ufer des Kitcherri-Sees bestand aus Stränden und Dünen. Weiter im Süden lag die Felsheit, wo Ströme den Stein zum Wasser hin durchschnitten hatten. Manchmal, besonders wenn sie und ihr Elter sich gestritten hatten, ging Tyrathect vom Ufer zwischen blanken, glatten Felswänden stromaufwärts. Es war eine Art Strafe: Es gab Stellen, wo der Stein einen glasigen Überzug hatte und überhaupt keinen Schall absorbierte. Alles wurde als Echo zurückgeworfen, bis hinauf zu den höchsten Lagen des Denkens. Es war, als wäre sie von Kopien ihrer selbst umringt und Kopien hinter diesen, die alle dieselben Klänge dachten, aber durcheinander.

Natürlich waren Echos oft ein Problem bei ungepolsterten Steinmauern, vor allem, wenn Größe und Geometrie nicht stimmten. Aber die Felswände reflektierten so perfekt, der Alptraum eines Steinhauers. Und es gab Stellen, wo die Form der Felsheit mit den Klängen zusammenwirkte… Wenn Tyrathect dorthin ging, konnte sie ihre eigenen Gedanken nicht von den Echos unterscheiden. Alles wurde vom kaum verschobenen Widerhall überlagert. Zuerst war es ein großer Schmerz gewesen, der sie weglaufen ließ. Aber sie zwang sich immer wieder zurück und lernte schließlich, sogar in den schlimmsten Felsklüften zu denken.

Amdijefris Radio glich ein wenig den Wänden am Kitcherri. Genug, um mich vielleicht zu retten. Als Tyrathect zu Bewusstsein kam, lagen alle von ihr auf einem Haufen. Es waren höchstens Sekunden vergangen, seit sie die Radios eingeschaltet hatte; Amdi und Stahl starrten sie einfach an. Der Mensch hielt einen ihrer Körper fest und redete mit ihr. Tyrathect leckte dem Jungen die Pfote, dann stand sie teilweise auf. Sie hörte nur ihre eigenen Gedanken, doch sie hatten etwas von der Dissonanz der Felsechos.

Sie lag wieder auf den Bäuchen. Ein Teil von ihr übergab sich auf den Erdboden. Die Welt schimmerte wie falsch gestimmt. Das Denken ist da. Halt es fest! Halt es fest! Es war alles eine Frage der Koordination, der zeitlichen Abstimmung. Sie erinnerte sich, was Amdijefri über die Geschwindigkeit des Radios gesagt hatte. In gewisser Weise war dies hier die Kehrseite des Problems der kreischenden Felswände.

Sie schüttelte die Köpfe und versuchte, der Fremdartigkeit Herr zu werden. »Ich brauche einen Moment«, sagte sie, und ihre Stimme war fast ruhig. Sie schaute sich um. Langsam. Wenn sie sich konzentrierte, sich nicht schnell bewegte, konnte sie denken. Mit einem Mal kamen ihr die Umhänge zu Bewusstsein, die gegen all ihre Trommelfelle drückten. Sie hätte betäubt sein müssen, isoliert. Ihre Gedanken waren jedoch nicht wirrer als nach einem schlechten Schlaf.

Sie rappelte sich auf und ging langsam auf dem freien Platz zwischen Amdi und Stahl umher. »Könnt ihr mich hören?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Stahl. Er wich nervös vor ihr zurück.

Natürlich. Die Umhänge dämpften den Klang wie jedes schwere Futter: Alles in der Tonhöhe des Denkens würde vollständig absorbiert. Aber Zwischenrudel-Sprache und Samnorsk hatten tiefe Tonlagen – sie würden kaum beeinflusst werden. Sie blieb stehen und hielt den Atem an. Sie konnte Vögel hören und wie irgendwo auf der anderen Seite des Innenhofs Holz gesägt wurde. Stahl aber stand nur dreißig Fuß von ihr entfernt. Seine Denkgeräusche hätten eine laute Störung sein müssen, sogar verwirrend. Sie lauschte angespannt… Da war nichts als ihre eigenen Gedanken und ein Sirren, das aus allen Richtungen zu kommen schien.

»Und wir haben geglaubt, das würde uns die Kontrolle in einer Schlacht geben«, sagte sie erstaunt. Alle von ihr wandten sich um und gingen auf Amdi zu. »Du hast es die ganze Zeit gewusst, nicht wahr?«, sagte Tyrathect.

»Ich habe es gehofft. Oh, ich habe es gehofft.« Er kam näher. Fünf Fuß. Seine acht blickten ihre fünf aus einer Entfernung von ein paar Zoll an. Er schob eine Nase vor und rieb eine Schnauze an einer von Tyrathect. Seine Denkgeräusche drangen nur schwach durch den Umhang, nicht lauter, als ob er fünfzig Fuß weit weg gewesen wäre. Für einen Augenblick sahen sie einander bass erstaunt an. Nase an Nase, und sie konnten beide noch denken! Amdi stieß einen Freudenschrei aus und sprang mitten unter Tyrathect, strich hin und her an ihren Beinen entlang. »Sieh nur, Jefri«, rief er in Samnorsk. »Es funktioniert! Es funktioniert!«

Tyrathect wankte unter dem Ansturm, verlor fast den Faden ihrer Gedanken. Was soeben geschehen war… In der ganzen Weltgeschichte hatte es nie dergleichen gegeben. Wenn denkende Rudel Pfote an Kiefer zusammenarbeiten konnten… Das hatte Folgen und abermals Folgen, und ihr wurde wieder ganz schwindlig.

Stahl kam ein wenig näher und erduldete eine beiläufige Umarmung von Jefri Olsndot. Stahl tat sein Bestes, um sich der Feier anzuschließen, wusste aber nicht recht, was geschehen war. Er hatte die Konsequenzen nicht selbst erlebt, wie Tyrathect. »Ein wunderbarer Fortschritt für den ersten Tag«, sagte er. »Aber es muss doch trotzdem schmerzhaft sein.« Zwei von ihm musterten sie scharf. »Wir sollten dir diese Ausrüstung abnehmen und dir eine Pause gönnen.«

»Nein!«, sagten Tyrathect und Amdi fast gleichzeitig. Sie lächelte Stahl an. »Wir haben es noch nicht wirklich erprobt, oder? Der eigentliche Zweck war Kommunikation über weite Entfernungen.« Zumindest hielten wir das für den Zweck. Doch selbst, wenn es keine größere Reichweite als Denklaute haben sollte, war es in Tyrathects Denken bereits ein überragender Erfolg.

»Oh.« Stahl schenkte Amdi ein schwaches Lächeln und warf Tyrathect heimlich stechende Blicke zu. Jefri hing immer noch an zwei von seinen Hälsen. Stahl war ein Bild kaum verhohlener Wut. »Gut, geh dann langsam. Wir wissen nicht, was geschehen kann, wenn du die Reichweite überschreitest.«

Tyrathect löste ihrer zwei von Amdi und ging ein paar Fuß beiseite. Die Gedanken waren so klar – und potentiell so verwirrend – wie zuvor. Allmählich bekam sie jedoch ein Gefühl dafür. Sie hatte wenig Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten. Sie ließ die beiden weitere dreißig Schritt fortgehen; das war etwa die größte Entfernung, bei der ein Rudel in absoluter Stille ganz bleiben konnte. »Es ist, als hätte ich immer noch die Köpfe zusammen«, sagte sie erstaunt. Für gewöhnlich waren bei dreißig Fuß die Gedanken schwach und die Verzögerung so schlimm, dass die Koordination schwerfiel.

»Wie weit kann ich gehen?«, fragte sie Amdi leise.

Er stieß ein menschliches Kichern aus und brachte einen Kopf nahe an ihren. »Ich bin nicht sicher. Es müsste mindestens bis zu den Außenmauern reichen.«

»Gut«, sagte sie mit normaler Stimme, für Stahl, »wir wollen sehen, ob ich mich ein bisschen weiter ausbreiten kann.« Ihre beiden gingen abermals zehn Ellen. Sie erstreckte sich über mehr als sechzig Fuß!

Stahl saß mit aufgerissenen Augen da. »Und nun?«

Tyrathect lachte. »Meine Gedanken sind so scharf wie zuvor.« Sie wandte ihre beiden um und ging fort.

»Warte!«, brüllte Stahl und sprang auf. »Das ist viel…« Dann fielen ihm seine Zuschauer ein, und aus der Wut wurde eher ängstliche Sorge um ihr Wohlergehen. »Das ist viel zu gefährlich für den ersten Versuch. Komm zurück!«

Von der Stelle, wo sie bei Amdi saß, lächelte Tyrathect breit. »Aber Stahl, ich bin doch gar nicht weggegangen!«, sagte sie in Samnorsk.

Amdijefri lachte und lachte.

Sie war jetzt hundertfünfzig Fuß auseinander. Ihre beiden fielen in einen vorsichtigen Trab – und sie beobachtete, wie Stahl Schaum hinunterschluckte. Ihre Gedanken hatten immer noch die scharfe, abrupte Qualität, als wären die Köpfe mehr als zusammen. Wie schnell ist dieses Radio-Zeug wirklich?

Sie kam nahe an Sreck und den am Ende des Feldes postierten Wachen vorbei. »He, he, Sreck? Was sagst denn du?«, sagte eins von ihr zu seinen verblüfften Gesichtern. Weiter hinten, bei Amdi und dem Rest von ihr, rief Stahl Sreck zu, er solle ihr folgen.

Ihr Traben wurde zu einem lockeren Lauf. Sie teilte sich, eins nördlich, das andere südlich am Innenhof vorbei. Sreck und seine Gefährten folgten ihr, vom Schock wie benommen. Die Kuppel des inneren Mauerrings lag zwischen ihr, eine gekrümmte Schale von Stein. Ihre Radio-Gedanken schwanden in dem Sirren dahin.

»Kann nicht denken«, sagte sie murmelnd zu Amdi.

»Zieht an den Mundriemen. Macht Eure Gedanken lauter.«

Tyrathect zog, und das Sirren wurde schwächer. Sie gewann das Gleichgewicht wieder und rannte um das Sternenschiff. Eins von ihr befand sich jetzt in einem Baugebiet. Handwerker schauten schockiert auf. Ein einzelnes Glied bedeutete für gewöhnlich einen Unfall, oder dass ein Rudel Amok lief. In jedem Falle musste das Solo festgehalten werden. Doch Tyrathects Glied trug einen Umhang, auf dem hier und da Gold glitzerte. Und hinter ihr riefen Sreck und seine Wachen jedem zu, sich zurückzuhalten.

Sie wandte Stahl einen Kopf zu, und ihre Stimme war voller Freude. »Ich gehe hoch!« Sie rannte durch die sich duckenden Arbeiter hindurch, auf die Mauern zu. Sie war überall, breitete sich immer weiter aus. Diese Sekunden würden Erinnerungen schaffen, die ihre Seele überdauern würden, die Legenden im Verstand ihrer Nachkommen in tausend Jahren sein würden.

Stahl hockte sich hin. Die Dinge waren jetzt völlig seiner Kontrolle entglitten; Srecks Leute waren alle auf der anderen Seite des inneren Mauerrings. Alles, was er und Amdi erfahren konnten, kam von Tyrathect – und vom Lärm der Alarmrufe.

Amdi sprang um sie herum. »Wo seid Ihr jetzt? Wo?«

»Fast an der Außenmauer.«

»Geh nicht weiter«, sagte Stahl leise.

Tyrathect hörte ihn kaum. Ein paar Sekunden noch würde sie von dieser grandiosen Macht trinken. Sie lief die Stufen auf der Innenseite hinauf. Wachposten wichen aus, manche Glieder sprangen zurück in den Hof. Sreck folgte ihr noch immer und rief, damit man sie in Ruhe ließ.

Eins von ihr erreichte den Wehrgang, dann das andere.

Sie schnappte nach Luft.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Amdi.

»Ich…« Tyrathect schaute sich um. Von ihrer Stelle auf der Südmauer konnte sie sich selbst im Burghof sehen: ein winziges Klümpchen Schwarz und Gold, das ihre drei und Amdi waren. Jenseits der Nordostmauern erstreckten sich Wald und Täler, die Routen hinauf in die Eisfang-Berge. Im Westen lagen die Verborgene Insel und die nebligen inneren Buchten. Es waren Dinge, die sie als Flenser Tausende Male gesehen hatte. Wie er sie geliebt hatte – sein Reich. Nun aber… sah sie wie im Traum. Ihre Augen waren so weit auseinander. Ihr Rudel war fast so groß wie die Burg selbst. Die Parallaxe des Blicks ließ die Verborgene Insel ganz nahe erscheinen, nur ein paar Schritte entfernt. Neuburg glich einem rings um sie ausgebreiteten Modell. Allmächtiges Rudel aller Rudel – dies war der Blick Gottes.

Srecks Soldaten schoben sich näher heran. Er hatte ein paar Rudel zurückbeordert, um Anweisungen zu holen. »Ein paar Minuten. Ich werde in ein paar Minuten herunterkommen.« Sie sprach die Worte zu den Soldaten auf der Palisade und zu Stahl unten im Hof. Dann wandte sie sich um und ließ den Blick über ihr Reich schweifen.

Sie hatte nur zwei von sich über weniger als eine Viertelmeile ausgebreitet. Doch es gab keine spürbare Verzögerung; die Koordination fühlte sich ebenso abrupt an, als sei sie noch ganz beisammen. Und man konnte die Laschen aus Flechtenbein noch ein gutes Stück weiter ziehen. Wie, wenn alle fünf von ihr ausschwärmten, sich meilenweit ausbreiteten? Das ganze Nordland wäre ihr persönlicher Raum.

Und Flenser? Ah, Flenser. Wo war er? Die Erinnerungen waren noch da, aber… Tyrathect erinnerte sich an den Verlust des Bewusstseins, gerade als die Radios zu funktionieren begonnen hatten. Man musste in der Koordination besonders geübt sein, um angesichts so schrecklichen Tempos denken zu können. Vielleicht war Fürst Flenser nie zwischen engen Felswänden gegangen, als er neu war. Tyrathect lächelte. Vielleicht konnte nur ein Verstand wie der ihre beim Gebrauch der Radios bestehen. In diesem Fall… Tyrathect schaute abermals über die Landschaft. Flenser hatte ein großes Reich geschaffen. Wenn diese neuen Entwicklungen richtig gehandhabt wurden, würden die künftigen Siege es noch unendlich viel größer machen.

Er wandte sich Srecks Soldaten zu. »Sehr gut, ich bin bereit, zu Fürst Stahl zurückzukehren.«