15
Jack Ferro ging allein durch den langen kahlen Korridor vor dem Dispatcherbüro. Edward Johnson hatte seinen detaillierten Bericht entgegengenommen und ihn aufgefordert, nach Hause zu fahren. Auch diesmal hatte er den Dispatcher nicht in die Nachrichtenzentrale gelassen. Jack Ferro wußte, daß seine Tage bei der Trans-United gezählt waren.
Er hörte jemand rasch die Treppe am Ende des Korridors heraufkommen und blieb stehen.
Chefpilot Kevin Fitzgerald – großgewachsen, athletisch und braungebrannt, in ausgebleichten Jeans und einem T-Shirt – kam den Korridor entlang. Er nickte Ferro zu und wollte an ihm vorbeigehen, aber der andere räusperte sich. »Captain Fitzgerald.«
Der Chefpilot blieb nicht einmal stehen. »Was gibt’s, Jack?« fragte er im Weitergehen.
»Die anderen sind alle im Verwaltungsgebäude. Im Konferenzraum, Sir.«
»Scheiße!« Fitzgerald machte kehrt und kam zurück. »Hier ist also nichts los?«
»Nein, Sir. Die Verbindung zu Flug 52 ist abgerissen.«
Fitzgerald war bereits wieder zur Treppe unterwegs. »Alles Scheiße, Jack. Kein Mensch weiß, was wirklich los ist.«
»Richtig, Sir!« rief Ferro ihm nach.
Fitzgerald verschwand die Treppe hinunter.
Jack Ferro blieb noch einige Sekunden lang stehen. Er überlegte, zögerte unschlüssig, setzte sich dann in Bewegung und hastete die Treppe hinab. In seiner Eile nahm er jeweils zwei, drei Stufen auf einmal.
Auf dem Parkplatz sah er Fitzgerald in einen ausländischen Sportwagen steigen. Er rannte hin.
Der Chefpilot ließ den Motor an und sah zu Ferro auf. »Was gibt’s, Jack?«
Ferro brachte keinen Ton heraus.
»Ich hab’s eilig. Haben Sie etwas Wichtiges?« Fitzgerald betrachtete ihn genauer. »Was ist los?« fragte er weniger scharf und stellte den Motor ab.
Ferro trat einen Schritt näher. »Captain, ich muß Sie sprechen.«
Fitzgerald besaß genügend Menschenkenntnis und kannte Jack Ferro gut genug, um zu wissen, daß er etwas sehr Wichtiges hören würde. »Steigen Sie ein, Jack. Wir können unterwegs
miteinander reden.«
»Nein, Sir. Sie sollten lieber hierbleiben, glaube ich.«
Fitzgerald öffnete die Tür und stieg aus. »Schießen Sie los!«
»Na ja, ich …«
»Sparen Sie sich das Herumgerede, Jack. Erzählen Sie mir kurz und knapp, was Sie zu sagen haben.«
»Ich glaube … ich bin sicher, daß hier irgendwas nicht in Ordnung ist.«
Fitzgerald nickte. »Bitte weiter!«
Jack Ferro begann zu erzählen.
In der kleinen Nachrichtenzentrale der Trans-United Airlines war es noch heißer geworden. Das Fotokopiergerät machte die verbrauchte Luft noch stickiger. Edward Johnson saß in Hemdsärmeln und mit gelockerter Krawatte auf seinem Platz.
Wayne Metz wischte sich mit einem feuchten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er nickte zufrieden. »Das wäre erledigt, glaube ich, Ed.«
Johnson nickte langsam. Er fühlte sich schuldbewußt – daran bestand kein Zweifel –, aber er hatte gleichzeitig das Gefühl, als sei ihm das Gewicht der Welt – das Gewicht der Straton 797 – von den Schultern genommen worden. Er ärgerte sich darüber, daß Metz seine Freude kaum verbergen konnte. Der andere verstand nichts vom Fliegen, von Fluggesellschaften und den Menschen, die bei ihnen arbeiteten. Er verstand nur, wie man Haftungsfragen löste. Johnson streckte die rechte Hand nach dem Wiederholungsknopf des Data-Link-Geräts aus und hielt ihn gedrückt.
Der Text wurde wiederholt.
AN FLUG 52: WIE VERSTEHEN SIE UNS? BESTÄTIGEN SIE. SAN FRANCISCO
Diese beiden Zeilen wiederholten sich, solange Johnson auf den Knopf drückte. In dem Auffangkorb lag schließlich ein langer bedruckter Papierstreifen. Johnson sah auf seine Uhr. »So, das müßten genügend Wiederholungen für die letzte Stunde sein.« Er ließ den Knopf los und tippte eine Schlußnachricht.
AN FLUG 52: SENDEN SIE MAYDAY ODER IRGENDEINE
KOMBINATION AUS BUCHSTABEN ODER ZAHLEN, FALLS SIE UNS
VERSTEHEN.
SAN FRANCISCO
Die beiden Männer warteten schweigend.
Metz sah auf die Uhr. Sie zeigte 14.30 an. Er räusperte sich. »Das war’s wohl.«
»Richtig.« Johnson dachte nach. Dieser Sonntagsflieger konnte den Ausfall aller vier Triebwerke unmöglich überlebt haben. Aus 11 000 Fuß war die Straton in knapp fünf Minuten bis auf Meereshöhe gesunken. In dieser Zeit hätte ein ausgebildeter Pilot die Triebwerke wieder anlassen können, aber Berry besaß weder das Wissen noch die Erfahrung, um diese Aufgabe zu meistern. Fünf Minuten. Johnson war einen Augenblick lang von der Vorstellung überwältigt, wie die riesige Straton 797 aus 11 000 Fuß in den Pazifik stürzte. Er sah das Cockpit vor sich, in dem Berry und die Stewardess mit dem Bewußtsein, daß sie von irgend jemand ermordet wurden, unaufhaltsam aufs Meer zu sanken. »Ja, das war’s, Wayne«, bestätigte er heiser. Er konnte nur hoffen, daß der andere nicht merkte, daß seine Knie zitterten.
Metz sah sich in dem kleinen Raum um. »Haben wir irgendwas vergessen?«
Johnson starrte ihn an. »Warum fragst du danach? Du hast doch sowieso keine Ahnung!«
»Schon gut, schon gut!« wehrte Metz ab. »Natürlich ist diese Sache unangenehm, aber deshalb brauchst du nicht gleich über mich herzufallen. Mir geht’s nur darum, daß wir nichts liegenlassen, was …«
»Hast du das Fernschreiben?«
»Ja.« Metz zeigte auf seine über einer Stuhllehne hängende leichte Jacke.
»Okay, zieh sie lieber an.« Johnson hängte sich seine eigene Jacke um. Er ging langsam zur Tür. Als er nach der Klinke griff, wünschte er sich einen Augenblick lang, er wäre wieder auf dem Ladehof der Frachtabteilung, wo er früher gearbeitet hatte. Er erinnerte sich wehmütig an dieses einfache Leben – ohne faule Kompromisse, ohne Intrigen und ohne das Bild der abstürzenden Straton, das er bis an sein Lebensende vor Augen haben würde.
Johnson merkte, daß ihn jemand durch die Glastür anstarrte. Er hob den Kopf und sah Kevin Fitzgerald vor der Tür stehen. Der Chefpilot rüttelte an der Klinke.
Metz spürte augenblicklich die Feindseligkeit, die zwischen diesen beiden Männern herrschte, und merkte, daß in Johnson eine deutliche Veränderung vorging. Er hatte plötzlich wieder Angst.
Johnson drehte sich nach Metz um, der rasch herankam. »Das ist Fitzgerald, unser Chefpilot. Laß mich mit ihm reden. Sag nichts freiwillig.« Er schloß die Tür auf. »Hallo, wie geht’s, Kevin?«
Fitzgerald starrte das Türschloß an. Dann hob er ruckartig den Kopf. »Wie steht’s?« Er betrat die Nachrichtenzentrale und sah sich um.
»Sind Sie schon im Konferenzraum gewesen?«
»Nein, ich bin am Strand gewesen. Aber ich habe mich telefonisch gemeldet und von dem Unfall erfahren. Da niemand etwas vom Konferenzraum gesagt hat, bin ich natürlich hierhergekommen.«
»Natürlich.« Hatte er vergessen, jemand auf den Parkplatz zu schicken? Nein, er hatte Ferro angewiesen, alle Eintreffenden abzufangen und ins Verwaltungsgebäude zu schicken. Dieser verdammte Hund! Johnson wußte, daß er von Glück sagen konnte, daß Fitzgerald erst jetzt aufgekreuzt war. »Die Sache ist von Anfang an vermurkst worden. Hauptsächlich durch die Flugsicherung, obwohl unsere Leute auch geschlafen haben.«
»Die Schuldigen können wir später suchen. Wer ist das?«
Johnson drehte sich um. »Das ist Wayne Metz von der Beneficial Insurance – unserer Haftpflichtversicherung.«
Metz streckte Fitzgerald die Hand hin. »Tut mir sehr leid, daß das passiert ist, Captain.«
Fitzgerald drückte ihm flüchtig die Hand. »Ja, uns natürlich auch.« Er wandte sich wieder an Johnson. »Noch immer keine Nachricht von der Straton?«
»Nein, seit über einer Stunde nicht mehr.« Johnson zeigte auf das Data-Link. »Ich habe meine letzte Anfrage alle drei Minuten wiederholt. Keine Antwort.«
Der Captain trat an das Gerät, riß den Papierstreifen ab, las den sich ständig wiederholenden Text und ließ den Streifen in den Auffangkorb fallen. Er wandte sich an Johnson und starrte ihn durchdringend an. »Soviel ich weiß, hatte der Pilot – dieser Berry – das Flugzeug unter Kontrolle.«
Johnson fragte sich, woher er das wissen wollte, wenn er nicht im Konferenzraum gewesen war. »Richtig, das haben wir angenommen.«
»Und die Maschine war schwer, aber nicht kritisch beschädigt.«
»Offenbar ist der Schaden doch größer gewesen, als ursprünglich anzunehmen war.« Ferro. Er hatte mit Ferro gesprochen.
»Er hat nicht gemeldet, er habe Schwierigkeiten?« erkundigte Fitzgerald sich. »Er hat kein Mayday gesendet?«
Johnson bekam Herzklopfen. Warum stellte er diese Fragen? »Die Originale der ersten Meldungen liegen dort drüben. Ich habe Fotokopien zur Flugsicherung und in unseren Konferenz-raum bringen lassen. Vielleicht beantworten sie einige Ihrer Fragen.«
Fitzgerald breitete die Fernschreiben auf der Arbeitsfläche unter der Pazifikkarte aus. Auf dem Dienstplan im Dispatcherbüro hatte er bereits nachgesehen, welche Besatzung an Bord der Straton 797 war. Stuart … McVary … Fessler … hirngeschädigt … großer Gott. Was Ferro ihm erzählt hatte, war nicht so wirkungsvoll gewesen, wie es diese Meldungen aus dem Cockpit der beschädigten Straton waren. Fitzgerald sah zu den Markierungen auf der Pazifikkarte auf. »Warum ist nicht sofort ein Pilot hergeholt worden, um ihm Anweisungen geben zu können?«
»Die Ereignisse haben sich anfangs förmlich überschlagen. Hören Sie, Captain, falls Sie noch Fragen haben, können wir sie drüben im Konferenzraum besprechen.«
Der Chefpilot ignorierte ihn und starrte Metz an. »Was haben Sie hier zu suchen?«
Metz räusperte sich verlegen. »Na ja, ich … Captain, ich wollte mich vom Versicherungsstandpunkt aus davon überzeugen, daß wir alles Menschenmögliche getan haben, um Ihre und unsere Belastung möglichst gering zu halten.« Da Fitzgerald ihn weiter anstarrte, wußte Metz, daß er weiterreden sollte. »Und Sie können sich vorstellen, Captain, wie die Rechtsanwälte der Geschädigten selbst das kleinste Versehen und die kleinste Unterlassung anprangern würden. Unsere Gesellschaft empfiehlt sogar, ihren Vertreter zu allen …«
»Ja, ich weiß.« Fitzgerald wandte sich an Johnson. »Wo ist unser Anwalt? Wo ist der Vertreter unserer Kaskoversicherung? Wo ist Abbot, der Repräsentant der Firma Straton?«
»Sie sind alle drüben im Konferenzraum, nehme ich an. Hören Sie, Kevin, ich weiß nicht, was Ihnen über die Leber gelaufen ist, aber falls Sie noch Fragen haben, können wir sie am besten im Rahmen der Besprechung beantworten.« Johnson wollte nicht, daß Fitzgerald noch länger in diesem Raum blieb, obwohl das eigentlich keine Rolle mehr spielte. »Kommen Sie, Captain. Ich muß hier zusperren.« Er bedauerte diesen Nachsatz sofort.
»Warum?«
Johnson antwortete nicht gleich. »Wir müssen alles unverändert belassen, damit die staatliche Untersuchungskommission ihre Ermittlungen aufnehmen kann.«
Fitzgerald schüttelte langsam den Kopf. »Sie müssen unser Handbuch besser lesen, Ed. Das gilt nur für die Unfallstelle.«
Johnson wurde nervös und spielte den Ungeduldigen, um seine Nervosität zu verbergen. »Gut, dann bleiben Sie meinetwegen hier. Ich muß zur Konferenz.« Er ging zur Tür.
Metz folgte ihm. Fitzgerald blieb stehen. »Augenblick!«
Johnson drehte sich um.
»Ich weiß, daß Sie nichts von der Fliegerei verstehen, aber wenn Sie ein Pilot wären, der sich über dem Meer verflogen hat und dessen einzige Verbindung zur Außenwelt zeitweise ausfällt, würden Sie nicht wollen, daß die Leute am anderen Ende die Nachrichtenzentrale verlassen, nicht wahr?« Der Chefpilot trat an das Data-Link-Gerät und schrieb einige Zeilen.
AN FLUG 52: FALLS SIE DIES EMPFANGEN – FÜRCHTEN SIE
NICHT, WIR HÄTTEN SIE IM STICH GELASSEN. DIESES GERÄT
BLEIBT STÄNDIG BESETZT, BIS SIE GEFUNDEN SIND.
SAN FRANCISCO
Fitzgerald sah zu Johnson auf. »Rufen Sie Ferro herein«, verlangte er.
Johnson erinnerte sich, Ferro nach Hause geschickt zu haben, aber jetzt sah er ihn draußen an seinem Schreibtisch sitzen. »Ferro! Hierher!«
Jack Ferro kam rasch in die Nachrichtenzentrale. Er erwiderte Johnsons Blick unerschrocken.
Der Vizepräsident deutete dieses Verhalten richtig: Jack Ferro stand unter Fitzgeralds Schutz. Aber er würde dafür sorgen, daß der Dispatcher seinen Job verlor! »Der Captain möchte Sie sprechen.«
Fitzgerald klopfte auf die Rückenlehne des Drehstuhls vor dem Data-Link. »Jack, Sie setzen sich hierher und passen auf, ob eine Nachricht eingeht. Und Sie wiederholen diesen Text alle zwei bis drei Minuten, verstanden?«
»Ja, Sir.« Ferro nahm vor dem Gerät Platz.
Johnson beobachtete, wie Ferro auf den Wiederholungsknopf drückte, um den Text des Chefpiloten erneut zu senden. Aber die Straton war abgestürzt, daran konnte niemand etwas ändern
– weder Kevin Fitzgerald noch Jack Ferro, auch kein Vizepräsident und nicht einmal der Präsident oder der Aufsichtsratsvorsitzende. Und er hatte das alles auch für sie getan – aber das würden sie nie verstehen.
Fitzgerald nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer des Konferenzraums. »Geben Sie mir bitte den Präsidenten«, sagte er zu der Sekretärin, die sich meldete.
Johnson wußte, daß man ihm anmerkte, wie unbehaglich ihm zumute war. Er holte eine Zigarre heraus, biß das Ende ab und zündete sie sich an.
Metz wäre am liebsten gegangen, aber er ahnte, daß dies ein ungünstiger Zeitpunkt gewesen wäre. Als er in seine Jackentasche griff, spürte er die zusammengefalteten Fernschreiben zwischen den Fingern. Er sah, daß Johnson ihn durch den Zigarrenqualm hindurch wütend anstarrte.
Fitzgerald telefonierte inzwischen. »Ja, Sir. Fitzgerald. Verdammt schlimme Sache … Ich bin mit Ed Johnson und Mr. Metz von der Beneficial Insurance im Dispatcherbüro … Ja, wir lassen einen Dispatcher hier, der weiterhin sendet und auf eine Meldung wartet … Gut, wir sind in zehn Minuten drüben.« Er legte auf und wandte sich an Johnson. »Um 18 Uhr soll eine Pressekonferenz stattfinden. Sie sind natürlich der
große Star. Trauen Sie sich das zu?«
»Natürlich.«
»Im VIP-Club sind die ersten Verwandten von Passagieren eingetroffen. Ich muß mit ihnen reden. Ich wollte, ich wäre so selbstbewußt wie Sie.« Er starrte Johnson mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich weiß nicht genau, was hier vorgegangen ist, aber wenn die Reporter Sie ins Kreuzverhör nehmen, erzählen Sie ihnen hoffentlich keinen Scheiß.«
»Hören Sie, was erlauben Sie sich eigentlich?«
Die beiden Männer standen sich feindselig gegenüber.
Metz verließ unauffällig die Nachrichtenzentrale und blieb verlegen mitten im Dispatcherbüro stehen.
Ferro gab vor, sich auf das Data-Link-Gerät zu konzentrieren. Er wußte, daß Fitzgeralds vorzeitiger Angriff leichtsinnig und sehr gefährlich war, und er konnte nur hoffen, daß sein eigener Verdacht, so vage er auch war, sich als begründet erweisen würde. Sonst manövrierte der Chefpilot sich jetzt in eine unhaltbare Situation hinein.
Fitzgerald brach als erster das Schweigen. »Johnson, wir bekommen noch heraus, was Flug 52 zugestoßen ist, was sich hier ereignet hat und wer fahrlässig gehandelt hat. Mir ist’s völlig egal, wie lange das dauert oder wer dabei unter die Räder kommt!«
Johnson nahm seine Zigarre aus dem Mund. »Glauben Sie etwa, daß ich die verdammte Bombe gelegt habe? Versuchen Sie lieber nicht, mir diesen Unfall anzuhängen, Captain. Ich weiß, wie man überlebt, und ich verspreche Ihnen, daß ich auch diese Krise überdauern werde.« Er wandte sich ab, verließ den Raum und atmete die bessere Luft des Dispatcherbüros tief ein. Johnson hatte bohrende Kopfschmerzen und spürte, daß seine Magennerven sich verkrampften. Er ging an Wayne Metz vorbei, ohne auf die Dispatcher zu achten, die angelegentlich in ihre Arbeit vertieft waren, und verließ das Büro durch die blaue Tür, durch die er es vor nicht allzu langer Zeit betreten hatte.
Vizeadmiral a. D. Randolf Hennings lehnte schwer auf der Reling des Seitenganges auf dem Deck O-2 der Aufbauten des Flugzeugträgers Chester W. Nimitz. Er war allein und konnte damit rechnen, in nächster Zeit nicht gestört zu werden. Sein Blick fiel auf die beiden weißen Sterne über dem anschließenden Niedergang, die ihn als Admiralstreppe kennzeichneten. Gang und Treppe durften von niedrigeren Dienstgraden nur in dienstlichem Auftrag betreten werden. Dieser für den Admiral freigehaltene Gang gehörte zu den alten Traditionen der US Navy. Hennings hatte schon immer gewußt, wie unsinnig solche Dinge waren. Sinnlose Überlieferungen. Aber er war sich auch darüber im klaren, wie sehr er sie genoß. Traditionen. Ehrenordnungen. Gelöbnisse und Diensteide. Sie alle basierten auf dem gleichen Bedürfnis und erfüllten den gleichen Zweck.
Hennings atmete langsam aus. Seine Finger glitten über die mit einem Tau umwickelte Reling. Allein die Berührung des rauhen Hanfs rief unzählige Erinnerungen wach. Der Südpazifik – oder die Südsee, wie sie damals noch hieß. Blaues Meer, Sonnenschein, Palmenstrände und junge Offiziere in Tropenuniformen. Der Krieg. Die großen Seeschlachten und Landungsunternehmen. Aber diese Erinnerungen waren jetzt befleckt. Über ihnen stand in blutroten Lettern das Wort, das der Alte jetzt unwillkürlich flüsterte: »Mord!«
Hennings stieg langsam den grauen menschenleeren Niedergang hinunter, öffnete die Tür und trat aufs Flugdeck hinaus.
Auf dem nahezu leeren Deck wehte ein mäßiger Wind. Siebzig Meter vor den Aufbauten stand die Kuriermaschine, die Hennings auf die Nimitz gebracht hatte. Sie wurde von ihren Piloten vor dem Start überprüft. Eine Ordonnanz hatte sein Gepäck aus seiner Kabine geholt und zum Einladen bereitgestellt. Hennings hatte das Gefühl, vor einer Ewigkeit auf dem Flugzeugträger gelandet zu sein. Er wandte sich ab und ging nach achtern davon.
Die Sonne stand genau achteraus, und über dem asphaltierten Flugdeck flimmerten Hitzewellen. Hennings sah einen Matrosen, der in der Nähe des hinteren Steuerbordaufzugs arbeitete, und machte einen Bogen um ihn. Er überquerte das Deck diagonal und marschierte zum Heck, wo er mit den Händen auf der Sperrkette stehenblieb. Tief unter sich sah er das weißschäumende Kielwasser des atomgetriebenen Superträgers. Senkrecht unter ihm flatterte ein riesiges Sternenbanner am Flaggstock. Das Rot, Weiß und Blau der amerikanischen Flagge hob sich wirkungsvoll vom Kielwasser ab.
Randolf Hennings dachte an seine Frau Mary. Er hatte den größten Teil ihrer 33 Ehejahre von ihr getrennt verbracht. Und da sie schon bald nach seiner Versetzung in den Ruhestand gestorben war, hatten sie eigentlich nie Zeit für die gemeinsamen Unternehmungen gehabt, die sie sich so lange vorgenommen hatten.
Er dachte an seine Freunde. Die meisten von ihnen waren bereits tot – im Krieg gefallen, an Krankheiten gestorben. Die noch lebenden Kameraden vegetierten irgendwo im Ruhestand dahin. Als Marinemann war er entwurzelt, hatte keine Heimatstadt und lebte ohne Angehörige.
Hennings war immer mehr zu der Einsicht gelangt, daß er nicht einsam, sondern auch ein Anachronismus war. Er hatte stets vermutet, die wissenschaftlichen Errungenschaften und Lösungen von heute müßten morgen auf unerwartete und unannehmbare Weise bezahlt werden. Jetzt erkannte er, daß dieses Morgen bereits da war. Und die heutige Situationsethik, wie James Sloan sie praktizierte, bewirkte oft mehr Unglück und hatte schlimmere Folgen als der starre Sittenkodex von gestern. Diese galoppierende Technikgläubigkeit ohne klare Moralbegriffe und Verantwortlichkeiten hatte den Absturz der Straton 797 verursacht. Und sie war an Leutnant Peter Matos’ Tod schuld. Hennings hatte versucht, sich den neuen Umständen anzupassen, aber er war dadurch nur an einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitschuldig geworden.
Er hörte, daß 200 Meter hinter ihm die Triebwerke des auf dem vorderen Aufzug stehenden Kurierflugzeugs angelassen wurden. Die anderen würden ihn bald suchen. Kapitän z. S. Diehl und einige seiner Offiziere würden an Deck kommen, um ihn zu verabschieden, bevor sie sich wieder wichtigeren Aufgaben zuwandten.
Randolf Hennings starrte in das schäumende Kielwasser. Er dachte an seine Kameraden, die auf See gefallen und dort bestattet worden waren. Ihr Leben war kürzer als seines gewesen, aber sie waren gestorben, bevor irgend etwas ihre Heldentaten auslöschen konnte.
Hennings glaubte, daß Meer und Land am Jüngsten Tag ihre Toten hergeben und auch ihre Geheimnisse preisgeben würden. Dann würden Menschen ihre Mörder, ihre Henker, ihre Feinde, die falsches Zeugnis gegen sie abgelegt hatten, und die anderen, deren Fahrlässigkeit oder Dummheit ihnen den Tod gebracht hatte, anklagen. Und Gott würde alle Menschen richten, wie sie es verdient hatten.
Er hörte eine Lautsprecherstimme in der Ferne seinen Namen rufen.
Randolf Hennings schlüpfte unter der Sperrkette durch und war mit wenigen Schritten an der Hinterkante des Flugdecks. Er blieb nicht erst stehen, sondern machte den nächsten Schritt ins Leere, fiel an dem Sicherheitsnetz und dem flatternden Sternenbanner vorbei und verschwand unbemerkt in dem weißschäumenden Kielwasser des Flugzeugträgers Chester W. Nimitz.