NEUNUNDZWANZIG

 

Da waren Träume. Er hatte wieder einmal eine Stellung als Kapitän verloren, war dazu degradiert worden, Topfpflanzen im Gewächshaus des Schiffes zu pflegen. Nun ja. Phams Aufgabe war, sie zu gießen und zum Blühen zu bringen. Doch dann bemerkte er, dass die Töpfe Räder hatten und sich hinter seinem Rücken bewegten, leise raschelnd abwarteten. Was schön gewesen war, war nun finster. Pham war bereit gewesen, die Geschöpfe zu gießen und vor Unkraut zu bewahren; er hatte sie immer bewundert.

Nun wusste er als Einziger, dass sie der Feind allen Lebens waren.

Mehr als einmal im Leben war Pham Nuwen im Innern medizinischer Automaten erwacht. Fast war er gewöhnt an Tanks, eng wie Särge, an glatte grüne Wände, Drähte und Schläuche. Diesmal war es anders, und er brauchte eine Weile, ehe er begriff, wo er sich befand. Weidenähnliche Bäume neigten sich rings um ihn, wiegten sich sacht im warmen Lufthauch. Er schien auf dem weichesten Moos in einer winzigen Lichtung über einem Tümpel zu hegen. Sommerdunst hing in der Luft über dem Wasser. Es war alles sehr nett, außer dass die Blätter pelzig waren, und anders grün als alles, was er je zuvor gesehen hatte. Diese Vorstellung von Daheim gehörte zu jemand anders. Er langte hinauf zu dem nächsten Zweig, und seine Hände stießen auf etwas Unnachgiebiges fünfzig Zentimeter über seinem Gesicht. Eine gekrümmte Wand. Bei all den Trickbildern war das Ding ungefähr so groß wie die automatischen Chirurgen, an die er sich erinnerte.

Etwas klickte hinter seinem Kopf; die Idylle schob sich an ihm vorbei und nahm ihren warmen Lufthauch mit. Jemand – Ravna – schwebte knapp oberhalb des Zylinders. »Hallo, Pham.« Sie langte an der Hülle des Arztes vorbei, um ihm die Hand zu drücken. Ihre Lippen zitterten, als sie ihn küsste, und sie sah aus, als hätte sie viel geweint.

»Hallo du«, sagte er. Die Erinnerung kehrte in einzelnen Bruchstücken zurück. Er versuchte sich aufzurichten und entdeckte eine weitere Ähnlichkeit zwischen diesem Chirurgen und denen der Dschöng Ho: Er war sicher festgeschnallt.

Ravna lachte ein wenig gequält. »Arzt. Verbindungen lösen.« Einen Augenblick später schwebte Pham frei.

»Er hält meinen Arm noch fest.«

»Nein, das ist die Schlinge. Es wird eine Weile dauern, bis dein linker Arm nachgewachsen ist. Er ist fast weggebrannt worden, Pham.«

»Oh.« Er blickte zu dem weißen Kokon hinab, der seinen Arm an seine Seite fesselte. Jetzt erinnerte er sich an das Feuergefecht… und erkannte, dass Teile seines Traums tödliche Wirklichkeit waren. »Wie lange war ich weg?« Die Angst klang in seiner Stimme durch.

»Etwa dreißig Stunden. Wir sind über sechzig Lichtjahre von Harmonische Ruhe entfernt. Wir kommen gut voran, abgesehen davon, dass jetzt jedermann im Universum auf uns Jagd zu machen scheint.«

Der Traum. Seine freie Hand umklammerte Ravnas Arm. »Die Skrodfahrer, wo sind sie?« Nicht an Bord, um der Flotte willen.

»W-was von Grünmuschel übrig ist, liegt im zweiten Chirurgen. Blaustiel ist…«

Warum haben sie mich am Leben gelassen? Pham ließ den Blick hastig durch den Raum schweifen. Sie befanden sich in einer Allzweckkabine. Was immer sich als Waffe eignen mochte, war mindestens zwanzig Meter entfernt. Hm. Wichtiger als Strahler: die Steuerpult-Befugnisse von der ADR zu erhalten – wenn es nicht schon zu spät war. Er stieß sich von dem Chirurgen ab und schwebte aus dem Raum.

Ravna folgte ihm. »Sachte, Pham. Du kommst gerade aus einem Chirurgen.«

»Was haben sie über die Schießerei gesagt?«

»Die arme Grünmuschel ist nicht in der Lage, etwas zu sagen, Pham. Blaustiel sagt ziemlich genau dasselbe wie du: Grünmuschel ist von den kriminellen Fahrern entführt worden, und sie haben sie gezwungen, euch beide in die Falle zu locken.«

»Hmm, hmm.« Pham bemühte sich um einen unverbindlichen Tonfall. Es gab also vielleicht noch eine Chance; vielleicht war Blaustiel noch nicht pervertiert. Er setzte seine einhändige Fortbewegung den Schiffsachsen-Korridor entlang fort. Eine Minute später war er auf der Brücke, gefolgt von Ravna.

»Pham. Was ist los? Wir haben eine Menge zu entscheiden, aber…«

Wie Recht du hast. Er ließ sich in das Steuerdeck gleiten, auf das Pult zu. »Schiff. Erkennst du meine Stimme?«

Ravna begann: »Pham, was hat das…«

»Jawohl.«

»… zu bedeuten?«

»Befehlsbefugnisse«, sagte er. Die Befugnisse, die ihm für die Zeit gewährt worden waren, da sich die Skrodfahrer nicht an Bord befanden. Ob sie noch galten?

»Gewährt.«

Die Skrodfahrer hatten dreißig Stunden gehabt, um ihre Verteidigung zu planen. Das ging alles zu leicht, viel zu leicht. »Hebe die Befehlsbefugnisse für die Skrodfahrer auf. Isoliere sie.«

»Jawohl«, erwiderte das Schiff. Lügner! Doch was blieb ihm weiter übrig? Die andrängende Panik erreichte ihren Höhepunkt, und plötzlich fühlte er sich sehr kaltblütig. Er war einer von der Dschöng Ho – und er war auch Gottsplitter.

Beide Fahrer befanden sich in derselben Kabine, Grünmuschel im anderen Exemplar des Schiffschirurgen. Pham öffnete ein Fenster in den Raum. Blaustiel saß auf der Wand neben dem Chirurgen. Er sah verwelkt aus, wie damals, als sie von Sjandra Kei gehört hatten. Er streckte seine Wedel zur Videokamera hin. »Herr Pham. Das Schiff sagt uns, dass Sie unsere Befugnisse aufgehoben haben?«

»Was geht hier vor, Pham?« Ravna hatte einen Fuß in den Boden gehakt und starrte ihn an.

Pham ignorierte beide Fragen. »Wie geht es Grünmuschel?«, erkundigte er sich.

Die Wedel wandten sich ab, schienen noch schlaffer zu werden. »Sie lebt… Ich danke Ihnen, Herr Pham. Es hat großes Geschick erfordert, zu tun, was Sie getan haben. Nach Lage der Dinge hätte ich nicht mehr verlangen können.«

Was habe ich getan? Er erinnerte sich, wie er auf Grünmuschel geschossen hatte. Hatte er beim Zielen verzogen? Er blickte in den Chirurgen. Dieser war ziemlich verschieden von der Anordnung für Menschen: Er war größtenteils mit Wasser gefüllt, in das entlang der Wedel der Patientin Luft gewirbelt wurde. Im Schlaf (?) sah Grünmuschel gebrechlicher aus, als er sie in Erinnerung hatte; ihre Wedel trieben ziellos im Wasser hin und her. Manche waren geknickt, doch ihr Körper schien heil zu sein. Sein Blick wanderte hinab an die Basis ihres Stiels, wo ein Fahrer normalerweise mit seinem Skrod verbunden ist. Der Stumpf endete in einer Wolke chirurgischer Schläuche. Und Pham erinnerte sich an den letzten Moment des Feuergefechts, als er den Skrod unter Grünmuschel weggeschossen hatte. Was ist ein Skrodfahrer ohne etwas zum Fahren?

Er wandte den Blick von dem zerrütteten Körper ab. »Ich habe eure Befehlsbefugnis aufgehoben, weil ich euch nicht traue.« Mein ehemaliger Freund, Werkzeug meines Feindes.

Blaustiel antwortete nicht. Nach einer Weile sagte Ravna: »Pham. Ohne Blaustiel hätte ich dich nie aus diesem Habitat herausholen können. Selbst dann – wir saßen mitten im RIP-System fest. Der Hirten-Satellit schrie nach unserem Blut, sie hatten herausgefunden, dass wir Menschen sind. Die Aprahanti versuchten, auszulaufen und über uns zu kommen. Ohne Blaustiel hätten wir niemals den lokalen Sicherheitsdienst überzeugt, dass er uns auf Ultraantrieb gehen ließ – wir wären wahrscheinlich in die Luft gejagt worden, sobald wir uns aus der Ringebene entfernt hätten. Wir wären jetzt alle tot, Pham.«

»Weißt du denn nicht, was da unten passiert ist?«

Ein Teil der Befremdung wich aus Ravnas Gesicht. »Ja. Aber du musst verstehen, wie die Skrods funktionieren. Sie sind eine mechanische Vorrichtung. Es ist nur zu leicht, den kybernetischen Teil von der mechanischen Steuerung abzukoppeln. Diese Kerle haben die Räder gesteuert und den Strahler ausgerichtet.«

Hmm. Auf dem Fenster hinter Ravna sah er Blaustiel reglos dastehen, anstatt dass er eilig zustimmte. Triumphierte er? »Das erklärt nicht, wieso uns Grünmuschel in die Falle gelockt hat.« Er hob die Hand. »Ja, ich weiß, sie ist dazu genötigt worden. Der Haken ist nur, Ravna, dass sie nicht die Spur gezögert hat. Sie war begeistert, sprudelte nur so.« Er starrte über die Schulter der Frau. »Sie stand nicht unter Zwang, das hast du mir doch gesagt, Blaustiel.«

Eine lange Pause. Schließlich: »Ja, Herr Pham.«

Ravna drehte sich um und wich zurück, sodass sie beide sehen konnte. »Aber, aber… es ist trotzdem absurd. Grünmuschel ist von Anfang an bei uns gewesen. Tausendmal hätte sie das Schiff zerstören können – oder eine Meldung nach außen geben. Warum diesen dummen Überfall riskieren?«

»Ja. Warum haben sie uns nicht früher verraten…« Bis sie die Frage stellte, hatte Pham die Antwort nicht gewusst. Er kannte die Tatsachen, besaß aber keine zusammenhängende Theorie, an die er sich halten konnte. Nun fügte sich alles ins Bild: der Überfall, seine Träume im Chirurgen, sogar die Paradoxa. »Vielleicht war sie vorher kein Verräter. Wir sind wirklich von Relais entkommen, ohne verfolgt zu werden, ohne dass jemand von uns wusste, geschweige denn unsere genaue Flugrichtung. Gewiss hat niemand erwartet, dass bei Harmonische Ruhe Menschen aufkreuzen würden.« Er machte eine Pause und versuchte, alles zusammenzubekommen. Der Überfall… »Der Überfall, der war nicht dumm – aber er war ganz und gar improvisiert. Die Feinde hatten keine Reserven. Ihre Waffen waren plumpe, simple Dinger« – eine Erleuchtung –, »ja, ich wette, wenn du dir die Trümmer von Grünmuschels Skrod anschaust, wirst du sehen, dass ihre Strahlenwaffe eine Art Schneidwerkzeug war. Und der einzige Sensor an der grobschlächtigen Mine war ein Bewegungsdetektor; er diente irgendeinem zivilen Zweck. Alle Apparate sind auf die Schnelle von Leuten zusammengebaut worden, die nicht mit einem Kampf gerechnet hatten. Nein, unser Feind war von unserem Erscheinen sehr überrascht.«

»Du denkst, dass die Aprahanti…«

»Nicht die Aprahanti. Nach deinen Worten sind sie erst nach dem Feuergefecht ausgelaufen, als der Hirtenmond der Skrodfahrer über uns zu schreien begann. Wer immer dahinter steht, ist unabhängig von den Schmetterlingen und muss in sehr kleiner Zahl über viele Sternensysteme verstreut sein – ein ausgedehntes Netz von Stolperdrähten, das sich nach interessanten Dingen umhört. Sie haben uns bemerkt, und so schwach ihr Vorposten war, haben sie versucht, unser Schiff zu kapern. Erst als wir im Begriff waren zu entkommen, erstatteten sie über uns Meldung. So oder so, sie wollten nicht, dass wir davonkämen.« Er stieß die Hand in Richtung des Ultraspur-Fensters. »Wenn ich das richtig deute, sind uns über fünfhundert Schiffe auf den Fersen.«

Ravnas Blick huschte zu der Anzeige und zurück. Ihre Stimme klang geistesabwesend: »Ja. Das ist ein Teil der Hauptflotte der Aprahanti und…«

»Es werden noch viel mehr, nur dass es durchaus keine Schmetterlinge sein werden.«

»Was sagst du also? Warum sollten uns Skrodfahrer übelwollen? Eine Verschwörung ergibt keinen Sinn. Sie hatten niemals einen Nationalstaat, geschweige denn ein interstellares Reich.«

Pham nickte. »Nur friedliche Siedlungen – wie dieser Hirtenmond – in polyspezifischen Zivilisationen überall im Jenseits.« Seine Stimme wurde weicher. »Nein, Rav, die Skrodfahrer sind hier nicht der wahre Feind…, es ist das Ding, das hinter ihnen steht. Die Straumli-PERVERSION.«

Ungläubiges Schweigen, doch er bemerkte, wie fest Blaustiel seine Wedel an sich presste. Er wusste es.

»Es ist die einzige Erklärung, Rav. Grünmuschel war wirklich unser Freund und loyal. Ich vermute, dass sich nur eine kleine Minderheit der Skrodfahrer unter der Kontrolle der PERVERSION befindet. Als Grünmuschel unter sie geriet, wurde sie auch umgedreht.«

»Das… das ist unmöglich! Hier ist das Mittlere Jenseits, Pham. Grünmuschel war mutig, widerspenstig. Keine Gehirnwäsche hätte sie derart schnell verändert.« Ängstliche Verzweiflung lag jetzt in ihrem Blick. Welche Erklärung auch zutraf, etwas Schreckliches musste wahr sein.

Und ich bin immer noch da, lebe und rede. Ein Fall für die Gottsplitter; vielleicht gab es doch noch eine Chance! Er sprach fast gleichzeitig mit der sich einstellenden Erkenntnis: »Grünmuschel war loyal, trotzdem wurde sie binnen Sekunden umgedreht. Es war nicht einfach eine Perversion ihres Skrods oder irgendeine Droge. Es war, als seien sowohl Fahrer als auch Skrod von Anfang an dazu bestimmt gewesen, für ein bestimmtes Signal empfänglich zu sein.« Er schaute zu Blaustiel hinüber und versuchte einzuschätzen, wie der auf seine nächsten Worte reagieren würde. »Die Skrodfahrer erwarten seit langer Zeit ihren Schöpfer. Ihre Rasse ist sehr alt, älter als alle anderen außer ein paar herabgesunkenen. Sie sind überall, aber in geringer Zahl, immer nützlich und friedfertig. Und irgendwann am Anfang – vor ein paar Milliarden Jahren – steckten ihre Vorläufer in einer Sackgasse der Evolution. Ihr Schöpfer baute die ersten Skrods und erschuf die ersten Fahrer. Jetzt, denke ich, wissen wir, wer und wozu.

Ja, ja. Ich weiß, dass es auch andere Liftings gegeben hat. Was dieses so wunderbar macht, ist, als wie stabil es sich herausgestellt hat. Die Höheren Skrods sind ›Tradition‹, sagt Blaustiel, aber dieses Wort verwende ich für Kulturen und viel kürzere Zeitabschnitte. Die Höheren Skrods von heute sind mit denen von vor einer Milliarde Jahren identisch. Und es sind Geräte, die überall im Jenseits hergestellt werden können – und dennoch stammt die Konstruktion offensichtlich aus dem Hohen Jenseits oder dem Transzens.« Das war eine seiner ersten Demütigungen im Jenseits gewesen. Er hatte sich das Konstruktionsdiagramm von Skrods angesehen, eigentlich eine Folge von Schnitten. Nach außen hin war es eine mechanische Vorrichtung, sogar mit beweglichen Teilen. Und der Text behauptete, das ganze Ding ließe sich in den einfachsten Fabriken herstellen, kaum mehr, als an manchen Orten in der Langsamen Zone vorhanden war. Dennoch war die Elektronik ein scheinbar willkürliches Durcheinander von Bauteilen ohne eine Spur von hierarchischer oder modularer Anordnung. Es funktionierte, und weitaus wirksamer als etwas, das eine Intelligenz auf menschlichem Niveau hervorbrachte; Reparatur und Fehlersuche kamen bei der kybernetischen Komponente aber nicht in Frage. »Niemand im Jenseits versteht alle Möglichkeiten der Skrods, geschweige denn die Anpassungen, die sie ihren Fahrern aufzwingen. Ist es nicht so, Blaustiel?«

Der Skrodfahrer klappte seine Wedel hart gegen den Mittelstiel. Wieder ein wütendes Rasseln. Es war etwas, das Pham niemals zuvor gesehen hatte. Zorn? Entsetzen? Blaustiels Voderstimme war verzerrt: »Sie fragen? Sie fragen? Es ist ungeheuerlich, mich um Hilfe zu bitten, mir selbst…« Die Stimme glitt in hohe Frequenzen ab, und er stand schweigend da und zitterte.

Pham von der Dschöng Ho fühlte einen Stich von Scham. Der andere wusste und begriff – und hatte Besseres verdient. Die Skrodfahrer mussten vernichtet werden, aber sie sollten nicht gezwungen sein, sich sein Urteil anzuhören. Seine Hand fuhr nach dem Ausschalter der Kommunikation, hielt inne. Nein. Das ist deine letzte Chance, zu beobachten, wie die PERVERSION… arbeitet.

Ravnas Blick sprang zwischen Mensch und Skrodfahrer hin und her, und er sah, dass sie begriffen hatte. Ihr Gesicht sah ebenso gramvoll aus wie in dem Moment, als sie das Schicksal von Sjandra Kei erfahren hatte. »Du sagst, die PERVERSION hat die ursprünglichen Skrods gemacht.«

»Und auch die Fahrer verändert. Es war vor langer Zeit und gewiss nicht dieselbe Verkörperung der PERVERSION, die die Straumer erschaffen haben, aber…«

Die ›PEST‹, das war der andere übliche Name für die PERVERSION, und er entsprach besser der Sichtweise des ALTEN. Bei aller Transzendenz der PERVERSION erinnerte ihre Lebensweise eher als an alles andere an eine Krankheit. Das hatte vielleicht dazu beigetragen, den ALTEN irrezuführen. Doch nun sah es Pham: Die PEST lebte stückweise, verstreut über außerordentlich große Zeiträume. Sie verbarg sich in Archiven und wartete auf ideale Bedingungen. Und sie hatte sich für ihre Blüte Gehilfen erschaffen…

Er schaute Ravna an und begriff plötzlich noch etwas. »Du hattest dreißig Stunden, um darüber nachzudenken, Rav. Du hast die Aufzeichnungen meines Anzugs gesehen. Sicherlich hast du manches davon erraten.«

Sie wandte den Blick ab. »Ein bisschen«, sagte sie schließlich. Wenigstens bestritt sie es nicht mehr.

»Du weißt, was wir tun müssen«, sagte er sacht. Nun, da ihm klar war, was sie zu tun hatten, lockerten die Gottsplitter ihren Griff. Ihr Wille würde geschehen.

»Was?«, fragte Ravna, als wüsste sie es nicht.

»Zweierlei: Das Netz informieren.«

»Wer würde es glauben?« Das Netz der Million Lügen.

»Hinreichend viele. Wenn sie erst einmal hinschauen, werden die meisten Leute imstande sein, die Wahrheit zu erkennen – und die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen.«

Ravna schüttelte den Kopf. »Nein« – kaum hörbar.

»Das Netz muss es erfahren, Ravna. Wir haben etwas entdeckt, das tausend Welten retten könnte. Das ist die verborgene Klinge der PEST – zumindest im Mittleren und Unteren Jenseits.«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Aber diese Wahrheit hinauszuschreien, würde allein schon den Tod von Milliarden bedeuten.«

»In fairer Notwehr!« Er schwebte langsam in Richtung Decke, zog sich wieder zum Deck hinab.

Tränen standen ihr in den Augen. »Das sind genau die Argumente, mit denen m-meine Familie umgebracht worden ist, meine Welten… Und… und ich will da nicht mitmachen.«

»Aber diesmal sind die Behauptungen wahr!«

»Ich habe genug von Pogromen, Pham.«

Sanfte Beharrlichkeit – und fast unglaublich. »Willst du selbst diese Entscheidung treffen, Rav? Wir wissen etwas, worüber andere – Führer, die klüger sind als wir beide – sollten frei entscheiden können. Du würdest ihnen diese Entscheidung vorenthalten?«

Sie zögerte, und einen Augenblick lang glaubte Pham, ihre zivilisierte Gewöhnung an das Befolgen von Regeln ließe sie umschwenken. Doch dann hob sie das Kinn: »Ja, Pham. Ich würde ihnen diese Entscheidung nicht zubilligen.«

Er machte ein unverbindliches Geräusch und schwebte zurück zum Steuerpult. Es hatte keinen Sinn, mit ihr über das zu reden, was außerdem getan werden musste.

»Und Pham, wir werden Blaustiel und Grünmuschel nicht töten.«

»Uns bleibt keine Wahl, Rav.« Seine Hände glitten über die Kontaktfelder. »Grünmuschel ist pervertiert worden; wir haben keine Ahnung, wie viel davon die Zerstörung ihres Skrods überstanden hat, oder wie lange es dauern wird, bis Blaustiel verdorben wird. Wir können sie weder mitnehmen noch absetzen.«

Ravna schwebte zur Seite, den Blick an seine Hände geheftet. »Überleg dir, wen du tötest, Pham«, sagte sie leise. »Wie du sagtest, ich hatte dreißig Stunden, um über meine Entscheidungen nachzudenken, und über deine auch.«

»So.« Pham hob die Hände von der Steuerung. Wut (die Gottsplitter?) durchfuhr für kurze Zeit sein Denken. Ravna, Ravna, Ravna – eine Stimme in seinem Kopf sagte Lebwohl. Dann wurde alles sehr kalt. Er hatte solche Angst gehabt, die Skrodfahrer hätten das Schiff pervertiert. Statt dessen hatte diese dumme Närrin das für sie erledigt, freiwillig. Er schwebte langsam an sie heran. Fast gedankenlos hielt er Arm und Hand kampfbereit. »Wie gedenkst du mich daran zu hindern, zu tun, was getan werden muss?« Doch er ahnte es schon.

Sie wich nicht zurück, selbst, als seine Hand nur noch Zentimeter von ihrer Kehle entfernt war. In ihrem Gesicht standen Mut und Tränen. »W-was meinst du wohl, Pham? Während du im Chirurgen warst…, habe ich einiges neu geordnet. Verletze mich, und du wirst schlimmer verletzt werden.« Ihr Blick glitt über die Wände hinter ihm. »Töte die Skrodfahrer, und… und du wirst sterben.«

Für einen langen Moment starrten sie einander an, abschätzend. Vielleicht waren in den Wänden keine Waffen versteckt. Wahrscheinlich konnte er sie töten, ehe sie sich zu wehren vermochte. Doch dann gab es tausend Möglichkeiten, wie das Schiff programmiert sein konnte, ihn zu töten. Und alles bliebe den Skrodfahrern überlassen – hinabzufliegen zum Grund, zum Ziel ihrer Wünsche. »Was tun wir also?«, sagte er schließlich.

»N-nach wie vor fliegen wir Jefri zu Hilfe. Und um das GEGENMITTEL wiederzugewinnen. Ich bin bereit, den Skrodfahrern gewisse Beschränkungen aufzuerlegen.«

Ein Waffenstillstand mit Ungeheuern, vermittelt von einer Närrin.

Er stieß sich ab und schwebte in den Achsenkorridor. Hinter sich hörte er ein Schluchzen.

 

Die nächsten paar Tage gingen sie einander aus dem Weg. Pham hatte auf niederer Ebene Zugang zur Schiffsteuerung. Er fand Selbstmordprogramme in die Anwendungsschichten eingearbeitet. Doch seltsam – und Anlass zu Verdruss, wenn er dazu imstande gewesen wäre: Die Veränderungen waren um Stunden jüngeren Datums als seine Auseinandersetzung mit Ravna. Sie hatte nichts gehabt, als sie sich ihm entgegenstellte. Den MÄCHTEN sei Dank, dass ich es nicht wusste. Der Gedanke war vergessen, fast ehe er sich gebildet hatte.

So. Das Rätsel würde bis zu Ende andauern, ein fortgesetztes Spiel von Lüge und List. Grimmig nahm er sich vor, dieses Spiel zu gewinnen. Flotten hinter ihm, Verräter um ihn. Bei der Dschöng Ho und seinen eigenen Gottsplittern, die PERVERSION würde verlieren. Die Skrodfahrer würden verlieren. Und bei all ihrem Mut und ihrer Güte würde Ravna Bergsndot verlieren.