ZWEI

 

Eine Stunde mehr oder weniger, und das Leben von Wanderer Wickwrackrum wäre um einiges anders verlaufen.

Die drei Reisenden waren nach Westen unterwegs, von den Eisfängen hinab nach Flenserburg auf der Verborgenen Insel. Es hatte in seinem Leben Zeiten gegeben, da er die Gesellschaft nicht ertragen hätte, doch im letzten Jahrzehnt war Wanderer wesentlich umgänglicher geworden. Es gefiel ihm jetzt, zusammen mit anderen zu reisen. Bei seinem letzten Zug durch den Großen Sand waren ihrer fünf Rudel gewesen. Zum Teil war das eine Frage der Sicherheit gewesen: Der eine oder andere Todesfall ist fast unvermeidlich, wenn die Entfernung zwischen den Oasen eintausend Meilen betragen kann – und die Oasen selbst vergänglich sind. Doch abgesehen von der Sicherheit, hatte er im Gespräch mit den anderen eine Menge gelernt.

Über seine gegenwärtigen Begleiter war er nicht so froh. Keiner von beiden war wirklich ein Pilger, beide hatten sie Geheimnisse. Schreiber Yaqueramaphan war ein komischer Vogel, ein amüsanter Sonderling und eine Quelle zusammenhangloser Information… Es mochte auch leicht sein, dass er ein Spion war. Das ging in Ordnung, solange die Leute nicht glaubten, dass Wanderer mit ihm zusammenarbeitete. Die Dritte in der Gesellschaft war es, die ihm wirklich Sorgen machte. Tyrathect war eine Neukunft, noch nicht ganz beisammen, sie hatte keinen angenommenen Namen. Tyrathect behauptete, eine Lehrerin zu sein, doch irgendwo in ihr (ihm? das überwiegende Geschlecht war noch nicht ganz klar) steckte ein Mörder. Das Geschöpf war offensichtlich ein flenseristischer Fanatiker, oft hochnäsig und stur. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie auf der Flucht vor den Säuberungen, die auf Flensers erfolglosen Versuch der Machtergreifung im Osten folgten.

Er war den beiden in Osttor begegnet, auf der republikanischen Seite der Eisfänge. Sie wollten beide die Burg auf der Verborgenen Insel besuchen. Und zum Teufel, das war nur ein Umweg von sechzig Meilen auf der Hauptroute nach Holzschnitzerheim, sie alle würden das Gebirge überqueren müssen. Außerdem hatte er seit Jahren vorgehabt, Flensers Reich zu besuchen. Vielleicht konnte ihm einer von den beiden helfen hineinzukommen. So viele in der Welt schmähten die Flenseristen. Wanderer Wickwrackrum war geteilter Meinung über das Böse: Wenn genug Regeln verletzt werden, ist mitunter Gutes inmitten des Gemetzels.

Diesen Nachmittag waren sie endlich in Sichtweite der Küsteninseln gelangt. Wanderer war erst vor fünf Jahren hier gewesen. Dennoch war er nicht auf die Schönheit dieses Landes gefasst. Die Nordwestküste war bei weitem die mildeste arktische Region auf der Welt. Im Hochsommer, wenn der Tag nicht endete, wurden die Sohlen der von den Gletschern ausgeschürften Täler allesamt grün. Gott der Schnitzer hatte sich herabgebeugt, um diese Länder zu berühren…, und Seine Meißel waren aus Eis gewesen. Jetzt war von dem Eis und Schnee nichts übrig als neblige Bögen am östlichen Horizont und ein paar letzte Flecken, über die nahen Berge verstreut. Diese Flecken schmolzen und schmolzen den Sommer über und brachten kleine Bäche hervor, die sich vereinigten und in Wasserfällen die steilen Talhänge hinabstürzten. An seiner rechten Seite trottete Wanderer über ein flaches Stück Boden, das von stehendem Wasser durchtränkt war. Das Prickeln an den Füßen fühlte sich wunderbar an, ihm machten nicht einmal die Mücken etwas aus, die ihn umschwirrten.

Tyrathect ging parallel zu ihm, doch oberhalb der Heidekraut-Grenze. Sie war recht gesprächig gewesen, bis das Tal einen Bogen machte und das bestellte Land und die Inseln in Sicht kamen. Irgendwo da draußen lagen Flenserburg und ihr dunkles Ziel.

Schreiber Yaqueramaphan war überall gewesen in gedankenlosem Herumrennen. Bald fand er sich zu zweit oder zu dritt und vollführte eine Narretei, die selbst die mürrische Tyrathect zum Lachen brachte, bald kletterte er auf eine Anhöhe und berichtete, was er dahinter sah. Er hatte als Erster die Küste erblickt. Das hatte ihn etwas ernüchtert. Seine Clownerien waren gefährlich genug, selbst wenn sie sich nicht in der Nachbarschaft notorischer Vergewaltiger befunden hätten.

Wickwrackrum verkündete eine Rast und versammelte sich, um die Gurte seiner Rückentaschen zu ordnen. Der Rest des Nachmittags würde hart werden. Er würde sich entscheiden müssen, ob er wirklich mit seinen Freunden die Burg betreten wollte. Ein abenteuerlicher Geist hat seine Grenzen, selbst der eines Pilgers.

»He, hört ihr etwas Tiefes?«, rief Tyrathect. Wanderer lauschte. Da war ein Grollen – stark, doch fast unterhalb der Hörgrenze. Für einen Augenblick legte sich Furcht über seine Verwunderung. Vor einem Jahrhundert war er in ein ungeheuerliches Erdbeben geraten. Dieser Klang war ähnlich, doch das Grollen bewegte sich nicht unter seinen Füßen. Würde es also keine Erdrutsche und Flutwellen geben? Er duckte sich und spähte in alle Richtungen.

»Es ist am Himmel!« Yaqueramaphan zeigte nach oben.

Ein gleißender Fleck hing fast genau über ihnen, ein winziger Lichtspeer. Keine Erinnerungen, nicht einmal Legenden kamen Wickwrackrum in den Sinn. Er schwärmte aus, alle Augen auf das sich langsam bewegende Licht gerichtet. Chor Gottes. Es musste Meilen hoch sein, und dennoch hörte er es. Er wandte den Blick von dem Licht ab, und Nachbilder tanzten schmerzhaft in seinen Augen.

»Es wird heller, lauter«, sagte Yaqueramaphan. »Ich glaube, es kommt auf die Hügel da drüben herab, an der Küste.«

Wanderer sammelte sich und rannte westwärts, während er die anderen rief. Er würde so nahe gehen, wie ihm sicher schien, und beobachten. Er schaute nicht mehr nach oben. Es war einfach zu hell. Es warf Schatten am helllichten Tage!

Er lief noch eine halbe Meile. Der Stern war noch in der Luft. Er konnte sich nicht entsinnen, dass jemals ein Stern so langsam gefallen wäre, obwohl manche von den größten schreckliche Explosionen hervorriefen. In der Tat…, es gab keine Geschichten von Leuten, die in der Nähe von dergleichen gewesen wären. Seine wilde Neugier des Pilgers verblasste angesichts dieser Erkenntnis. Er schaute in alle Richtungen. Tyrathect war nirgends zu sehen, Yaqueramaphan hatte sich weiter vorn bei ein paar Felsbrocken zusammengedrängt.

Und das Licht war so hell, dass Wickwrackrum an den Stellen, wo ihn seine Kleidung nicht schützte, die Hitze spürte. Der Lärm am Himmel war mittlerweile geradezu schmerzhaft. Wanderer sprang über den Rand der Talböschung, rollte und strauchelte und fiel die steilen Felswände hinab. Er war jetzt im Schatten: nur Sonnenlicht fiel auf ihn! Die andere Seite des Tales leuchtete in gleißend hellem Schein, scharfe Schatten bewegten sich mit dem unsichtbaren Ding hinter ihm. Der Lärm war noch immer ein tiefes Grollen, doch so laut, dass es den Verstand lähmte. Wanderer stolperte in den Wald hinein und ging weiter, bis er von hundert Ellen Wald beschirmt wurde. Das hätte eigentlich sehr hilfreich sein müssen, doch der Lärm wurde immer noch lauter

Eine gnädige Ohnmacht umfing ihn für ein, zwei Augenblicke. Als er zu sich kam, war der Klang des Sterns verschwunden. Das Klingen, das er in seinen Trommelfellen hinterlassen hatte, war sehr irritierend. Benommen stolperte Wickwrackrum umher. Es schien zu regnen – nur dass manche von den Tropfen glühten. Kleine Brände flammten hier und da im Wald auf. Er verbarg sich unter dichten Baumkronen, bis keine brennenden Steine mehr herabfielen. Die Brände breiteten sich nicht aus, der Sommer war verhältnismäßig feucht gewesen.

Wanderer lag still und wartete auf weitere brennende Steine oder neuen Sternenlärm. Nichts. Der Wind in den Baumwipfeln flaute ab. Er konnte die Vögel und die Grillinge und die Holzbohrer hören. Er ging zum Waldrand und spähte an mehreren Stellen hinaus. Abgesehen von den Flecken verbrannten Heidekrauts sah alles normal aus. Doch seine Sicht war sehr beschränkt: Er konnte hohe Talwände erkennen, ein paar Bergkuppen. Ha! Dort war Schreiber Yaqueramaphan, dreihundert Ellen weiter oben. Die meisten von ihm waren in Löcher und Höhlungen geduckt, doch ein paar Glieder ließ er dorthin schauen, wo der Stern gefallen war. Wanderer blinzelte. Schreiber war meistens so ein Clown. Doch manchmal schien das nur Tarnung zu sein; wenn er wirklich ein Narr war, dann einer mit einer Spur Genialität. Mehr als einmal hatte Wickwrackrum ihn von weitem zu zweit mit einem seltsamen Gerät hantieren sehen… So wie jetzt: der andere hielt etwas Langes und Spitzes an ein Auge.

Wickwrackrum kroch aus dem Wald, hielt sich dabei eng beisammen und machte so wenig Lärm wie möglich. Er kletterte sorgfältig um die Felsen, schlüpfte von einem Heidebuckel zum nächsten, bis er knapp unter dem Kamm am Rande des Tals und vielleicht fünfzig Ellen von Yaqueramaphan entfernt war. Er konnte den anderen mit sich selbst denken hören. Ein Stück näher, und Schreiber würde ihn hören, so eng beieinander und still er auch war.

»Psst!«, sagte Wickwrackrum.

Das Summen und Murmeln verstummte in einem Augenblick schreckhafter Überraschung. Yaqueramaphan stopfte das rätselhafte Ding in eine Rückentasche und sammelte sich, wobei er sehr leise dachte. Sie starrten einander einen Moment lang an, dann machte Schreiber närrische quirlende Bewegungen an seinen Schulter-Trommelfellen. Hör still. »Kannst du so reden?« Seine Stimme kam in sehr hohen Tönen, wo manche Leute nicht mehr willkürlich sprechen können und wo Tieftonohren taub sind. Hochsprache konnte verwirrend sein, doch sie war sehr gerichtet und schwand schnell mit zunehmender Entfernung; niemand sonst würde sie hören. Wanderer nickte: »Hochsprache ist kein Problem.« Der Trick bestand darin, hinreichend saubere Töne zu benutzen, dass keine Verwirrung aufkam.

»Schau mal über den Hügelkamm, Freund Pilger. Es gibt etwas Neues unter der Sonne.«

Wanderer bewegte sich dreißig Ellen höher und hielt dabei nach allen Seiten Ausschau. Er konnte jetzt die Meerenge sehen, die rausilbern in der Nachmittagssonne schimmerte. Hinter ihm verlor sich die Nordseite des Tals im Schatten. Er schickte ein Glied voraus, das zwischen den Hügelchen hindurchrutschte, um auf die Ebene hinabzuschauen, wo der Stern niedergegangen war.

Chor Gottes, dachte er bei sich (aber leise). Er nahm ein weiteres Glied herauf, um ein weit stereoskopisches Bild zu erhalten. Das Ding sah aus wie eine große Lehmhütte auf Stelzen… Doch es war der herabgefallene Stern: Der Boden ringsum glühte dumpf rot. Nebelschwaden stiegen überall von der feuchten Heide auf. Die zerfetzte Erde war in langen Streifen weggeschleudert worden, ausgehend von einer Stelle unter dem Ding.

Er nickte Yaqueramaphan zu. »Wo ist Tyrathect?«

Schreiber zuckte die Schultern. »Weiter hinten, möchte ich wetten. Ich behalte sie im Auge… Aber siehst du die anderen, die Soldaten aus Flenserburg?«

»Nein!« Wanderer blickte westlich des Landeplatzes. Da. Sie waren fast eine Meile entfernt, in Tarnjacken, und robbten über das hüglige Terrain. Er konnte mindestens drei Soldaten sehen. Es waren große Kerle, jeder zu sechst. »Wie haben sie so schnell hierher kommen können?« Er warf einen Blick zur Sonne. »Es kann nicht mehr als eine halbe Stunde her sein, dass alles begonnen hat.«

»Sie hatten eben Glück.« Yaqueramaphan kehrte zum Kamm zurück und blickte hinüber. »Ich wette, sie waren schon auf dem Festland, als der Stern herunterkam. Das ist alles Flensergebiet, sie müssen Patrouillen haben.« Er duckte sich, sodass nur zwei Paar Augen von unten zu sehen waren. »Das ist eine Überfall-Formation, weißt du.«

»Du scheinst nicht sehr froh zu sein, sie zu sehen. Das sind deine Freunde, nicht wahr? Die Leute, zu denen du unterwegs bist.«

Schreiber hielt sarkastisch seine Köpfe schief. »Ja, ja. Reib es mir nicht unter die Nasen. Ich glaube, du hast von Anfang an gewusst, dass ich nicht ganz für Flenser bin.«

»Ich hab es mir gedacht.«

»Nun, das Spiel ist jetzt vorbei. Was immer diesen Nachmittag heruntergekommen ist, ist mehr wert für… hm, meine Freunde, als alles, was ich auf der Verborgenen Insel hätte erfahren können.«

»Was ist mit Tyrathect?«

»O ja. Unsere geschätzte Begleiterin ist mehr als echt, fürchte ich. Ich wette, sie ist eine Flenser-Fürstin, nicht die niedrige Dienerin, als die sie auf den ersten Blick erscheint. Ich vermute, dass viele von ihrer Sorte in diesen Tagen übers Gebirge zurücktröpfeln, froh, aus der Langseen-Republik fortzukommen. Halt deine Hintern in Deckung, Kumpel. Wenn sie uns entdeckt, werden uns diese Soldaten garantiert erwischen.«

Wanderer kroch tiefer in die Höhlungen und Furchen, mit denen die Heide übersät war. Er hatte einen hervorragenden Ausblick das Tal entlang. Wenn Tyrathect nicht schon auf der Szene war, würde er sie viel früher sehen als sie ihn.

»Wanderer?«

»Ja?«

»Du bist ein Pilger. Du hast die Welt bereist – seit Anbeginn der Zeiten, wie wir glauben sollen. Wie weit reicht deine Erinnerung wirklich zurück?«

Angesichts der Lage neigte Wickwrackrum dazu, aufrichtig zu sein. »Wie du dir denken kannst: ein paar hundert Jahre. Der Rest sind Legenden, Erinnerungen an Dinge, die sich wahrscheinlich zugetragen haben, wo aber alle Einzelheiten vermengt und durcheinander sind.«

»Gut, ich bin nicht viel gereist, und ich bin ziemlich neu. Aber ich lese. Eine Menge. Nie ist so etwas wie das hier geschehen. Das Ding da unten ist gemacht worden. Es ist aus größerer Höhe gekommen, als ich in Zahlen ausdrücken kann. Hast du Aramstriquesa oder Astrolog Belelele gelesen? Weißt du, was das sein könnte?«

Wickwrackrum erkannte die Namen nicht. Doch er war wahrlich ein Pilger. Es gab Länder, so weit entfernt, dass niemand dort irgendeine Sprache sprach, die er kannte. In den Südmeeren hatte er Leute getroffen, die glaubten, es gäbe keine Welt jenseits ihrer Inseln, und die vor seinen Booten weggelaufen waren, als er an Land ging. Mehr noch, ein Teil von ihm war ein Insulaner gewesen und hatte diese Landung beobachtet.

Er reckte einen Kopf ins Freie und schaute wieder auf den herabgefallenen Stern, den Besucher von weiter weg, als er jemals gewesen war…, und er fragte sich, wo diese Pilgerfahrt wohl enden mochte.