8

 

Der spürbare Druck wurde schwächer und verschwand schließlich ganz, als die Straton 797 nach der Kurve wieder in den Horizontalflug überging.

John Berry lächelte, und Sharon Crandall erwiderte sein Lächeln.

Sie klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Wir haben’s geschafft! John, das war großartig. Einfach super!«

Berry lachte geschmeichelt. »Okay. Wir fliegen also zurück. Wunderbar! Die Ruder funktionieren. Wir können Kurven fliegen.« Er grinste breit und ahnte, daß dieses Grinsen dümmlich wirkte. Es verschwand, als er an die Landung dachte, die er würde versuchen müssen. »Okay, das können wir erst einmal melden.« Er schrieb eine kurze Nachricht.

VON FLUG 52: NEUER KURS 120 GRAD. ERBITTEN WEITERE ANWEISUNGEN.

Er drückte auf den Sendeknopf.

Das Klingelzeichen, das eine Antwort ankündigte, ertönte fast augenblicklich.

AN FLUG 52: SEHR GUT GEMACHT. WEITERE ANWEISUNGEN FOLGEN. RUHE BEWAHREN. WIR TUN UNSER BESTES, UM EUCH HEIMZUHOLEN.

Berry nickte. Er las die Antwort erneut durch. »Ruhe bewahren«, wiederholte er. »Okay, ich bin ganz ruhig. Und Sie?«

Sharon Crandall nickte. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln heraus. Sehr gut gemacht. Geradezu professionell. Obwohl John Berry kaum mehr als ein Sonntagsflieger war – ein Geschäftsmann, der mehr oder weniger das Firmenflugzeug fliegen durfte –, hatte er seine erste Bewährungsprobe mit Bravour bestanden. Jedenfalls besser als sie oder Barbara. Sie merkte, daß ihr John Berry sehr sympathisch war. »Möchten Sie etwas trinken? Ein Glas Wasser? Oder etwas Stärkeres?«

»Nein, danke.«

Sharon wußte, daß in dieser Situation zweifellos außergewöhnliche Kräfte wirksam waren, die sie zu ihm hinzogen; aber sie spürte auch, daß John eine Persönlichkeit war, deren Bekanntschaft sie auch im Alltag gern gemacht hätte. »Ich rufe jetzt Barbara.«

»Sie müßte schon auf dem Rückweg sein. Versuchen Sie’s mit einer der näheren Sektionen.«

»Okay.«

Sie schaltete auf die mittlere Sektion um und drückte auf den Rufknopf.

Yoshiro meldete sich nicht.

Sie rief sämtliche Sektionen – auch die Bordküche im Unterdeck.

Berry drehte sich nach dem Salon um. »Harold! Rufen Sie bitte Barbara!«

Stein rief ihren Namen nach unten. Er richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf.

John Berry griff nach dem Mikrophon der Bordsprechanlage, legte es dann aber wieder weg. »Nein, das regt sie nur auf.« Er bemühte sich, seine Ungeduld nicht direkt zu zeigen. »Wahrscheinlich ist sie gerade zwischen zwei Sektionen. Oder im Aufzug nach oben. Wir müssen warten.« Er sah zu Sharon hinüber, bevor er wieder nach vorn durch die Windschutzscheibe blickte. Wenn sie ein bißchen älter wäre … Aber warum dachte er ausgerechnet jetzt darüber nach? Eigenartig, daß der Mensch dazu neigt, in Lebenslagen, in denen das Ende in Sicht ist, langfristige Pläne zu schmieden. Sein Vater hatte in jenem Winter, in dem er an Krebs gestorben war, Pläne für die Frühjahrsarbeit im Garten gemacht. »Was haben Sie für die Zukunft vor, Sharon? Wollen Sie weiterfliegen?«

Sie nickte lächelnd. »Als erstes mache ich eine Woche Urlaub, John – vielleicht sogar zwei Wochen.« Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. »Und danach will ich weitermachen wie bisher. Nach einem schlimmen Erlebnis muß man einfach weiterfliegen, sonst versucht man sein Leben lang, Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen.« Sharon zog die Augenbrauen hoch. »Und was ist mit Ihnen? Wollen Sie in Zukunft nicht

mehr mit Ihrem kleinen Firmenflugzeug fliegen?«

»Mit der Skymaster? Doch, doch, natürlich fliege ich weiter!«

»Gut.« Sie zögerte, beugte sich dann zu ihm hinüber und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Trauen Sie sich zu, diese Maschine zu landen?«

Berry betrachtete sie nachdenklich. Ihr Lächeln und die Bewegung ihres Körpers waren eindeutig und hatten kaum etwas mit dieser Frage zu tun. Trotzdem wirkte ihre Geste keineswegs herausfordernd. Sie war nur ein freundschaftliches, ehrliches Angebot. Vielleicht erreichten sie in einigen Stunden lebend amerikanischen Boden. Vielleicht fanden sie dabei – was wahrscheinlicher war – den Tod. »Sie helfen mir. Gemeinsam können wir die Maschine landen. Was bleibt uns anderes übrig?« Er lächelte verlegen, weil ihre Hand noch immer auf seinem Arm lag.

Sharon Crandall richtete sich auf. Sie gab keine Antwort auf seine ohnehin nur rhetorisch gemeinte Frage. Statt dessen starrte sie aus dem Seitenfenster und dachte kurz an ihren letzten Liebhaber. Leere und Langweile. Sex und Fernsehen. Wenn sie sich ehrlich Rechenschaft ablegte, hatte es keine Gemeinsamkeiten gegeben, und die Trennung hatte keine Lücke in ihrem Leben hinterlassen. Trotzdem war sie einsam.

»Sollen wir von jedem von uns eine Nachricht übermitteln?« schlug sie vor. Doch schon im nächsten Augenblick fragte sie sich, wem sie eine Nachricht schicken sollte. Wahrscheinlich ihrer Mutter.

Berry schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre ein bißchen … melodramatisch«, meinte er. »Finden Sie nicht auch? Etwas zu endgültig. Wir haben noch Zeit. Später kann ich für jeden von uns eine Nachricht übermitteln. An wen möchten Sie Ihre …?«

»Ihre Frau ist bestimmt außer sich vor Angst um Sie.«

Berry hätte mehrere Antworten parat gehabt. Meine Lebensversicherung ist bezahlt. Das dürfte ihre Angst mildern. Oder: Jennifer ist zuletzt außer sich gewesen, als sie ihre Kreditkarte bei Bloomingdale’s verloren hat. Er sagte jedoch: »Ich bin davon überzeugt, daß die Fluggesellschaft alle auf dem laufenden hält.«

»Ja, natürlich.« Sie wechselte abrupt das Thema. »Sie haben die Maschine ziemlich gut in der Hand«, stellte sie fest. »Die Ruder funktionieren einwandfrei. Und wir haben noch fast die Hälfte unseres Treibstoffs.« Sie deutete auf die Treibstoffanzeiger.

»Richtig«, bestätigte Berry. Er erinnerte sich daran, daß er Sharon erst vor zehn Minuten auf diese Tatsache aufmerksam gemacht hatte. »Der Treibstoff müßte reichen.« Aber er wußte, daß der Treibstoffverbrauch bei Gegenwind oder schlechtem Wetter in die Höhe schnellen konnte. Und was die Ruder betraf, so hatte er bisher nur eine Rechtskurve geflogen. Er hatte keine Ahnung, ob auch die Höhenruder einwandfrei funktionierten.

»Captain Stuart hat mir erklärt«, fuhr Crandall fort, »solange Ruder und Triebwerke funktionierten, sei kein Flugzeug verloren.«

»Ja, das stimmt«, antwortete Berry. Da sie Stuart erwähnt hatte, drehte er sich um und warf einen Blick in den Salon. Die beiden Piloten lagen noch immer bewegungslos auf dem blauen Teppich in der Nähe des Klaviers. Berry kontrollierte die Instrumente und den Autopiloten der Straton 797. Alles schien in Ordnung zu sein. Er stand auf. »Ich will mich nur kurz im Salon umsehen.«

»Okay.«

»Beobachten Sie bitte die Instrumente so gut Sie können. Rufen Sie mich, sobald sich irgendwas ändert.«

»Natürlich!«

»Falls die Data-Link-Klingel …«

»Dann rufe ich Sie.«

»Okay. Und behalten Sie den Autopiloten im Auge.« Er beugte sich über ihren Sitz und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Mit der linken Hand zeigte er auf ein Signallämpchen. »Sehen Sie dieses Warnlicht?«

»Ja.«

»Wenn es gelb leuchtet, ist der Autopilot ausgeschaltet«, erklärte Berry ihr. »Dann rufen Sie mich sofort!«

»Verstanden«, bestätigte sie lächelnd.

Berry richtete sich auf. »Okay. Bin gleich wieder zurück.« Er wandte sich ab und verließ das Cockpit.

Die Stewardess Terri O’Neil irrte ziellos durch den Salon. Das gefiel Berry nicht. Die aparte Frau auf der hufeisenförmigen Couch hatte inzwischen ihren Anschnallgurt gelöst und starrte aus einem der Fenster. Die anderen Passagiere – drei Männer und eine Frau – saßen weiter auf ihren Plätzen und machten unkoordinierte, spastische Bewegungen mit den Armen. Einer der Männer hatte seinen Gurt ebenfalls geöffnet und wollte immer wieder aufstehen. Aber er verlor jedesmal das Gleichgewicht und sank zurück.

Berry erkannte, daß Barbara Yoshiro recht gehabt hatte: Den Passagieren ging es allmählich besser – körperlich. Auch geistig wurden sie regsamer, neugieriger. Sie begannen zu denken, aber sie dachten nichts Gutes. Sie hatten schlimme Gedanken, gefährliche Gedanken …

Terri O’Neil näherte sich der Cockpittür. Berry vertrat ihr rasch den Weg, legte ihr beide Hände auf die Schultern und drehte sie um. Terri schüttelte seine Hände unwillig ab; sie sagte etwas, das vorwurfsvoll klang, aber ihre Worte blieben unverständlich. Berry fühlte sich an seine Tochter erinnert, als sie gut ein Jahr war. Er wartete, bis die Stewardess sich vom Cockpit entfernt hatte, bevor er zu Stein hinüberging, der am Treppengeländer lehnte. Stein schien nicht zu registrieren, daß Berry neben ihm stand, sondern starrte weiter nach unten.

»Wie sieht’s aus?« fragte Berry.

Stein zeigte wortlos nach unten.

Berry beugte sich übers Geländer. Eine größere Gruppe, zu der auch mehrere Frauen gehörten, drängte sich auf den unteren Treppenstufen zusammen. Einige von ihnen zeigten auf ihn. Jemand rief etwas Unverständliches, eine Frau lachte schrill.

Im Hintergrund schienen Kinder zu weinen. Ein Mann drängte sich nach vorn, sprach Berry direkt an und war bemüht, sich ihm verständlich zu machen. Schließlich wurde der Mann frustriert und begann zu schreien.

Die Frau lachte wieder.

John Berry trat vom Geländer zurück und sah zu Linda Farley hinüber. Sie stand von der Klavierbank auf und kam einige Schritte auf ihn zu. »Bleib lieber, wo du bist, Linda«, forderte er sie auf.

Stein nickte zustimmend. »Ich habe ihr gesagt, daß sie von der Treppe wegbleiben soll. Das hier …« Seine Handbewegung umfaßte den großen Salon. »Das hier ist allerdings nicht viel besser.«

Berry wandte sich an die Kleine. »Was gibt’s, Linda?«

Sie zögerte. »Ich hab’ Hunger, Mr. Berry. Kann ich was zu essen kriegen?«

Berry lächelte aufmunternd. »Hmmm, wie wär’s mit ’ner Cola?«

»Ich hab’ schon nachgesehen.« Sie zeigte auf die Bar. »Dort ist nichts mehr.«

»Hör zu, ich glaube nicht, daß hier oben was Eßbares aufzutreiben ist. Kannst du’s noch ein paar Stunden aushalten?«

Linda machte ein enttäuschtes Gesicht. Aber sie nickte tapfer.

»Wie geht’s den beiden Männern?«

»Nicht viel anders.«

»Okay. Ich verlasse mich darauf, daß du dich um sie kümmerst.«

Linda Farley lernte die schlimmen Seiten des Lebens mit geballter Wucht kennen. Hunger, Durst, Erschöpfung, Angst, Tod. »Du mußt nur noch ein bißchen länger aushalten, Kleines. Wir sind bald zu Hause.« Berry wandte sich ab. Auch er war hungrig und durstig. Und wenn er und Linda Farley Hunger und Durst hatten, mußte es vielen der Menschen dort unten ähnlich ergehen. Er fragte sich, ob sie dadurch zu aggressiven Handlungen angestachelt werden würden.

»Runter!« rief Stein laut. »Verschwinde!« Berry war mit einigen großen Schritten wieder an der Treppe. Ein Mann befand sich auf halber Höhe.

Stein angelte eine Münze aus der Hosentasche und warf sie dem Mann ins Gesicht.

»Zurück! Runter mit dir!«

Der Mann wich eine Stufe tiefer zurück.

Stein wandte sich an Berry. »Haben Sie irgendwas bei sich, das ich werfen kann?«

Berry gab ihm eine Handvoll Kleingeld und sein Feuerzeug. »Die Sache gefällt mir nicht, Harold.«

Der andere nickte. »Mir auch nicht.«

Berry sah sich im Salon um. »Wie benehmen die Leute sich hier oben?«

»Unberechenbar. Sie machen mich nervös. Zu nahe.«

Terri O’Neil setzte ihren Rundgang schwankend fort und kam wieder in die Nähe der Cockpittür. Berry beobachtete sie und wünschte sich, er könnte die beschädigte Tür schließen und absperren. Die Stewardess blieb zwei Schritte von der Tür entfernt stehen, starrte ins Cockpit und fixierte Sharon Crandall, die ihre Gegenwart nicht wahrzunehmen schien. Berry sah wieder zu Stein hinüber. »Aus Vorsichtsgründen sollten wir diesen Leuten helfen, nach unten zu kommen.«

Stein nickte zustimmend. »Ja, aber ich möchte meine Familie raufholen.«

John Berry schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen, Harold! Das wäre außerdem nicht fair.« Er wünschte sich, Stein würde die Dinge akzeptieren, wie sie nun einmal standen, aber dieser Wunsch würde sich wohl nicht erfüllen.

»Fair? Was hat das mit fair oder unfair zu tun? Ich rede von meiner Familie, verstehen Sie? Wer hat Ihnen überhaupt das Recht gegeben, hier Befehle zu erteilen?«

»Mr. Stein, Sie können Ihre Angehörigen nicht heraufholen. Das wäre viel zu riskant.«

»Warum?«

»Das könnte eine Kettenreaktion auslösen«, stellte Berry fest. »Vielleicht würden dann alle nach oben drängen. Im Salon können wir keine Leute mehr brauchen. Wir müßten damit rechnen, daß sie ins Cockpit kommen und dort stören oder …«

»Auf meine Familie passe ich selbst auf!« unterbrach Stein ihn energisch. »Meine Frau und meine beiden kleinen Mädchen … Debbie und Susan … sie wären niemand im Weg …« Er senkte den Kopf und verbarg sein Gesicht in den Händen.

Berry wartete einige Zeit. Dann legte er Stein eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, aber im Augenblick können wir wirklich nichts für sie tun.«

Stein hob den Kopf. »Weder jetzt noch später?«

»Ich bin kein Arzt, Harold«, antwortete Berry ausweichend. »Ich kann ihren Zustand nicht beurteilen.«

»Wirklich nicht?« Stein machte Anstalten, die Treppe hinabzusteigen. »Aber ich kann jetzt etwas für sie tun. Ich kann sie von den anderen wegholen. Sie sollen nicht …« Er sah die Wendeltreppe hinunter. »Ich will nicht, daß sie dort unten bleiben. Sehen Sie nicht, wie’s dort zugeht? Sehen Sie’s wirklich nicht?«

Berry hielt ihn am Arm fest. Er nickte widerstrebend. »Okay, Harold, schon gut. Sobald Barbara zurück ist, schaffen wir diese Leute in die Kabine hinunter. Dann können Sie Ihre Familie heraufholen. Einverstanden?«

Stein ließ sich von Berry zurückziehen. »Gut, ich warte«, sagte er.

»Mr. Berry?« rief Linda Farley.

Er ging rasch zu der Kleinen, die neben Stuart und McVary kniete. »Was gibt’s?«

»Dieser Mann hat die Augen geöffnet.« Sie zeigte auf den Captain.

Berry kniete ebenfalls nieder und sah Stuart in die weit aufgerissenen Augen. Nach einigen Sekunden schloß er Stuart die Lider und zog ihm die Decke übers Gesicht.

»Ist er tot?«

»Ja«, sagte Berry.

»Müssen alle sterben?« fragte Linda.

»Nein.«

»Muß meine Mutter auch sterben?«

»Nein. Sie erholt sich bestimmt wieder.«

»Kann sie, wie Mr. Steins Familie, hier raufkommen?«

Berry war davon überzeugt, daß Linda Farleys Mutter tot in der Nähe eines der Löcher lag oder aus der Maschine gerissen worden war. Aber selbst wenn sie noch lebte … »Nein«, antwortete er, »sie kann nicht raufkommen.«

»Warum nicht?«

Er stand auf und wandte sich ab, um einen Augenblick Zeit zu gewinnen. »Du mußt Vertrauen zu mir haben«, sagte er dann. »Okay, Linda? Du mußt mir einfach vertrauen und einfach tun, was ich sage.«

Die Kleine lehnte sich mit dem Rücken ans Klavier. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen. »Ich will meine Mami.«

Berry beugte sich über sie und strich ihr übers Haar. »Ja, ich weiß, ich weiß.« Er richtete sich auf. So etwas lag ihm nicht. Trauerfälle machten ihn unbeholfen und sprachlos. Er fand nie die richtigen Worte und war nie imstande, andere zu trösten. Berry wandte sich ab und ging zum Cockpit zurück. Er faßte Terri O’Neil bei den Schultern und schob sie energisch von der offenen Tür fort.

Der Glanz seiner technischen Triumphe verblaßte angesichts der vielen persönlichen Tragödien in seiner Umgebung rasch.

Berry betrat das Cockpit. Sharon Crandall telefonierte gerade. »Augenblick, Barbara. John kommt eben zurück.« Sie sah zu Berry auf. »Bei ihr ist alles in Ordnung. Wie sieht’s im Salon aus?«

Er ließ sich in seinen Sitz fallen. »Okay.« Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Der Captain ist tot. Und die Passagiere werden ein bißchen … lästig.«

Crandall hatte gespürt, daß er schlechte Nachrichten mitbrachte. »Der Ärmste!« sagte sie bedauernd. Aber ihr Mitleid galt nicht nur Captain Stuart – es galt auch ihnen selbst. Der Tod des Captains schien ein schlechtes Omen zu sein.

»Sharon?«

Sie hob ruckartig den Kopf. »Schon gut, John. Hier! Barbara will mit dir über irgendwelche Drähte reden.«

Berry ließ sich den Hörer geben. »Barbara? Was ist los? Wo sind Sie?«

»Auf der mittleren Sektion.« Ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, und die Wind- und Triebwerksgeräusche waren lauter. »In der Nähe des größeren Lochs hängt ein ganzes Bündel Drähte von der Decke herunter. Mehrere Fluggäste haben sie gestreift, ohne daß etwas passiert wäre. Sie sind offenbar nicht unter Strom.«

John Berry überlegte. Alles an Bord schien zu funktionieren – nur die Funkgeräte nicht. Das mochte mit diesen Drähten zusammenhängen. Ansonsten konnten sie nur hoffen, daß die Drähte nichts mit der Steuerung zu tun hatten. »Vielleicht sind das Antennendrähte.« Die Funkantennen eines Überschallflugzeugs waren logischerweise in einem widerstandsarmen Bereich am Flugzeugheck angebracht. Das Data-Link sendete und empfing vermutlich über eine im Rumpfbug untergebrachte Tellerantenne. Deswegen funktionierte es, während die Funkgeräte ausgefallen waren.

»Soll ich versuchen, sie wieder zu verbinden?«

Er lächelte unwillkürlich. In einem technischen Zeitalter war jedermann ein Techniker. Aber Barbaras Vorschlag bewies immerhin Mut. »Nein. Ohne Werkzeug ist da nichts zu machen

– und es würde ohnehin zu lange dauern.« Falls diese Drähte doch etwas mit der Steuerung zu tun hatten, würde er später selbst versuchen müssen, sie zu spleißen. »Die Drähte sind nicht weiter wichtig.« Aber Barbara Yoshiro konnte ihm vielleicht helfen, die Unglücksursache zu enträtseln. »Hören Sie, Barbara, haben Sie irgendwo Anzeichen einer Explosion gesehen? Verbrannte Sitze? Angeschmolzenes Metall? Irgend etwas in dieser Richtung?«

Sie antwortete nicht gleich. »Nein, eigentlich nicht«, sagte sie zögernd. Nach einer weiteren Pause fügte sie hinzu: »Eigenartigerweise läßt hier nichts auf eine Explosion schließen – nur die Löcher im Rumpf und der Zustand der Kabine.«

Das bestätigte Berrys Eindruck. Hätten die Löcher sich oben und unten im Rumpf befunden, hätte er vermutet, die Straton sei von einem Meteoriten getroffen worden. Er wußte natürlich, daß die Wahrscheinlichkeit dafür selbst in 62 000 Fuß Höhe verschwindend klein war. Konnte ein Meteorit waagrecht fliegen? Das hielt Berry für unwahrscheinlich. Sollte er seine Überlegungen nach San Francisco weitermelden? Waren sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt wichtig?

»Barbara, wie verhalten sich die Passagiere?«

»Ungefähr die Hälfte ist noch ziemlich ruhig. Aber einige der anderen sind in den Gängen unterwegs. Teilweise ist es zu Schlägereien gekommen.«

Berry fand, ihre Stimme klinge kühl und unbeteiligt wie die einer guten Reporterin. »Nehmen Sie sich in acht. Kommen Sie langsam nach vorn. Vermeiden Sie abrupte Bewegungen.«

»Ja, ich weiß.« »Am Fuß der Wendeltreppe hat sich eine Gruppe von Fluggä

sten zusammengerottet.«

»Von hier aus ist die Treppe nicht zu erkennen, aber ich sehe Leute auf beiden Seiten der vorderen Sanitärzelle und der Bordküche.«

»Rufen Sie mich an, sobald Sie die vordere Station erreicht haben. Oder rufen Sie nach Stein. Einer von uns beiden holt Sie dann herauf.«

»Okay.«

»Seien Sie ja vorsichtig! Hier ist wieder Sharon.«

Barbara Yoshiro hatte keine Lust, noch länger mit ihrer Kollegin zu reden. Als sie von der mittleren Station aus einen Blick in die Kabine warf, stellte sie fest, daß die Passagiere sich unerfreulich stark für sie interessierten. Die Station war eine Sackgasse, während Yoshiro diesen Leuten nur durch ihre Beweglichkeit überlegen war.

»Barbara?«

»Ja, ich komme jetzt zurück.«

»Ist’s sehr schlimm? Soll ich runterkommen?«

»Nein, nein.« Sie bemühte sich, leichthin zu sprechen. »Ich bin lange genug Stewardess gewesen, um zu wissen, wie man grapschenden Händen entgeht.« Barbara merkte, wie verkrampft das klang, und fügte rasch hinzu: »Sie beachten mich kaum. Ich bin in ein paar Minuten wieder oben.« Sie hängte ein, trat in den Gang hinaus, blieb mit dem Rücken an die Sanitärzelle gelehnt stehen und blickte nach vorn. Dann bewegte sie den Kopf, bis sie nach hinten zum Heck sah.

Die dünnen Trennwände im Inneren der Straton 797 waren bei dem schlagartigen Druckabfall herausgerissen worden, so daß der 60 Meter lange Flugzeugrumpf nur noch durch die drei Küchen- und Sanitärblocks unterteilt wurde. Diese drei quadratischen Zellen aus blauem Plastikmaterial ragten auf der Mittelachse der Kabine zwischen Boden und Decke auf – eine im Heck, eine in der Mitte, wo Yoshiro stand, und eine in der Ersten Klasse, die ihr die Sicht auf die Treppe versperrte.

Überall hingen Sauerstoffmasken, aus ihren Führungen gerissene Sitze und abgerissene Teile der Wand- und Deckenverkleidung. In 20 Metern Entfernung – etwa auf halber Strecke zwischen der mittleren Station und der Ersten Klasse – waren die beiden Bombenlöcher zu erkennen – falls es tatsächlich welche waren.

Barbara Yoshiro studierte die beiden möglichen Fluchtwege, die sich ihr boten. Sie spielte sekundenlang mit der Idee, einfach zu bleiben, wo sie war, kam aber rasch wieder davon ab. Die Anziehungskraft des Cockpits war zu groß.

Keine der beiden Routen war ideal. Der linke Gang, den Yoshiro zuvor benützt hatte, war jetzt voller drängelnder und schiebender Passagiere. Der rechte Gang war im Vergleich dazu fast menschenleer, aber dort lagen erheblich mehr Wrack-teile. Außerdem führte er sehr nah an dem größeren der beiden Löcher im Rumpf vorbei. Selbst von ihrem Platz aus konnte sie die Tragflächenvorderkante und den blauen Pazifik sehen. Am besten benützte sie zuerst den rechten Gang und wechselte dann nach links über, bevor sie die Engstelle zwischen denLöchern erreichte. Während sie diese Überlegungen anstellte, fiel ihr nicht auf, daß ein in ihrer Nähe im Gang stehender junger Mann sie unverwandt beobachtete.

Barbara holte tief Luft und setzte sich zögernd in Bewegung. Sie sah sich nach allen Seiten um, während sie langsam weiterging. Etwa 100 Männer und Frauen saßen noch auf ihren Plätzen und blockierten die Übergänge zwischen dem linken und dem rechten Gang. Ungefähr gleich viele Fluggäste standen einzeln oder in Gruppen in den beiden Gängen, die dadurch praktisch unpassierbar wurden. Manche irrten ziellos durch die Gänge, stießen mit anderen Passagieren zusammen, fielen in Sitze, rappelten sich auf und schwankten weiter. Alle schwatzten, stöhnten oder jammerten durcheinander. Wenn sie still gewesen wären, hätte man sie vielleicht ignorieren können.

Barbara merkte, daß sie sich nicht nur durch ihre Gesichter und ihre tierischen Laute, sondern auch durch ihre Kleidung verrieten. Ihre eleganten Anzüge und Kleider waren zerfetzt; viele Passagiere waren halbnackt.

Yoshiro sah, daß einige Passagiere durch die Explosion verletzt waren. Nun wurde ihr klar, daß sie diese Menschen nicht als einzelne Verletzte, sondern als großes amorphes Wesen von grauer Farbe und mit vielen schwarzen Augen betrachtet hatte. Sie sah jetzt eine Frau mit weit eingerissenem Ohr und einen Mann, dem zwei Finger der rechten Hand fehlten. Ein kleines Mädchen berührte eine tiefe Fleischwunde an seinem Oberschenkel. Es weinte dabei. Yoshiro erkannte, daß diese Menschen nur mehr für Schmerz empfindlich waren. Aber warum spürten sie ihn noch, wenn sie nichts anderes mehr empfanden? Weshalb war ihr Schmerzgefühl nicht ebenfalls abgestorben, um ihnen diese Agonie zu ersparen?

Vor ihr im Gang lag ein zusammengekrümmter Toter: Jeff Price, der Steward. Wo waren ihre Kolleginnen? Barbara hielt nach der vertrauten hellblauen Uniform Ausschau.

In dem schräg in die Kabine fallenden Sonnenschein kniete eine bewegungslose Gestalt, in der sie eine ihrer Kolleginnen erkannte. Die junge Frau kehrte ihr zwar den Rücken zu, aber Yoshiro sah an dem langen schwarzen Haar, daß dort Mary Santoro kniete. Die Stewardess schien nichts um sich herum wahrzunehmen: Sie achtete weder auf die Menschen, die über sie hinwegstolperten, noch auf den Wind, der ihr die Haare ins Gesicht wehte. Barbara erinnerte sich, daß Mary angerufen und gefragt hatte, ob sie unten in der Küche helfen solle. Aber Sharon hatte geantwortet: Nein, vielen Dank, Mary. Barbara und ich sind fast fertig. Wir kommen in einer Minute hinauf. Tatsächlich hatte das noch fast fünf Minuten gedauert. Wären sie schon nach einer Minute hinaufgefahren … Barbara war ihrem Schicksal für diese Verzögerung dankbar. Sie ließ Mary Santoro knien und wollte weitergehen.

Jemand tauchte hinter ihr auf und hielt sie an der Schulter fest. Yoshiro erstarrte und trat langsam zur Seite. Ein etwa 18jähriger junger Mann stolperte an ihr vorbei. Der Mann in dem Sessel, an dem sie lehnte, bekam ihr rechtes Handgelenk zu fassen. Sie machte sich behutsam frei, ging langsam weiter und spürte, daß ihr Herz bis zum Hals schlug.

Yoshiro näherte sich dem Bereich zwischen den beiden gähnenden Löchern, wechselte in den linken Gang über und kam dort langsamer voran. Passagiere krochen und stolperten über ein Gewirr aus Wrackteilen und gräßlich verstümmelten Leichen. Barbara verfolgte entsetzt und fasziniert zugleich, wie eine Frau auf das große Loch zuwankte, sich kurz an den herabhängenden Drähten festhielt und dann ins Leere hinaustrat. Sie sah die Frau an den Kabinenfenstern vorbeifliegen.

Die Japanerin war zu verblüfft, um auch nur aufzuschreien. Hatte diese Frau Selbstmord begangen? Das bezweifelte sie. Dafür schienen die Passagiere nicht mehr bewußt genug zu sein. Yoshiros Verdacht bestätigte sich, als jetzt ein alter Mann auf das Loch im Flugzeugrumpf zukroch. Als er sich ihm näherte, ohne die drohende Gefahr zu begreifen, wurde er vom Luftstrom erfaßt und nach draußen gerissen. Sie wandte sich abrupt ab und sah den Gang hinunter nach vorn, wo die Sicherheit des Cockpits lockte. Barbara wußte, daß sie sich beeilen mußte.

Yoshiro war mit wenigen Schritten an der Stelle, wo der mit Wrackteilen übersäte Teil des Ganges begann. Sie stieg vorsichtig über die auf dem Boden liegenden, verkrümmten Gestalten hinweg. Kaum 15 Meter vor ihr ragte der blaue Küchen- und Sanitärblock auf, hinter dem die Wendeltreppe begann.

Menschen rempelten sie an und stießen sie grob zur Seite, wenn sie nicht rechtzeitig auswich. Dabei stießen sie tierische Laute aus. Ihre Stimmen vereinigten sich aus irgendeinem Grund plötzlich zu einem schrillen Crescendo quietschender, heulender, kreischender und blökender Stimmen, das ebenso rasch wieder abflaute. Wenig später löste irgend etwas ein neuerliches Anschwellen aus, und der Zyklus begann wieder. Barbara spürte, daß ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief.

Sie zwang sich dazu, die Gesichter der Männer und Frauen um sie herum zu betrachten, um zu erkennen, ob sie sich irgendwie untereinander verständigten, damit sie sich entsprechend verhalten konnte. Aber die meisten Gesichter waren völlig ausdruckslos. Ohne Emotionen, ohne Interesse, ohne Menschlichkeit und letztendlich ohne Seele. Der Lebensfunke war so sicher erloschen, als hätten sie sich alle an den Teufel verkauft. Yoshiro hätte es sich eher zugetraut, den Gesichtsausdruck eines Affen zu deuten, als zu beurteilen, was hinter den Fratzen dieser hohläugigen, sabbernden ehemaligen Menschen vorging.

Einige wenige schienen sich jedoch einen Rest Intelligenz bewahrt zu haben. Zu ihnen gehörte ein junger Mann, der drüben im rechten Gang mit ihr Schritt gehalten hatte. Jetzt stand er in der Nähe des großen Loches. Barbara sah, wie er einen Blick ins Freie warf, von dem Loch zurücktrat und sich mit Gewalt einen Weg durch die Leute bahnte, die zwischen ihm und dem linken Gang standen. Er schien genau auf sie zuzukommen.

Barbara Yoshiro rannte nach vorn. Sie stolperte über Tote und die aus ihren Verankerungen gerissenen Sitze, konnte den Sturz nicht abfangen und fiel hin. Der Boden zwischen den beiden Löchern war beschädigt und hing leicht durch. Ihr Arm verschwand bis zum Ellbogen in einem Spalt, den der Teppichboden verdeckte. Barbara riß ihn zurück und schnitt sich dabei das Handgelenk an einer scharfen Metallkante auf. Die Wunde blutete heftig. Yoshiro kam schwankend auf die Beine. Der junge Mann in dem blauen Blazer, der sie verfolgt hatte, streckte die Hände nach ihr aus.

George Yates war normalerweise ein freundlicher, sportlicher junger Mann, der als Reiter, Surfer, Taucher und Tennisspieler durchtrainiert war. Aus verschiedenen physiologischen Gründen hatte der schlagartige Druckabfall seine motorischen Körperfunktionen nur unwesentlich beeinträchtigt. Aber der Sauerstoffmangel hatte den in 24 Lebensjahren kultivierten und zivilisierten Teil seiner Psyche ausgelöscht, den Yates als seinÜber-Ich bezeichnet hätte. Auch sein Ich war beeinträchtigt, aber es funktionierte noch teilweise. So waren das Genußzentrum seines Gehirns, seine impulsiven Triebe, seine instinktive Energie und die niedrigsten Regungen seiner Psyche beherrschend geworden.

Ursprünglich hatten ihn nur Barbara Yoshiros Bewegungen auf sie aufmerksam gemacht. Als er sich darauf konzentriert hatte, hatten die ersten vagen Eindrücke sich zu einer bestimmten Vorstellung verdichtet. Dort bewegte sich eine Frau.

Bruchstückhafte Erinnerungen drängten an die Oberfläche seines Bewußtseins: Yates erkannte in diesem Wesen etwas, das er begehrte. Obwohl er kaum noch etwas davon wußte, hatte er in den letzten Augenblicken vor der Katastrophe von den Frauen in hellblauen Uniformen geträumt. Er erinnerte sich schemenhaft an die Frau mit den langen schwarzen Haaren, die ihn erregt hatte. Sie erregte ihn auch jetzt. Er griff nach ihr.

Barbara Yoshiro wich seinen Händen aus. Sie hastete weiter, stolperte, rappelte sich wieder auf und sah die blaue Wand des vorderen Küchen- und Sanitärblocks vor sich. Dann schob sie sich mit dem Rücken zur Wand nach vorn zu der Ecke, hinter der die Wendeltreppe lag.

Einzelne Gestalten kamen mit ausgestreckten Händen auf Barbara zu. Sie schlug einer Frau mit der Faust ins Gesicht, so daß die anderen in der Gruppe hinter ihr zurücktaumelten.

Barbara erkannte sofort, daß sie das nicht hätte tun sollen.

Aus allen Teilen der Maschine näherten sich Passagiere diesem neuen Brennpunkt des Geschehens. Manche kamen aus Neugier, andere wurden mitgezogen, ohne es recht zu merken, und wieder andere wollten einer vermeintlichen Gefahr – Barbara Yoshiro – entgegentreten.

Sie arbeitete sich bis zur Ecke des Küchen- und Sanitärblocks vor und hatte nun die Wendeltreppe in weniger als zehn Metern Entfernung vor sich. Aber auf den unteren Stufen drängten sich Menschen zusammen, und in den Gängen zwischen den Sitz-reihen der Ersten Klasse war ebenfalls kaum mehr Platz. Barbara fühlte sich immer bedrohlicher eingeengt. Hände griffen nach ihr, aber sie konnte sie vorläufig noch abwehren. Ein Jugendlicher bekam ihre Bluse zu fassen und zerrte daran. Der dünne Baumwollstoff zerriß und ließ ihre Schulter sehen. Eine andere Hand riß die Bluse am Ausschnitt auf. Barbara stieß unwillkürlich einen Schrei aus, als jemand sie an den Haaren zog. Der junge Mann, der so normal wirkte, tauchte im Hintergrund der sie bedrängenden Gruppe auf und bahnte sich unaufhaltsam seinen Weg nach vorn. Sie holte tief Luft und kreischte: »Hilfe! Helft mir doch!«

Aber ihre Stimme ging in Windgeräuschen, dem Triebwerks-lärm und dem aufgeregten Geschrei um sie herum unter. Über 100 Männer und Frauen schienen sich in dem Dschungel, zu dem die Kabine der Straton 797 jetzt geworden war, an Stimmkraft überbieten zu wollen. Barbara rief erneut um Hilfe, aber sie wußte, daß ihre Schreie untergingen.

Barbara behielt die Wand im Rücken, während sie sich langsam näher an die Wendeltreppe heranarbeitete. Die dichtgedrängte Menge interessierte sich kaum für sie, und Yoshiro stellte fest, daß sie einigermaßen gut vorankam, solange sie zwischen aggressivem und passivem Verhalten wechselte. Der junge Mann in dem blauen Blazer war jedoch weiterhin zielbewußt zu ihr unterwegs.

Sie erreichte die vordere Ecke des Küchen- und Sanitärblocks, die der Wendeltreppe am nächsten war. Dort standen die Menschen so dichtgedrängt, daß Barbara kaum noch vorankam. Sie rief erneut nach oben, aber die anderen schrien so laut durcheinander, daß sie nicht einmal ihre eigene Stimme hörte. Sie sah, daß die Passagiere einige Stufen weiter nach oben vorgedrungen waren. Ein Mann torkelte die letzten Stufen hinauf und schien im Salon zu verschwinden. Sekunden später flog er jedoch rückwärts die Treppe hinunter und riß die hinter ihm Stehenden mit. Mr. Stein verteidigte die Treppe offenbar weiterhin gut. Aber er konnte Barbara nicht hören – und hätte ihr nicht zu Hilfe kommen können, selbst wenn er sie gehört hätte.

Yoshiro überlegte, welche Möglichkeiten ihr blieben. Sie hätte sich totstellen können, aber das war wegen der vielen Leute in unmittelbarer Nähe schlecht möglich, und sie hätte auch nicht mehr die Nerven dazu gehabt. Barbara merkte, daß die Menge es nicht mehr auf sie abgesehen hatte, aber die zunehmende Gewalttätigkeit, die sie um sich herum beobachten konnte, machte den Aufenthalt in der Kabine zu gefährlich. Sie war sich darüber im klaren, daß ihre einzige Chance darin bestand, den Aufzug zu erreichen und in die Bordküche auf dem Unterdeck hinunterzufahren. Dort war sie in Sicherheit und konnte sich übers Bordtelefon bei Sharon melden. Mit diesem erreichbaren Ziel vor Augen wurde sie wieder ruhiger und bahnte sich energischer einen Weg durch die Menge. Dabei spürte sie, daß ihr schwindlig wurde und daß sie ungewohnt rasch ermüdete. Sie sah nach unten. Die Schnittwunde an ihrem rechten Handgelenk blutete noch immer stark. Barbara versuchte die Ader mit der linken Hand abzudrücken, während sie sich die Wand entlang zur nächsten Ecke weiterschob. Sie erreichte diese Ecke und war dann in Richtung Heck unterwegs. Den jungen Mann in dem blauen Blazer hatte sie aus den Augen verloren.

Ihr Rücken glitt mühelos die Plastikwand entlang, und ihre Hand tastete nach dem Kücheneingang. Der Aufzug. Muß den Aufzug erreichen! Von Barbaras Handgelenk tropfte Blut über ihre zur Faust geballten Finger. Ihre Beine zitterten so sehr, daß sie kaum noch stehen konnte.

Dann glitt ihre Schulter in den Eingang, und Yoshiro befreite sich mit einem letzten Ruck von mehreren Händen, die nach ihr griffen.

Die Menge um sie herum schien auseinanderzuweichen, und der Mann in dem blauen Blazer tauchte in der nun entstandenen Lücke auf. Er lächelte Barbara zu. Dabei wirkte er so normal, daß sie sekundenlang dachte, ihn um Hilfe zu bitten. Doch sie wußte, daß er nicht normal sein konnte. In ihrer Verzweiflung begann sie irrationale Hoffnungen zu hegen. Er kam auf sie zu.

Yoshiro wich in die Bordküche zurück und suchte mit beiden Händen Halt am Türrahmen. Ihr gutgezielter Tritt traf den Unterleib des jungen Mannes. Der Getroffene schrie auf, und dieser irre Schrei bewies ihr endgültig, daß er nicht zu den wenigen Geretteten gehörte.

Barbara tastete nach dem Griff der Falttür, bekam ihn zu fassen und schloß die Tür. Sie wurde von außen eingedrückt und gab fast augenblicklich nach, aber in der Zwischenzeit konnte Yoshiro sich nach dem Aufzug umdrehen.

In der kleinen Bordküche befanden sich zwei Männer, die beide Essensreste wie Tiere von der Anrichte leckten. Barbara Yoshiro schlängelte sich rasch und unauffällig zwischen ihnen hindurch und betrat die offene Kabine des winzigen Aufzugs.

Ihre Hand zitterte, als sie die äußere Schiebetür schloß. Dann drückte sie hastig auf den unteren der beiden Knöpfe. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die elektrisch betätigte Innentür sich langsam zu schließen begann.

Die Außentür wurde aufgestemmt. Barbara Yoshiro stand George Yates Auge in Auge gegenüber. Der junge Mann schlüpfte durch den Spalt, bevor die Innentür sich schloß. Dann setzte der Aufzug sich nach unten in Bewegung.

Barbara biß sich in die linke Hand, um nicht entsetzt aufzuschreien. Der Mann starrte forschend auf sie herab. Sie spürte, daß er sich gegen sie drängte. Seine Hände glitten über ihren Körper, umfaßten ihre Hüften und tasteten nach ihren Brüsten.

Sie wich vor ihm in die äußerste Ecke der winzigen Kabine zurück. Der Mann bedrängte sie noch mehr.

Der Aufzug kam zum Stehen; die Tür glitt zur Seite und gab den Blick in die Bordküche frei.

George Yates drückte Barbara Yoshiro an den Schultern nach unten, bis ihre Knie nachgaben. Sie machte einen verzweifelten Versuch, sich loszureißen und aufzustehen. »Nein! Nein, bitte nicht!« Ihre Schnittwunde blutete jetzt stark. Barbara spürte ihre Kräfte rasch schwinden. »Laß mich in Ruhe!« schluchzte sie. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Tu mir bitte nichts!«

Vor ihren Augen drehte sich alles. In der eigenartig dunklen Bordküche wurde es noch dunkler. Barbara spürte, daß sie an den Haaren nach vorn gezogen wurde. Sie lag bewegungslos auf dem Fußboden und bemühte sich, ohnmächtig oder tot zu wirken, damit er das Interesse an ihr verlor.

Aber George Yates war noch immer sehr an ihr interessiert. Seit dem Augenblick, in dem sie ihm in der Menge aufgefallen war, seit der Sekunde, in dem sein Instinkt ihm gesagt hatte, daß sie anders war, war er von dem Gedanken besessen gewesen, sie zu überwältigen. Er hätte seinen Drang nicht mit Worten ausdrücken können, aber seine Instinkte funktionierten nach wie vor. Er drehte Barbara auf den Rücken und warf sich auf sie.

»Bitte! Laß mich los, bitte!« wimmerte sie. Ihre Stimme klang hohl und schien aus weiter Ferne zu kommen. »Bitte …«, wiederholte Barbara schwach. Ihre Tränen flossen, sie war einer Ohnmacht nahe. Ihre Kräfte schwanden rasch. Dann schloß sie die Augen. Kurze Zeit später wurde ihr Körper schlaff und nachgiebig.

George Yates richtete sich rasch auf und starrte die Blutlache an, die ihren bewegungslosen Körper umgab. Sobald er das Blut und ihre Verletzung sah, wußte er, was sie bedeutete. Ihr Zustand hatte sich so grundlegend verändert, daß er ihn selbst mit seinen beschränkten verbliebenen Geisteskräften richtig deutete.

Yates verlor rasch das Interesse an der Frau; er beschäftigte sich statt dessen mit seiner neuen Umgebung. Er sah sich in der unteren Bordküche um, ohne auf Barbara Yoshiros leblosen Körper zu achten.