ZWEIUNDDREISSIG
Es hatte eine Zeit gegeben, da
Ravna glaubte, ihr winziges Schiff könnte den ganzen Weg bis zum
Grund unbemerkt fliegen. Zusammen mit allem anderen hatte sich das
geändert. Momentan war die Aus der Reihe II
vielleicht das berühmteste Sternenschiff, von dem das Netz wusste.
Eine Million Rassen beobachteten die Verfolgungsjagd. Im Mittleren
Jenseits sendeten ausgedehnte Antennenschwärme in ihre Richtung und
lauschten den Geschichten – größtenteils Lügen –, die die Verfolger
der ADR ausstrahlten. Sie konnte diese
Lügen natürlich nicht direkt hören, aber die Übertragungen, sie sie
empfing, waren so deutlich, als befänden sie sich in einem
Hauptkanal.
Ravna brachte einen Teil jedes Tages mit der Lektüre der Nachrichten zu, um Hoffnung zu finden, um sich selbst zu beweisen, dass sie richtig handelte. Mittlerweile wusste sie ziemlich sicher, wer Jagd auf sie machte. Zweifellos würden dem sogar Pham und Blaustiel zustimmen. Warum sie verfolgt wurden und was sie am Ende finden könnten, war jetzt der Gegenstand endloser Spekulationen im Netz. Wie immer war die Wahrheit, was immer das sein mochte, gut zwischen Lügen versteckt.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Hanse
[Keine Erwähnung vor dem Untergang von Relais. Keine wahrscheinliche Quelle. Das ist jemand sehr Vorsichtiges.]
GEGENSTAND: Allianz für die Verteidigung betrügerisch?
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 5,80 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Törichtes Unterfangen, unnötiger Genozid
TEXT DER BOTSCHAFT:
Zu einem früheren Zeitpunkt habe ich vermutet, es gäbe keine Zerstörungen bei Sjandra Kei. Ich entschuldige mich. Das beruhte auf einem Fehler bei der Katalogidentifikation. Ich stimme den Botschaften zu (13.123 bis vor ein paar Sekunden), die mir versichern, dass die Habitate von Sjandra Kei innerhalb der letzten sechs Tage durch Kollisionen beschädigt wurden.
Also hat die ›Allianz für die Verteidigung‹ anscheinend die militärischen Schritte unternommen, die sie vorher gefordert hat. Und anscheinend ist sie stark genug, um kleine Zivilisationen im Mittleren Jenseits zu vernichten. Es bleibt die Frage: »Warum?« Ich habe bereits Argumente mitgeteilt, die es unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass Homo sapiens besonders gut für die Steuerung durch die PEST geeignet sei (obwohl sie dumm genug waren, diese Wesenheit zu erschaffen). Selbst in ihren eigenen Meldungen gibt die Allianz zu, dass weniger als die Hälfte der Intelligenzwesen von Sjandra Kei dieser Rasse angehörten.
Jetzt macht ein großer Teil der Allianzflotte zum Grund des Jenseits hin Jagd auf ein einzelnes Schiff. Welchen denkbaren Schaden kann die Allianz der PEST dort unten zufügen? Die PEST ist eine große Bedrohung, vielleicht die neuartigste und gefährlichste in der gut überlieferten Geschichte. Dennoch erscheint das Verhalten der Allianz destruktiv und zwecklos. Nun, da die Allianz einige der sie unterstützenden Organisationen offengelegt hat (siehe Botschaften [Kennziffern]), glaube ich, dass wir ihre wahren Motive kennen. Ich sehe Zusammenhänge zwischen der Allianz und der alten Aprahant-Hegemonie. Vor tausend Jahren hat eine Gruppe einen ähnlichen Kreuzzug unternommen und sich dabei Systeme einverleibt, die nach aktuellen Transzendenzen freigeworden waren. Der Hegemonie Einhalt zu gebieten, war eine aufregende Aktion in jenem Teil der Galaxis. Ich glaube, diese Leute sind wieder da und nutzen die allgemeine Panik wegen der PEST (die freilich eine viel größere Bedrohung darstellt).
Mein Rat: Hütet euch vor der Allianz und ihrer Behauptung, heroische Anstrengungen zu unternehmen.
CRYPTO: 0
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Schirachene -› Rondralip -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Kommunikationssynode Harmonische Ruhe
GEGENSTAND: Begegnung mit Agenten der PERVERSION
VERTEILER:
Pestgefahr
DATUM: 6,37 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Hanse betrügerisch?
TEXT DER BOTSCHAFT:
Wir haben keine besonderen Beziehungen zu irgendeinem Teilnehmer dieser Gruppe. Dennoch ist es bemerkenswert, dass eine Wesenheit, die weder ihren Ort noch ihre besonderen Interessen offengelegt hat – nämlich ›Hanse‹ –, die Anstrengungen der Allianz für die Verteidigung herabmindert. Die Allianz hat ihre Mitglieder nur während des Zeitraums geheimgehalten, als sie ihre Kräfte zusammenzog und ein einziger Schlag der Kräfte der PERVERSION sie völlig hätte vernichten können. Seit jener Zeit hat sie durchaus offen agiert.
Hanse fragt sich, wieso ein einzelnes Sternenschiff die Aufmerksamkeit der Allianz verdienen könne. Da Harmonische Ruhe der Schauplatz der jüngsten Ereignisse in dieser Sache war, sehen wir uns in der Lage, einige Erklärungen zu geben. Das fragliche Schiff, die Aus der Reihe II, ist offensichtlich für Operationen am Grunde des Jenseits konstruiert und sogar zu beschränkten Aktionen innerhalb der Langsamen Zone imstande. Das Schiff hat sich als zonographischer Sonderflug ausgegeben, beauftragt, die jüngste Turbulenz am Grund zu untersuchen. Tatsächlich hat dieses Schiff einen völlig anderen Auftrag. In der durch seinen gewaltsamen Abflug geschaffenen Lage haben wir einige außergewöhnliche Fakten zusammengesetzt:
Mindestens einer von der Schiffsbesatzung war ein Mensch. Obwohl sie sich große Mühe gaben, außer Sicht zu bleiben, und zu den Skrodfahrern gehörende Kauffahrer als Mittler benutzten, haben wir Aufzeichnungen. Von einem der Individuen wurde eine Biosequenz ermittelt, und sie entspricht dem Muster, das in zwei von drei Homo-sapiens-Archiven gespeichert ist. (Es ist wohlbekannt, dass das dritte Archiv, bei Sneerot Tief, von Sympathisanten der Menschen kontrolliert wird.) Manche könnten sagen, dass dieses Täuschungsmanöver aus Angst erfolgte. Immerhin ereigneten sich diese Vorgänge nach der Vernichtung von Sjandra Kei. Wir glauben etwas anderes: Der erste Kontakt des Schiffes mit uns fand vor dem Sjandra-Kei-Zwischenfall statt.
Wir haben mittlerweile die Reparaturarbeiten, die unsere Werft an diesem Schiff durchgeführt hat, sorgfältig analysiert. Ultraantriebsautomatik ist eine tiefgründige und komplexe Angelegenheit, selbst die schlaueste Tarnung kann nicht alle Erinnerungen darin verbergen. Wir wissen jetzt, dass die Aus der Reihe II aus dem Relais-System kam und dass sie es nach dem Angriff der PERVERSION verlassen hat. Bedenkt, was das bedeutet.
Die Besatzung der Aus der Reihe II brachte Waffen in ein Habitat, tötete mehrere einheimische Intelligenzwesen und entfloh, ehe unsere Musiker [Harmonisatoren? Polizisten?] ausreichend im Bilde waren. Wir haben gute Gründe, ihnen übel zu wollen.
Dennoch ist unser Unglück geringfügig gegenüber der Enttarnung jener Geheimmission. Wir sind sehr dankbar, dass die Allianz gewillt ist, dieser Spur zu folgen und dabei so viel zu riskieren.
In dieser Nachrichtengruppe schwirren mehr haltlose Behauptungen als gewöhnlich herum. Wir hoffen, dass unsere Fakten manche Leute erwachen lassen. Überlegt insbesondere, was ›Hanse‹ wirklich sein kann. Die PERVERSION ist im Hohen Jenseits deutlich sichtbar, wo sie große Macht hat und mit ihrer eigenen Stimme sprechen kann. Hier unten ist es wahrscheinlicher, dass Täuschung und verdeckte Propaganda ihre Werkzeuge sein werden. Bedenkt das, wenn ihr Sendungen von nicht identifizierten Wesenheiten wie ›Hanse‹ lest!
Ravna biss die Zähne zusammen. Das Schlimme daran war, die Fakten in der Sendung stimmten. Die Schlussfolgerungen waren das Bösartige und Falsche. Und sie konnte nicht erraten, ob es sich um eine Art Gräuelpropaganda handelte oder ob Sankt Rihndell einfach ehrliche Ansichten äußerte (obwohl es nie so ausgesehen hatte, als ob Rihndell in die Schmetterlinge so großes Zutrauen setzte).
Über eines schienen sich alle Nachrichten einig zu sein: Viel mehr als die Flotte der Allianz machte Jagd auf die ADR. Den Schwarm von Ultraantriebs-Spuren konnte jedermann im Umkreis von eintausend Lichtjahren sehen. Am nächsten kamen diejenigen der Wahrheit, die meinten, drei Flotten verfolgten die ADR. Drei! Die Allianz für die Verteidigung, noch immer laut und prahlerisch, obwohl manche glaubten, sie nutze einfach die Gelegenheit zum Völkermord. Hinter ihr Sjandra Kei… und was von Ravnas Heimat übrig war; im ganzen Weltall womöglich die einzigen Leute, denen sie trauen konnte. Und kurz dahinter die schweigende Flotte. Verschiedene Netzteilnehmer behaupteten, sie stamme aus dem Hohen Jenseits. Jene Flotte würde am Grunde vielleicht Schwierigkeiten bekommen, aber zunächst holte sie auf. Wenige zweifelten daran, dass sie das Kind der PERVERSION war. Mehr als alles andere überzeugte sie das Universum davon, dass die ADR oder ihr Ziel von kosmischer Wichtigkeit waren. Warum sie es jedoch waren, blieb die große Frage. Spekulationen trafen mit einer Rate von fünftausend Sendungen pro Stunde ein. Von einer Million unterschiedlicher Gesichtspunkte aus wurde das Rätsel erörtert. Manche von diesen Gesichtspunkten waren derart fremdartig, dass sich dagegen Skrodfahrer und Menschen wie ein und dieselbe Species ausnahmen. Mindestens fünf Teilnehmer in dieser Nachrichtengruppe waren gasförmige Bewohner von Sternenkoronen. Es gab ein, zwei weitere, die Ravna für noch nicht registrierte Rassen hielt, derart scheue Wesen, dass sie nun vielleicht das erste Mal vom Netz Gebrauch machten.
Der Computer der ADR war jetzt ein Gutteil stumpfsinniger als im Mittleren Jenseits. Sie konnte ihn nicht auffordern, die Botschaften nach Feinheiten und Erkenntnissen zu durchforsten. Wenn eine eintreffende Nachricht nicht über einen Triskweline-Text verfügte, war sie eigentlich oft unleserlich. Die Übersetzungsprogramme des Schiffes kamen mit den wichtigsten Handelssprachen noch ganz ordentlich zurecht, doch selbst da war die Übersetzung langsam und voll von alternativen Bedeutungen und Kauderwelsch. Das war ein weiteres Anzeichen, dass sie sich dem Grunde des Jenseits näherten. Eine effektive Übersetzung natürlicher Sprachen erfordert etwas, das einem vernunftbegabten Übersetzerprogramm verteufelt nahe kommt.
Dennoch, bei der passenden Konstruktion hätten die Dinge besser stehen können. Die Automatik hätte mit Anstand nachlassen können, in dem Maße, wie die Tiefe ihr Beschränkungen auferlegte. Statt dessen fielen manche Geräte einfach aus; der Rest war langsam und steckte voller Fehler. Wenn doch nur die Umrüstung vor dem Untergang von Relais abgeschlossen worden wäre. Und wie oft habe ich mir das nun schon gewünscht? Sie hoffte, dass die Lage auf den Verfolgerschiffen ebenso schlecht wäre.
Ravna benutzte das Schiff also, um hier und da etwas aus der Nachrichtengruppe ›Bedrohungen‹ herauszupicken. Vieles vom Rest war einfach nur dumm, wie die Ansichten von Leuten, die ›aus dem Wetter Vorzeichen deuten‹…
CRYPTO: 0
SYNTAX: 43
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Arbwyth -› Handel 24 -› Cherguelen -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Quirlipp von den Nebeln
[Vielleicht eine Organisation von Wolkenfliegern in einem Einzelsystem vom Jupitertyp. Sehr selten aufgetaucht, ehe diese Gruppe begann. Scheint ernstlich nicht auf dem Laufenden zu sein. Programmempfehlung: diesen Teilnehmer aus der Präsentationsliste löschen.]
GEGENSTAND: Das Ziel der PEST am Grund
VERTEILER:
Pestgefahr
Große Geheimnisse der Schöpfung
DATUM: 4,54 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Zoneninstabilität und die PEST, Hexapodie als Schlüsselerkenntnis
TEXT DER BOTSCHAFT:
Entschuldigt zunächst, wenn ich allgemein bekannte Schlussfolgerungen wiederhole. Mein einziger Zugang zum Netz ist sehr teuer, und ich verpasse viele wichtige Sendungen. Ich glaube, dass jeder, der sowohl Große Geheimnisse der Schöpfung als auch die Pestgefahr verfolgt, ein wichtiges Muster sehen müsste. Seit den vom Informationsdienst von Harmonische Ruhe mitgeteilten Ereignissen stimmen die meisten darin überein, dass am Grunde des Jenseits in Region […] etwas für die PERVERSION Wichtiges existiert. Ich sehe hier einen möglichen Zusammenhang mit den Großen Geheimnissen. In den letzten 220 Tagen haben die Meldungen über Instabilitäten der Zonengrenzfläche im Gebiet unterhalb von Harmonischer Ruhe zugenommen. In dem Maße, wie die Bedrohung durch die PEST angewachsen ist und ihre Angriffe auf fortgeschrittene Rassen und andere MÄCHTE andauern, hat diese Instabilität zugenommen. Könnte es da nicht einen Zusammenhang geben? Ich fordere alle auf, ihre Informationen über die Großen Geheimnisse (oder das nächste von dieser Gruppe unterhaltene Archiv) zu konsultieren. Ereignisse wie dieses beweisen abermals, dass das Weltall zwischendrin durchweg ronzal ist.
Manche von den Botschaften waren zum Verrücktwerden…
CRYPTO: 0
SYNTAX: 43
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Schwabblings -› Baeloresk -› Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Grillenlied unterm Hohen Weidenbaum
[Grillenlied ist eine synthetische Rasse, die als Ulk/Experiment/Instrument vom Hohen Weidenbaum bei dessen Transzendenz erschaffen wurde. Grillenlied ist seit mehr als zehntausend Jahren im Netz. Anscheinend studiert es fanatisch die Wege zur Transzendenz. Seit achttausend Jahren ist es der häufigste Beiträger zu ›Wo sind sie jetzt‹ und verwandten Gruppen.
Es gibt keinen Hinweis, dass jemals eine Grillenlied-Siedlung selbst transzendiert wäre. Grillenlied ist eigenartig genug, dass es eine große Nachrichtengruppe für Spekulationen über die Rasse selbst gibt. Die allgemeine Ansicht ist, dass Grillenlied vom Hohen Weidenbaum als Sonde ins Jenseits entworfen wurde und dass die Rasse irgendwie außerstande ist, ihre eigene Transzendenz zu erreichen.]
GEGENSTAND: Das Ziel der PEST am Grund
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Sonder-Interessengruppe ›Wo sind sie jetzt‹
DATUM: 5,12 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
SCHLAGWÖRTER: Wie man transzendent wird
TEXT DER BOTSCHAFT:
Im Widerspruch zu anderen Sendungen gibt es eine Anzahl von Gründen, warum eine MACHT Artefakte am Grunde des Jenseits installieren könnte. Die Botschaft des Abselators in dieser Gruppe zitiert einige: Manche MÄCHTE haben Neugier in Bezug auf die Langsame Zone und erst recht die Gedankenleeren Tiefen erkennen lassen. In seltenen Fällen sind Expeditionen dorthin beordert worden (obwohl regelmäßig jede Rückkehr aus den Tiefen erst erfolgen konnte, nachdem die beauftragende MACHT jedes Interesse an örtlichen Angelegenheiten verloren hatte).
Keiner von diesen Beweggründen ist jedoch hier wahrscheinlich. Für diejenigen, die mit der Transzendenz durch Schnellbrand vertraut sind, ist klar, dass die PEST ein Geschöpf auf der Suche nach Stasis ist. Ihr Interesse am Grund ist sehr plötzlich erwacht, unserer Ansicht hervorgerufen durch die Enthüllungen bei Harmonische Ruhe. Es gibt am Grund etwas, das für das Wohlergehen der PERVERSION von kritischer Bedeutung ist.
Bedenkt die Idee einer ablativen Dissonanz (siehe Archiv der Gruppe ›Wo sind sie jetzt‹): Niemand weiß, was für Startprozeduren die Menschen des Straumli-Bereichs benutzt haben. Der Schnellbrand kann selbst transzendente Intelligenz besessen haben. Was, wenn er nicht mit der Richtung der Kanalepse zufrieden war? In diesem Fall kann er versucht haben, die Entburtsgang-Plattform zu verbergen. Der Grund wäre kein Ort, wo der Algorithmus selbst normalerweise ablaufen kann, aber es könnten daraus immer noch Avatars geschaffen werden, die für kurze Zeit lauffähig sind.
Bis zu einem gewissen Punkt konnte Ravna fast Sinn daraus entnehmen; ablative Dissonanz war ein Gemeinplatz der Angewandten Theologie. Aber dann – wie in einem jener Träume, wo sich jeden Augenblick das Geheimnis des Daseins entschlüsseln muss – driftete die Sendung in Nonsens ab.
Es gab Sendungen, die weder idiotisch noch unverständlich waren. Wie üblich traf Sandor beim Zoo in einer Menge Fragen den Nagel auf den Kopf.
CRYPTO:
EMPFANGEN VON: ADR ad hoc
SPRACHPFAD: Triskweline, SjK-Einheiten
VON: Sandor Schiedsintelligenz beim Zoo
[Eine bekannte Militärkorporation des Hohen Jenseits. Falls jemand anders den Namen benutzt, lebt er gefährlich.]
GEGENSTAND: Das Ziel der PEST am Grund
SCHLAGWÖRTER: Plötzliche Änderung der Taktik der PEST
VERTEILER:
Pestgefahr
Interessengruppe Kriegsbeobachter
Interessengruppe Homo sapiens
DATUM: 8,15 Tage seit dem Untergang von Sjandra Kei
TEXT DER BOTSCHAFT:
Falls ihr es nicht wisst: Sandor Schiedsintelligenz hat mehrere Zugänge zum Netz. Wir können Botschaften auf Pfaden sammeln, die keine Zwischenknoten gemein haben. Auf diese Weise können wir unterwegs vorgenommene Manipulationen entdecken und korrigieren. (Es verbleiben die von Anfang an vorhandenen Lügen und Missverständnisse, aber das ist es, was das Nachrichtendienst-Geschäft interessant macht.)
Die PEST ist seit ihrer Etablierung vor einem Jahr unser wichtigster Gegenstand gewesen. Und das nicht wegen der augenscheinlichen Stärke der PEST, der Zerstörung und der von ihr begangenen Deizide. Wir fürchten, all dies ist der geringere Teil der Bedrohung. Es hat in der überlieferten Geschichte PERVERSIONEN gegeben, die fast ebenso mächtig waren. Was die gegenwärtige wirklich auszeichnet, ist ihre Stabilität. Wir sehen keine Anzeichen innerer Evolution, in mancher Beziehung ist sie weniger als eine MACHT. Möglicherweise wird sie niemals das Interesse verlieren, das Hohe Jenseits unter Kontrolle zu halten. Wir werden vielleicht Zeugen einer massiven und dauernden Veränderung in der Natur der Dinge. Stellt euch vor: eine stabile Nekrose, wo das einzige Bewusstsein im Hohen Jenseits die PEST ist.
Das Studium der PEST ist daher für uns eine Frage von Leben und Tod gewesen (obwohl wir mächtig und weit verteilt sind). Wir sind zu einer Reihe von Schlüssen gekommen. Manche davon mögen euch offensichtlich erscheinen, andere wie krasse Spekulationen klingen. Alle erhalten mit den neuen Ereignissen, die von Harmonische Ruhe gemeldet werden, eine neue Schattierung:
Fast von Anfang an hat die PEST nach etwas gesucht. Diese Suche ist weit über ihre aggressive physische Expansion hinausgegangen. Ihre automatischen Agenten haben versucht, praktisch jeden Knoten an der Obergrenze des Jenseits zu durchdringen; das Hohe Netzwerk liegt in Trümmern, reduziert auf Protokolle, die kaum wirksamer als die weiter unten bekannten sind. Gleichzeitig hat die PEST mehrere Archive physisch gestohlen. Wir haben Hinweise auf sehr große Flotten, die an der Obergrenze und im Unteren Transzens nach vom Netz isolierten Archiven suchen. Mindestens drei MÄCHTE sind bei diesen Raubzügen ermordet worden.
Und nun haben diese Angriffe plötzlich aufgehört. Die physische Expansion der PEST geht weiter, ohne dass ein Ende abzusehen wäre, doch sie durchsucht nicht mehr das Hohe Jenseits. Soweit wir feststellen können, hat die Veränderung etwa zweitausend Sekunden vor der Flucht des Menschenschiffs von Harmonische Ruhe stattgefunden. Weniger als sechs Stunden später sahen wir die Anfänge der schweigenden Flotte, über die jetzt so viele Spekulationen anstellen. Diese Flotte ist in der Tat ein Geschöpf der PEST.
Zu anderer Zeit wären die Vernichtung von Sjandra Kei und die Motive der Allianz für die Verteidigung alles wichtige Vorgänge (und unsere Organisation könnte daran interessiert sein, mit den Betroffenen in geschäftliche Verbindung zu treten). Doch all dieses verblasst gegenüber jener Flotte und dem Schiff, das sie verfolgt. Und wir stimmen der Analyse von Harmonische Ruhe nicht zu: Für uns steht es außer Zweifel, dass die PEST vor der Entdeckung bei Harmonische Ruhe nichts von der Aus der Reihe II wusste.
Dieses Schiff ist kein Werkzeug der PEST, aber es enthält oder ist unterwegs zu etwas, das für die PEST von gewaltiger Bedeutung ist. Und was könnte das sein? Hier treten wir ins Gebiet der Spekulation ein. Und da wir spekulieren, werden wir jene mächtigen Pseudo-Gesetze verwenden, die Prinzipien der Mittelmäßigkeit und der Minimalen Annahme. Wenn die PEST imstande ist, sich die gesamte Obergrenze in permanenter Stabilität anzueignen, warum ist das dann nicht früher geschehen? Unsere Vermutung lautet, dass die PEST schon früher etabliert worden ist (mit so extremer Konsequenz, dass das Ereignis den Beginn der überlieferten Geschichte markiert), dass sie aber ihren eigenen spezifischen natürlichen Feind hat.
Die Abfolge der Ereignisse legt sogar ein bestimmtes Szenarium nahe, wie es aus der Netzwerk-Sicherheit bekannt ist. Es war einmal (vor sehr langer Zeit) ein anderer Fall von PEST. Eine wirksame Verteidigung wurde geschaffen, und alle bekannten Kopien vom Rezept der PEST wurden vernichtet. Natürlich kann man in einem weitverzweigten Netz niemals sicher sein, dass alle Kopien eines Übels entfernt sind. Zweifellos ist die Verteidigung in riesigen Mengen verbreitet worden. Doch selbst wenn ein Archiv, in dem die PEST Zuflucht gefunden hatte, von dieser Verbreitung erreicht wurde, kann die Wirkung ausgeblieben sein, wenn die PEST momentan nicht aktiv war.
Die glücklosen Menschen vom Straumli-Bereich sind zufällig auf solch ein Archiv gestoßen, zweifellos eine längst vom Netz isolierte Ruine. Sie etablierten die PEST und zufällig – vielleicht ein wenig später – das Verteidigungsprogramm. Irgendwie ist dieser Feind der PEST der Vernichtung entgangen. Und die PEST hat seither ständig danach gesucht – an sämtlichen falschen Stellen. In ihrer Schwäche hat sich die neue Erscheinungsform der Verteidigung in Tiefen zurückgezogen, die zu durchdringen keiner MACHT einfiele, woher sie ohne Hilfe von außen niemals zurückkehren könnte. Eine auf Spekulationen gegründete Spekulation: Wir können die Natur dieser Verteidigung nicht ahnen, außer dass ihr Rückzug ein entmutigendes Zeichen ist. Und nun ist selbst dieses Opfer sinnlos geworden, da die PEST das Täuschungsmanöver durchschaut hat.
Die Flotte der PEST ist offensichtlich eine Ad-hoc-Bildung, hastig aus allen Kräften zusammengewürfelt, die sich zufällig der Entdeckung am nächsten befanden. Ohne diese Hast wäre das Jagdwild ihr vielleicht ausgeliefert. So aber ist die Ausrüstung der Jäger wahrscheinlich schlecht geeignet für die Tiefen, und ihre Leistung wird in dem Maße nachlassen, wie der Abstieg voranschreitet. Wir schätzen jedoch, dass sie stärker sein wird als jede Streitkraft, die in naher Zukunft an den Ort des Geschehens gelangen kann.
Vielleicht erfahren wir mehr, nachdem die PEST das Ziel der Aus der Reihe II erreicht hat. Wenn sie dieses Ziel sofort vernichtet, werden wir wissen, dass es dort etwas für die PEST wahrlich Gefährliches gab (und vielleicht anderswo noch gibt, und sei es als Rezept). Wenn die PEST das nicht tut, bedeutet das möglicherweise, dass die PEST nach etwas gesucht hat, das sie noch gefährlicher als zuvor macht.
Ravna lehnte sich zurück und starrte eine Zeit lang den Bildschirm an. Sandor Schiedsintelligenz gehörte zu den scharfsinnigsten Teilnehmern dieser Nachrichtengruppe… Doch nun waren selbst deren Vorhersagen nur noch andere Schattierungen des Verhängnisses. Und sie waren immer so verdammt gelassen, so analytisch. Sie wusste, dass Sandor polyspezifisch war und Filialen überall im Hohen Jenseits besaß. Doch sie waren keine MACHT. Wenn die PERVERSION Relais überrennen und den ALTEN umbringen konnte, würden alle Ressourcen von Sandor nichts nützen, falls der Feind beschloss, sie zu schlucken. Ihre Analyse glich im Ton dem Piloten eines scheiternden Schiffes, der die Gefahr klar versteht und sich keine Zeit für Entsetzen zubilligt.
O Pham, wie gern ich mit dir so wie früher reden würde! Sie rollte sich sanft zusammen, wie man es in der Schwerelosigkeit tun kann. Sie schluchzte leise, aber ohne Hoffnung. In den letzten fünf Tagen hatten sie keine hundert Worte gewechselt. Sie lebten, als hielte jeder dem anderen eine Pistole an den Kopf. Und das war buchstäblich wahr – sie hatte es so eingerichtet. Als sie und er und die Skrodfahrer zusammen gewesen waren, hatten sie wenigstens die Last der Gefahr gemeinsam getragen. Nun waren sie entzweit, und ihre Feinde kamen ihnen langsam näher. Was konnten Phams Gottsplitter schon gegen tausend feindliche Schiffe ausrichten – und gegen die PEST, die hinter ihnen stand?
Einen zeitlosen Moment lang schwebte sie so, und das Schluchzen versickerte in verzweifelter Stille. Und abermals fragte sie sich, ob es wohl richtig sein konnte, was sie getan hatte. Sie hatte Phams Leben bedroht, um Blaustiel und Grünmuschel und ihresgleichen zu schützen. Dabei hatte sie etwas verheimlicht, das vielleicht der größte Verrat in der Geschichte des Bekannten Netzes war. Kann ein Einzelner solch eine Entscheidung treffen? Pham hatte ihr diese Frage gestellt, und sie hatte mit Ja geantwortet, aber…
Die Frage machte ihr Tag für Tag zu schaffen. Und jeden Tag versuchte sie, einen Ausweg zu finden. Sie wischte sich schweigend das Gesicht ab. Sie zweifelte nicht an dem, was Pham entdeckt hatte.
Es gab ein paar großkotzige Netzteilnehmer, die behaupteten, etwas derart Ausgedehntes wie die PEST sei einfach eine tragische Katastrophe und nicht etwas Böses. Böses, behaupteten sie, könnte nur in kleinerem Maßstab eine Bedeutung haben, wenn ein vernunftbegabtes Wesen einem anderen Schaden zufügte. Vor RIP war diese Ansicht wie ein frivoles Wortspiel erschienen. Nun sah sie, dass es eine Bedeutung hatte – und eine grundfalsche. Die PEST hatte die Skrodfahrer erschaffen, eine wunderbare und friedfertige Rasse. Ihre Anwesenheit auf einer Milliarde Welten war etwas Gutes gewesen. Und hinter alldem stand die Möglichkeit, den Geist eigenständiger Freunde in etwas Ungeheuerliches zu verwandeln. Wenn sie an Blaustiel und Grünmuschel dachte und die Furcht in ihr aufstieg, da sie wusste, dass das Gift dort verborgen lag – obwohl sie gute Leute waren –, dann wusste sie, dass sie einen Blick auf das Böse im transzendenten Maßstab geworfen hatte.
Sie hatte Blaustiel und Grünmuschel zu dieser Mission bewegt; sie hatten sich nicht darum gerissen. Sie waren Freunde und Verbündete, und sie würde ihnen kein Leid tun, weil sie zu etwas anderem werden konnten.
Vielleicht lag es an den jüngsten Nachrichten. Vielleicht lag es daran, dass sie sich zum x-ten Mal denselben Unmöglichkeiten gegenübersah: Ravna straffte sich, während sie die letzten Botschaften betrachtete. So. Sie glaubte, was Pham über die von den Skrodfahrern ausgehende Gefahr sagte. Sie glaubte auch, dass diese beiden nur potentiell Feinde wären. Sie hatte alles hingeworfen, um sie und ihresgleichen zu retten. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, aber mach das Beste daraus. Wenn sie gerettet werden sollen, weil du sie für Verbündete hältst, dann behandle sie wie Verbündete. Behandle sie als die Freunde, die sie sind. Wie sind alle nur Bauern im Spiel.
Ravna schob sich sacht auf die Tür ihrer Kabine zu.
Die Kabine der Skrodfahrer lag dicht hinter dem Steuerdeck. Seit dem Debakel bei RIP hatten die beiden sie nicht verlassen. Während sie den Gang entlang auf ihre Tür zu schwebte, erwartete Ravna halbwegs, Phams Apparaturen in den Schatten lauern zu sehen. Sie wusste, dass er sein Bestes tat, um ›sich zu schützen‹. Doch sie bemerkte nichts Ungewöhnliches. Was wird er davon halten, dass ich sie besuche?
Sie machte sich bemerkbar. Nach einer Weile erschien Blaustiel. Sein Skrod war von den Zierstreifen gesäubert, und im Raum hinter ihm herrschte Durcheinander. Er winkte sie mit knappen Rucken seiner Wedel herein.
»Meine Dame.«
»Blaustiel.« Sie nickte ihm zu. Die Hälfte der Zeit verfluchte sie sich, dass sie den Skrodfahrern traute, und die andere Hälfte war sie zu Tode betrübt, dass sie sie allein gelassen hatte. »W-wie geht es Grünmuschel?«
Zu ihrer Überraschung deutete Blaustiel mit einer kurzen Bewegung seiner Wedel ein Lächeln an. »Sie haben es erraten? Es ist der erste Tag mit ihrem neuen Skrod… Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen.«
Er schlängelte sich um Vorrichtungen herum, die auf einem Haltegitter quer durch den Raum verstreut waren. Es ähnelte der Werkstattausrüstung, die Pham benutzt hatte, um seine Rüstung mit Antrieb zu bauen. Und wenn Pham es gesehen hätte, hätte er womöglich alle Selbstbeherrschung verloren.
»Ich habe jede Minute daran gearbeitet, seit… Pham uns hier eingesperrt hat.«
Grünmuschel befand sich im anderen Zimmer. Ihr Stiel und die Wedel ragten aus einem silbrigen Topf hervor. Er hatte keine Räder. Er sah überhaupt nicht wie ein herkömmlicher Skrod aus. Blaustiel rollte über die Decke und streckte einen Wedel zu seiner Partnerin hinab. Er raschelte ihr etwas zu, und nach einer Weile antwortete sie.
»Der Ersatzskrod ist sehr beschränkt, ohne Beweglichkeit, ohne zusätzliche Energiequellen. Ich habe ihn von einem Modell für Mindere Skrodfahrer kopiert, einer simplen Konstruktion, die die Dirokime entworfen haben. Er ist nur dafür gedacht, an ein und derselben Stelle zu sitzen, ein und derselben Richtung zugewandt. Aber er stellt ihr ein Kurzzeitgedächtnis und Aufmerksamkeitsbündler zur Verfügung… Sie ist wieder bei mir.« Er machte sich bei ihr zu schaffen, einige seiner Wedel streichelten sie, andere zeigten auf das Gerät, das er für sie gebaut hatte. »Sie selbst war nicht schlimm verletzt. Manchmal frage ich mich – was Pham auch sagt, vielleicht brachte er es in letzter Sekunde nicht fertig, sie zu töten.«
Er sprach nervös, als habe er Angst vor dem, was Ravna sagen könnte.
»Die ersten paar Tage habe ich mir große Sorgen gemacht. Aber der Chirurg ist gut. Es hat ihr eine Menge Zeit verschafft, in starker Brandung zu stehen. Langsam zu denken. Seit sie diesen Ersatzskrod hat, übt sie die Gedächtnis-Kalesthenik und wiederholt, was der Chirurg oder ich ihr sagen. Mit dem Ersatzskrod kann sie eine neue Erinnerung fast fünfhundert Sekunden lang behalten. Das genügt ihrem natürlichen Verstand für gewöhnlich, einen Gedanken an das Langzeitgedächtnis zu übergeben.«
Ravna schwebte näher heran. Es gab ein paar neue Furchen in Grünmuschels Wedeln. Das waren wohl Narben, die allmählich verheilten. Ihre Sehflächen verfolgten Ravnas Annäherung. Die Skrodfahrerin wusste, dass sie da war; ihre ganze Haltung war freundlich.
»Kann sie Trisk sprechen, Blaustiel? Hast du einen Voder angeschlossen?«
»Was?« Surren. Er war vergesslich oder nervös, Ravna konnte nicht sagen, was von beidem. »Ja, ja. Einen Moment bitte… Es war bisher nicht nötig. Niemand wollte mit uns reden.« Er machte sich an einem Teil des selbstgebauten Skrods zu schaffen.
Nach einer Weile: »Hallo Ravna. Ich… erkenne Sie.« Ihre Wedel raschelten im Rhythmus der Worte.
»Ich kenne dich auch. Wir… ich bin froh, dass du wieder bei uns bist.«
Die Voderstimme klang schwach – wehmütig? »Ja. Ich kann es schwer sagen. Ich will wirklich reden, aber ich bin nicht sicher… Ergibt es einen Sinn, was ich sage?«
Außerhalb von Grünmuschels Gesichtsfeld ließ Blaustiel eine lange Ranke vorzucken, eine Geste: Sag ja.
»Ja, ich verstehe dich, Grünmuschel.« Und Ravna beschloss, sich nie wieder über Grünmuschels Gedächtnislücken zu ärgern.
»Gut.« Ihre Wedel strafften sich, und sie sagte nichts weiter.
»Sehen Sie?«, ertönte Blaustiels Voderstimme. »Ich bin hoch erfreut. Sogar jetzt überträgt Grünmuschel dieses Gespräch ans Langzeitgedächtnis. Es geht vorläufig noch langsam, aber ich arbeite an der Verbesserung ihres Skrods. Ich bin sicher, dass ihre Langsamkeit größtenteils auf einen emotionalen Schock zurückzuführen ist.« Er strich weiter über Grünmuschels Wedel, doch sie sagte nichts mehr. Ravna fragte sich, wie hoch erfreut er wohl wirklich sein konnte.
Hinter den Skrodfahrern befand sich eine Anordnung von Bildschirmen, die jetzt auf die Sehgewohnheiten der Fahrer eingerichtet waren. »Ihr habt die Nachrichten verfolgt?«, fragte Ravna.
»Ja.«
»Ich… ich fühle mich so hilflos.« Ich fühle mich so dumm, euch das zu sagen.
Doch Blaustiel nahm es ihr nicht übel. Er schien für den Wechsel des Themas dankbar zu sein, wo die düsteren Aussichten in einiger Entfernung lagen. »Ja. Wir sind jetzt wahrlich berühmt. Drei Flotten machen Jagd auf uns. Ha ha.«
»Es sieht nicht so aus, als würden sie schnell aufholen.«
Ein Zucken der Wedel. »Herr Pham hat sich als fähiger Schiffsführer erwiesen. Ich fürchte, die Lage wird sich ändern, wenn wir tiefer kommen. Die höhere Automatik des Schiffs wird nach und nach versagen. Was Sie ›Handsteuerung‹ nennen, wird sehr wichtig werden. Die ADR ist für meine Rasse entworfen worden, meine Dame. Egal, was Herr Pham von uns denkt, am Grunde können wir das Schiff besser als jeder andere fliegen. Also werden die anderen Stück für Stück aufholen – zumindest jene, die wirklich etwas von ihren eigenen Schiffen verstehen.«
»S-sicherlich weiß Pham das?«
»Ich glaube, er muss es wissen. Aber er ist in seinen eigenen Ängsten gefangen. Was kann er tun? Wenn Sie nicht gewesen wären, meine Dame, hätte er uns vielleicht schon getötet. Vielleicht, wenn es so weit kommt, dass er entweder binnen einer Stunde sterben oder uns vertrauen muss – dann gibt es vielleicht eine Chance.«
»Dann wird es zu spät sein. Seht ihr, sogar wenn er euch nicht traut – auch, wenn er das Schlimmste von den Skrodfahrern glaubt –, muss es noch einen Weg geben.« Und es ging ihr auf, dass man mitunter die Denkweise der Leute nicht zu ändern braucht, nicht einmal ihren Hass auf jemanden. »Pham will den Grund erreichen, um dieses GEGENMITTEL zu retten. Er glaubt, ihr könntet Geschöpfe der PEST und hinter derselben Sache her sein. Doch bis zu einem gewissen Punkt…« Bis zu einem gewissen Punkt ist er durchaus zur Zusammenarbeit imstande, kann die Konfrontation, die er sich einbildet, solange zurückstellen, bis sie keine Rolle mehr spielt.
Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, schrie Blaustiel sie an: »Ich bin kein Geschöpf der PEST! Grünmuschel ist auch keins! Die Rasse der Skrodfahrer ist es nicht!« Er fuhr rasch um seine Partnerin herum über die Decke, bis seine Wedel direkt vor ihrem Gesicht rasselten.
»Entschuldige. Es ist nur eine Möglichkeit…«
»Unsinn!« Sein Voder surrte in zu hohe Frequenzen hinein. »Wir sind auf ein paar Schlechte gestoßen. Solche gibt es in jeder Rasse, Leute, die gegen Bezahlung zu töten bereit sind. Sie haben Grünmuschel gezwungen, gegen ihren Willen Daten in ihren Voder gespeist. Pham Nuwen würde die vielen Milliarden von uns um seiner Einbildung willen töten.« Er gestikulierte wild. So etwas hatte sie noch niemals bei einem Skrodfahrer gesehen: Seine Wedel wechselten tatsächlich die Farbe, wurden dunkler.
Die Bewegung hörte auf, doch er sagte nichts weiter. Und da hörte Ravna es: einen hohen, langgezogenen Klagelaut, der vielleicht von einem Voder stammte. Der Laut wuchs stetig an, ein Heulen, gegen das alle Geräuscheffekte Blaustiels wie freundlicher Unsinn wirkten. Es war Grünmuschel.
Das Heulen erreichte beinahe die Schmerzgrenze, dann verwandelte es sich in abgehacktes Triskweline: »Es ist wahr! Oh, bei all unseren Handelsfahrten, Blaustiel, es ist wahr…« – und aus ihrem Voder drang statisches Rauschen. Ihre Wedel begannen zu zittern, unkoordinierte Drehungen, die bei einem Menschen wild starrenden Augen entsprechen mussten, dem hysterischen Gemurmel eines Mundes.
Blaustiel war schon wieder an der Wand und wollte ihren neuen Skrod regulieren. Grünmuschels Wedel stießen ihn beiseite, und ihr Voder fuhr fort: »Ich war von Entsetzen gepackt, Blaustiel. Ich war von Entsetzen gepackt, von Grauen. Und es hörte nicht auf…« Sie schwieg einen Augenblick lang. Blaustiel stand erstarrt da. »Ich erinnere mich an alles bis hin zu den letzten fünf Minuten. Und alles, was Pham sagt, ist wahr, Liebster. So treu du auch bist – und ich erlebe diese Treue jetzt seit zweihundert Jahren –, du würdest augenblicklich umgedreht werden… so wie ich.« Nun, da das Eis gebrochen war, kamen ihre Worte schnell, und die meisten ergaben Sinn. Das Grauen, an das sie sich erinnerte, hatte sich tief eingegraben, und sie befreite sich endlich von einem grässlichen Schock. »Ich war direkt hinter dir, weißt du noch, Blaustiel? Du warst in deinen Handel mit den Hauerbeinen versunken, so tief, dass du es nicht richtig gesehen hast. Ich bemerkte, wie die anderen Skrodfahrer auf uns zu kamen. Nun gut: eine freundschaftliche Begegnung so weit von Zuhause. Dann berührte einer meinen Skrod. Ich…« Grünmuschel zögerte. Ihre Wedel rasselten, und sie begann wieder: »… von Entsetzen gepackt, von Entsetzen…«
Nach einer Weile fuhr sie fort: »Es war, es seien plötzlich neue Erinnerungen im Skrod aufgetaucht, Blaustiel. Neue Erinnerungen, neue Einstellungen. Aber Jahrtausende tief. Und nicht von mir. Augenblicklich, augenblicklich. Ich habe keinen Moment das Bewusstsein verloren. Meine Gedanken waren unverändert klar, alle meine eigenen Erinnerungen noch da.«
»Und als du Widerstand leistetest?«
»… Widerstand? Meine Dame Ravna, ich habe keinen Widerstand geleistet, ich gehörte ihnen… Nein. Nicht ihnen, denn auch sie waren besessen. Wir waren Gegenstände, unsere Intelligenz diente einem fremden Zweck. Tot waren wir, und zugleich lebendig genug, um unseren Tod wahrzunehmen. Ich hätte Sie getötet, ich hätte Pham getötet, ich hätte Blaustiel getötet. Sie wissen, dass ich es versucht habe. Und als ich es versuchte, wollte ich, dass es gelänge. Sie können das niemals begreifen…« Eine lange Pause. »Das stimmt nicht ganz. An der Obergrenze des Jenseits, innerhalb der PEST selbst – dort lebt vielleicht jeder so, wie ich es tat.«
Das Zittern ließ nicht nach, doch ihre Gesten waren nicht mehr ziellos. Die Wedel sagten etwas in ihrer eigenen Sprache und streichelten Blaustiel sanft.
»Unsere ganze Rasse, lieber Blaustiel. Genauso, wie Pham sagt.«
Blaustiel wurde welk, und Ravna spürte, wie sich in ihm alles zusammenkrampfte, so wie bei ihr, als sie die Nachricht von Sjandra Kei erhalten hatte. Das waren ihre Welten gewesen, ihre Familie, ihr Leben. Die Nachricht für Blaustiel war schlimmer.
Ravna schwebte etwas näher heran, weit genug, um mit der Hand über die Seite von Grünmuschels Wedeln streichen zu können. »Pham sagt, dass die Ursache in den Höheren Skrods liegt.« Sabotage, eine Milliarde Jahre tief verborgen.
»Ja, es sind vor allem die Skrods. Die ›große Gabe‹, die wir Fahrer so lieben… Ihre Konstruktion dient dazu, die Kontrolle zu übernehmen, aber ich fürchte, auch wir sind daran angepasst worden. Als sie meinen Skrod berührten, war ich augenblicklich verwandelt. Augenblicklich hatte alles, was mir teuer gewesen war, keine Bedeutung mehr. Wir sind wie intelligente Bomben, zu Billionen über einen Raum verstreut, den jedermann für sicher hält. Wir werden sparsam verwendet. Wir sind die Geheimwaffe der PEST, besonders im Unteren Jenseits.«
Blaustiel zuckte zusammen, und seine Stimme klang holprig: »Und alles, was Pham behauptet, stimmt.«
»Nein, Blaustiel, nicht alles.« Ravna erinnerte sich an die letzte Konfrontation mit Pham. »Er hat die Fakten, aber er wichtet sie falsch. Solange eure Skrods nicht pervertiert sind, seid ihr dieselben Leute, denen ich mich für den Flug zum Grund anvertraut habe.«
Blaustiel wandte mit einem zornigen Ruck seinen Blick von ihr ab. Statt seiner erklang Grünmuschels Stimme: »Solange der Skrod nicht pervertiert ist… Aber seht doch, wie leicht es ging, wie plötzlich ich ein Werkzeug der PEST wurde.«
»Ja, aber ist es auch ohne direkte Berührung möglich? Könnt ihr ›verändert‹ werden, wenn ihr die Netznachrichten lest?«
Die Frage war als grimmiger Sarkasmus gemeint, doch die arme Grünmuschel nahm sie ernst: »Nicht durch eine Nachricht, auch nicht durch die üblichen Protokollsendungen. Aber die Annahme einer an die Skrod-Hilfsprogramme gerichteten Übertragung könnte ausreichen.«
»Dann seid ihr hier in Sicherheit. Du, weil du keinen Höheren Skrod mehr fährst, Blaustiel, weil…«
»Weil ich nie berührt worden bin… Aber woher wollen Sie das wissen?« Sein Zorn war immer noch da, tief in Scham eingebettet, doch nun war es eine hoffnungslose Wut, die sich gegen etwas sehr Fernes richtete.
»Nein, Liebster, du bist nicht berührt worden. Ich wüsste es.«
»Ja, aber warum sollte Ravna dir glauben?«
Alles könnte Lüge sein, dachte Ravna,… aber ich glaube Grünmuschel. Ich glaube, dass wir vier die Einzigen im ganzen Jenseits sind, die der PEST schaden können. Wenn nur Pham das einsehen würde. Und das brachte sie auf das Thema zurück: »Du sagst, wir werden allmählich unseren Vorsprung einbüßen?«
Blaustiel winkte bestätigend. »Sobald wir noch ein wenig tiefer sind. In ein paar Wochen müssten sie uns eingeholt haben.«
Und dann würde es egal sein, wer pervertiert worden war und wer nicht. »Ich glaube, wir sollten ein bisschen mit Pham Nuwen plaudern.« Mit seinen Gottsplittern und überhaupt.
Vorher konnte sich Ravna nicht ausmalen, wie die Gegenüberstellung verlaufen würde. Es mochte durchaus sein – wenn er vollends den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatte –, dass Pham versuchte, sie zu töten, wenn sie auf dem Steuerdeck erschienen. Wahrscheinlicher war, dass es zu Wutausbrüchen und Streit und Drohungen käme und alle wieder da wären, wo sie begonnen hatten.
Statt dessen… Es war beinahe der alte Pham, aus der Zeit vor Harmonische Ruhe. Er ließ sie das Steuerdeck betreten, er sagte nichts, als Ravna sich sorgsam zwischen ihn und die Skrodfahrer setzte. Er hörte ohne Unterbrechung aufmerksam zu, als Ravna darlegte, was Grünmuschel gesagt hatte. »Diese beiden sind ungefährlich, Pham. Und ohne ihre Hilfe schaffen wir es nie bis zum Grund.«
Er nickte und schaute beiseite auf die Bildschirme. Manche zeigten den natürlichen Sternenhimmel; die meisten gaben Ultraspuren wieder, die immer noch am besten geeignet waren, sich ein Bild von den auf die ADR zukommenden Feinden zu machen. Sein ruhiger Gesichtsausdruck wich für einen Moment, und der Pham, der sie liebte, schien verzweifelt dahinter hervorzustarren: »Und du glaubst das alles wirklich, Rav? Wie?« Dann war die Klappe wieder zu, sein Ausdruck distanziert und neutral. »Macht nichts. Eins stimmt sicherlich: Wenn wir nicht alle zusammenarbeiten, schaffen wir es nie bis zur Klauenwelt. Blaustiel, ich nehme dein Angebot an. Unter bestimmten Sicherheitsvorkehrungen arbeiten wir zusammen.« Bis ich euch gefahrlos beseitigen kann – Ravna spürte die ungesagten Worte hinter seinem nüchternen Ton. Die Konfrontation war aufgeschoben.