10

 

Harold Stein stand geduckt bereit, wieder zuzuschlagen, aber der Angriffsschwung schien verebbt zu sein. Die Angreifer wandten sich scheinbar unbeteiligt ab. Wie Kinder, dachte Stein – oder wie Raubtiere oder Wilde, deren Wut so rasch abklingt, wie sie aufflammt.

Er atmete tief durch und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Seine Arme und Beine schmerzten. Er starrte in die Kabine hinunter. Die Passagiere waren offenbar durch irgend etwas abgelenkt worden. Sie drängten sich nicht mehr am Fuß der Wendeltreppe zusammen, und das Stimmengewirr war leiser geworden. Aber sie konnten sich jederzeit wieder zu einem Massenangriff zusammenrotten.

Stein konnte kaum glauben, daß er tatsächlich angegriffen worden war. Noch viel schwerer fiel ihm jedoch das Eingeständnis, daß er so aggressiv gewesen war – daß er diese Männer, Frauen und Kinder geschlagen und getreten hatte. Alles Menschen, mit denen er noch vor wenigen Stunden geredet hatte!

Er fragte sich, weshalb Barbara Yoshiro nicht zurückgekommen war. Vielleicht war ihr etwas zugestoßen; vielleicht suchte sie noch immer irgend etwas. Stein wußte es nicht und merkte, daß ihn das jetzt kaum mehr interessierte.

Ein Blick ins Cockpit zeigte ihm, daß John Berry mit Sharon Crandall sprach, aber er konnte nicht hören, wovon die Rede war. Die beiden saßen in hellem Sonnenschein und waren vermutlich damit beschäftigt, sie alle heimzubringen. »Sie beruhigen sich allmählich!« rief Stein nach vorn.

Berry drehte sich nach ihm um. »Gut gemacht, Harold. Rufen Sie mich, falls Sie Hilfe brauchen.«

»Wird gemacht.« Stein sah sich im Salon um. Berry war damit ausgelastet, diese Leute aus dem Cockpit herauszuhalten und gleichzeitig die Maschine zu fliegen. Stein zwang sich dazu, nicht auf seine zitternden Hände hinabzusehen. Er holte langsam tief Luft, um ruhiger zu werden, aber das erwies sich als immer schwieriger. Je mehr er über ihre Situation nachdachte, desto ängstlicher wurde er. Stein war sich darüber im klaren, daß seine emotionalen und physischen Reserven so gut wie erschöpft waren.

In Gedanken sprang er über ein Meer und einen Kontinent hinweg und war in seinem Haus in Bronxville. Vor seinem inneren Auge sah er rote Klinker, weiße Fensterläden und grüne Rasenflächen. Er erinnerte sich an die prächtigen roten Azaleen, auf die Miriam jedes Jahr so stolz gewesen war. Wer würde sie jetzt gießen, schneiden und düngen?

Er sehnte sich nach dem altmodischen Sofa, auf dem er an Winterabenden mit Miriam vor dem Kamin gesessen hatte. Er stellte sich die breite Treppe vor, die in den ersten Stock mit den Schlafzimmern führte. Links das Bad und das Elternschlafzimmer. Rechts Susans Zimmer mit der Blumentapete und ihrem großen Aquarium; dahinter Debbies Zimmer mit der hellblauen Tapete und dem Puppenhaus, das er ihr letztes Jahr zum Geburtstag gebastelt hatte.

Er begann zu weinen.

Stein erkannte, daß er etwas unternehmen mußte. Er mußte etwas für sie tun. Wenn er ihren Verstand nicht zurückbringen konnte, mußte er zumindest ihre Körper davor bewahren, von den anderen verstümmelt zu werden.

Dann stand er auf der Wendeltreppe, ohne es recht zu merken. Er erinnerte sich kurz an Berrys Ermahnungen, die Stellung zu halten. Eigentlich war es seine Pflicht, hier am Höllentor Wache zu stehen. Der Teufel sollte Berry holen! Der Teufel sollte sie alle holen! Er konnte nicht länger warten. Nicht auf Berry, nicht auf Barbara Yoshiro, auf niemanden.

Er drehte sich nach dem Cockpit um. Berry und Crandall waren beschäftigt. Ein Blick zum Klavier hinüber zeigte ihm, daß Linda Farley halb schlafend auf dem Boden hockte. Stein sah nach unten. Die Treppe war frei. Vielleicht wurde sie nie wieder frei. Er hastete die Stufen hinunter.

Am Fuß der Treppe sah Stein sich vorsichtig um. Überall lagen Passagiere. Einige lehnten an den Wänden der Sanitärzelle. Sie schienen zu rasten – wie wilde Tiere, die sich ausgetobt haben. Aber er hatte den Verdacht, daß dieser Zustand nicht lange anhalten würde.

Die Menschen in seiner Nähe wimmerten leise oder schwatzten vor sich hin. Gelegentlich bildete er sich ein, deutlich ausgesprochene Worte oder einen ganzen Satz zu hören, aber er wußte, daß das Sinnestäuschungen waren. Er sehnte sich so verzweifelt nach einer verständnisvollen Menschenseele, daß er aus den tierischen Lauten, die diese blutverschmierten Münder ausstießen, einen menschlichen Dialog zusammensetzte.

Stein machte einen Bogen um den Küchen- und Sanitärblock und bewegte sich vorsichtig nach hinten weiter.

Wenige Meter von ihm entfernt hockte Barbara Yoshiro auf dem Boden. Sie hielt den Kopf zwischen ihren Knien vergraben, so daß ihr langes schwarzes Haar das Gesicht verdeckte. Stein trat rasch auf sie zu. Sie konnte ihm helfen, seine Familie in den Salon hinaufzubringen. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Barbara? Barbara, ist Ihnen nicht gut?«

Die Stewardess hob den Kopf.

Stein wich zurück. Das Gesicht, das ihn anstarrte, war verzerrt und blutverschmiert. »Barbara …« Aber dort hockte nicht Barbara Yoshiro, sondern eine andere Stewardess, an die er sich vage erinnerte.

Er suchte verzweifelt weiter nach Barbara Yoshiro. Er legte die Hände als Sprachrohr an den Mund und rief in die schwach beleuchtete Touristenkabine hinein: »Barbara! Stewardess!«

Eine kreischende Stimme imitierte ihn: »Burburda! Tuuudis!«

Stein schlug die Hände vors Gesicht und sackte auf einer Sitzlehne zusammen. Seine Schultern zuckten.

Dann ließ er langsam die Hände sinken und sah auf. Er suchte zögernd die mittleren Sitzreihen ab, bis er die Reihe fand, in der er gesessen hatte. Nur Debbie und Susan saßen noch auf ihren Plätzen. Miriam war verschwunden.

Debbie versuchte aufzustehen, aber ihr angelegter Gurt hinderte sie daran.

Susan war zur Seite gefallen, lag halb auf dem nächsten Sitz und streckte ihre gefalteten Hände steif nach vorne aus.

Harold Stein bewegte sich mit schleppenden Schritten auf seine Töchter zu. Er blieb vor ihnen stehen und sah auf sie herab. »Debbie. Debbie, ich bin’s – Papa. Debbie!«

Seine Tochter sah desinteressiert zu ihm auf und bemühte sich dann hartnäckig weiter, aus ihrem Sessel aufzustehen. Dabei stieß sie unverständliche Laute aus.

Susan atmete, aber ihre Erstarrung löste sich nicht einmal, als ihr Vater sie wachzurütteln versuchte.

In diesem Augenblick erkannte Harold Stein, daß es weder für seine Angehörigen noch alle anderen die geringste Hoffnung auf Rettung gab. Und er wußte jetzt, was er zu tun hatte.

Er wandte sich ab, hastete den Gang hinunter und stieß die Torkelnden, die ihm in die Quere kamen, grob beiseite.

Stein entdeckte Miriam im Flugzeugheck, wo sie ziellos umherzuirren schien. »Miriam! Miriam!«

Sie reagierte nicht.

Er wußte, daß es zwecklos war, ihre Namen zu rufen oder sich einzubilden, seine Angehörigen seien noch die gleichen Menschen wie vor einigen Stunden. Dieses wandelnde Gespenst, das da vor ihm stand, war nicht seine Frau.

Stein griff nach Miriams Arm und führte sie zu den Sitzen, die für ihn und seine Familie reserviert gewesen waren.

Er löste die Gurte der beiden Mädchen, nahm Susan über die linke Schulter und zog Debbie hoch. Dann wechselte er mit der freien Hand zwischen Miriam und Debbie ab und schob die beiden vor sich her zu dem mit zahllosen Wracktrümmern übersäten Teil der Kabine.

Die beiden Löcher, die so unendliches Leid ausgelöst hatten, waren kaum ein Dutzend Schritte entfernt. Der Wind heulte durch diese offenen Wunden, und das Heulen lenkte Stein ab, so daß er kaum noch klar denken konnte. Er zögerte und wandte sich dann dem größeren zu.

Er legte schwitzend und atemlos die Last ab, die seine Tochter war, und zwang Debbie und Miriam dazu, sich hinzusetzen. Mehrere dünne Kabel peitschten über ihren Köpfen durch die Luft und trafen manchmal Miriam oder die Mädchen, die je-desmal aufschrien. Ein scharfes Drahtende fügte Stein eine stark blutende Wunde auf der Stirn zu.

Obwohl er sich vorgenommen hatte, nicht mit ihnen zu sprechen, beugte er sich über Susan und flüsterte ihr ins Ohr: »Sue, Liebling, Papa ist bei dir. Jetzt wird alles gut.« Er sah zu Debbie hinüber. Sie erwiderte seinen Blick, und er bildete sich Sekundenlang ein, in ihren Augen einen Funken intelligenten Lebens zu entdecken, aber dann erlosch auch diese Hoffnung.Debbie war ihre Älteste, und ihre Geburt nach so vielen kinderlosen Jahren war der schönste Augenblick ihrer Ehe gewesen. Stein küßte sie auf die Stirn.

Er zweifelte nicht daran, daß ihm das Los der anderen nur deshalb erspart geblieben war, damit er seiner Familie gegenüber seine Pflicht tun konnte. Stein bemitleidete die anderen, die weiterleiden mußten. Er bedauerte John Berry und Sharon Crandall und Linda Farley und Barbara Yoshiro. Sie litten mehr als die anderen und würden weiterleiden, bis das Flugzeug abstürzte oder – noch schlimmer – landete. Er bedauerte sie aufrichtig, aber er fühlte sich ihnen nicht länger verpflichtet. Das Tor zur Hölle stand unbewacht offen – und das war vielleicht gut so. Unter Umständen bedeutete es ein rascheres Ende für jedermann. Aber er, Harold Stein, hatte hier die große Chance, der Hölle zu entrinnen und seiner Familie die ewige Ruhe zu bringen, und er dachte nicht daran, sich vor dieser Verantwortung zu drücken.

Stein legte seinen Töchtern je einen Arm um die Taille und schob sie nach vorn auf das große Loch zu. Er beobachtete, wie sie ihm nacheinander aus den Händen glitten, vom Luftstrom erfaßt wurden und sich überschlagend ins sonnenblaue Nichts stürzten. Die beiden Mädchen verschwanden kurz hinter dem Leitwerk der Maschine; danach sah er sie wieder und verfolgte ihren Fall, bis sie kleiner und kleiner wurden und schließlich nicht mehr zu erkennen waren.

Er wandte sich ab, zog seine Frau aus ihrem Sessel hoch und führte sie zu dem Loch im Flugzeugrumpf. Sie schien bereitwillig mitzukommen. Vielleicht begriff sie, was er vorhatte. Er zweifelte daran, aber vielleicht war ihre Liebe – die wortlose Kommunikation, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte – stärker als … Stein zwang sich dazu, diesen Gedanken abzubrechen. Er starrte das Loch an, ohne es recht zu erkennen, weil er Tränen in den Augen hatte. Dann betrachtete er Miriams Gesicht. Aus den Augenwinkeln zogen sich zwei dünne Blutfäden über ihre Wangen. Er zog ihren Kopf an seine Brust. »Miriam, ich weiß, daß du mich nicht verstehst, aber …« Seine Stimme versagte, und er begann krampfhaft zu schluchzen.

Stein trat näher an das Loch heran. Er spürte den Luftstrom an seinem Körper zerren. »Miriam, ich liebe dich. Ich habe euch alle geliebt.« Er wollte Gott um Vergebung bitten, aber er glaubte zu wissen, daß dies Gottes Wille war.

Harold Stein hielt seine Frau an sich gedrückt, als er die Maschine und damit den Alptraum, zu dem Flug 52 geworden war, verließ.

Leutnant Peter Matos hockte nervös in seiner F-18, 100 Meter vor ihm behielt die Straton 797 der Trans-United Airlines ihren stetigen Kurs bei. Matos zwang sich dazu, einen Blick auf seine Borduhr zu werfen. Ihre Leuchtziffern schienen ihm ins Gesicht zu springen. Zu seiner Verblüffung war über eine Stunde vergangen, seitdem die Straton die Kursänderung nach Kalifornien vorgenommen hatte. Matos hatte den Eindruck, das alles liege erst wenige Minuten zurück. Er schüttelte ungläubig den Kopf. In dieser Zeit hatte er lediglich mehrmals mit Commander Sloan gesprochen und zweimal seinen Navigationsrechner benützt. Aber womit er die restliche Zeit verbracht hatte, war ihm ein Rätsel.

Los, tu was, Peter! Irgendwas! Sofort! Matos fühlte sich wie in Trance – von dem riesigen, ewig gleichbleibenden Pazifik hypnotisiert. Er atmete tief durch, um seinem Gehirn mehr Sauerstoff aus der Maske zuzuführen. Sieh dir die Instrumente an, forderte er sich selbst auf. Er wußte, daß das die beste Methode war, um seine Gedanken wieder ins rechte Gleis zu bringen. Die Anzeigen der Instrumente waren ihm vertraut. Matos begann links und stellte fest, daß der Öldruck normal war, daß die Triebwerkstemperaturen stimmten, daß der Treibstoffvorrat …

Der Leutnant fuhr zusammen. Sein Trancezustand war abrupt beendet. Großer Gott! Die Treibstoffsituation der F-18 war noch nicht kritisch, aber Matos sah, daß dieser Zustand bald eintreten würde. Deshalb würde er bald etwas unternehmen müssen, das stand fest.

Matos biß sich auf die Unterlippe, während er über die Alternativen nachdachte. Aber er wußte, was er als erstes zu tun hatte. Er gab seinem Computer hastig die augenblickliche Position der beiden Flugzeuge ein und las die Ergebnisse ab. »Scheiße!« Seine Treibstoffreserve war auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Matos konnte sich den Luxus, die Straton 797 lediglich zu beobachten, nicht mehr lange leisten.

Was würde dann passieren? Matos rang mit sich selbst, um zu einem Entschluß zu kommen. Sollte er sich weigern, Commander Sloans Befehl auszuführen? Er hatte noch nie einen Befehl verweigert, und allein der Gedanke daran brachte ihn aus der Fassung. Als kleiner Leutnant konnte er sich nicht gegen James Sloan – und die US Navy, wenn man’s genau betrachtete – auflehnen. Das lag außerhalb der Reichweite seiner Gedanken, wie die Nimitz bald außerhalb der Reichweite seiner Treibstoffreserve liegen würde.

Er beobachtete wieder die Straton. Sie flog ruhig und gleichmäßig. Zu ruhig. Matos wußte recht gut, daß er bei seinen letzten Schadensmeldungen an Commander Sloan übertrieben hatte. Entlang des Rumpfes sind Ermüdungsrisse zu erkennen. Wahrscheinlich ist auch die rechte Tragfläche beschädigt. Die Maschine kann nicht mehr lange fliegen. Die Belastungen werden sicher bald zu groß. Das alles war nicht ganz falsch, aber es war auch nicht die volle Wahrheit. Natürlich zeigte der Rumpf der Verkehrsmaschine einige Spannungsrisse, aber …

»Navy drei-vier-sieben, kommen.«

Der Leutnant zuckte zusammen. »Homeplate, hier Navy dreivier-sieben.« Er hielt den Steuerknüppel der F-18 fest umklammert. »Kommen.« Sloans Tonfall ließ erkennen, daß der Commander ungeduldig war, weil sein Plan noch immer nicht in die Tat umgesetzt worden war. Matos fühlte sich plötzlich deprimiert. Er erkannte jetzt, daß er das Unvermeidliche lediglich so lange wie möglich hinausgeschoben hatte.

»Wie steht’s?« erkundigte Sloan sich.

»Bisher unverändert«, meldete der Pilot.

»Keine Veränderung?« Sloans Stimme klang ehrlich erstaunt. »Was ist mit den Ermüdungsrissen? Was ist mit der beschädigten Tragfläche?«

»Die Risse sind etwas größer geworden. Vielleicht. Nicht viel.« Matos wünschte sich, er hätte nie mit dieser Lüge angefangen. Sie machte alles nur noch schlimmer. Sein Blick fiel auf den Feuerknopf. Er bedauerte jetzt, daß er so lange gewartet hatte. Er hätte die Straton sofort abschießen sollen, anstatt erst lange darüber nachzudenken.

»Matos, Ihre Schadensmeldungen sind gelogen gewesen!« fauchte der Commander. »Dadurch haben Sie uns diese gottverdammte Aufgabe nur langwieriger und schwieriger gemacht. Glauben Sie ja nicht, daß ich Ihnen das vergesse!«

»Nein, der Zustand der Straton hat sich tatsächlich verschlechtert«, log Matos. »Sie macht noch immer über dreihundert Knoten, aber ihre Höhe nimmt leicht ab und …«

Dann sah er etwas unter dem Rumpf des Verkehrsflugzeugs: einen kleinen dunklen Gegenstand, der rasch in die Tiefe fiel. Ein Wrackteil? Montierte die Straton endlich ab? Während Matos mit zusammengekniffenen Augen in die Tiefe starrte, rutschte sein Finger vom Sprechknopf.

»Matos!« brüllte Sloan, sobald er merkte, daß die Frequenz frei war. »Ihre Geschwindigkeiten und Höhenverluste interessieren mich nicht. Wann stürzt die gottverdammte Maschine ab? Das will ich wissen, verstanden? Beantworten Sie gefälligst meine Frage!«

»Homeplate, aus der Straton fallen Menschen!« Der Leutnant hatte kein Wort von Sloans Frage verstanden.

»Was? Wiederholen Sie!«

»Ja. Sie fallen. Sie springen aus dem Flugzeug.« Matos flog näher an die Verkehrsmaschine heran. Er konnte beobachten, wie eine weitere Gestalt in dem größeren Loch erschien, vom Luftstrom mitgerissen wurde und davonsegelte. »Schon wieder jemand! Ich vermute Feuer an Bord!« Das war nach Matos’ Überzeugung der einzige Grund, aus dem Menschen bereit sein konnten, in den sicheren Tod zu springen. Er verfolgte die sich überschlagende Gestalt bei ihrem Sturz, bis sie nur noch ein dunkler Punkt über der Wasserwüste des Pazifiks war.

»Sehen Sie Rauch?«

Rauch? Matos riß den Kopf hoch und starrte das große Flugzeug an. Aber dort schien sich nichts verändert zu haben. Zu ruhig. Zu stabil. Der Leutnant fuhr sich mit der Zungenspitze über seine trockenen Lippen, bevor er erneut auf den Sprechknopf drückte. »Kein sichtbarer Rauch. Noch nicht.« Seine neue Hoffnung war noch nicht wie eine Seifenblase zerplatzt, aber sie nahm rasch ab. Kein Rauch, keine Flammen, nichts. Was ging dort drüben vor? Peter Matos merkte mit Entsetzen, was für ein Mensch er geworden war. Er verdrängte diesen Gedanken. Er konnte mit der Erinnerung an diesen Unfall leben – sogar wenn er ihn verschuldet hatte –, solange er der Straton nicht noch mehr antun mußte. Bitte, lieber Gott, laß sie von selbst abstürzen.

»Lügen Sie mich ja nicht wieder an, Matos!« fauchte Sloan. Aber dann änderte sich sein Tonfall. »Ist es turbulent? Können Sie erkennen, warum diese Leute springen?«

»Nein, aber … Augenblick!« Matos ließ den Sprechknopf nicht mehr los. »Jetzt springen wieder welche! Zwei gemeinsam. Ja, dort drüben ist irgendwas nicht in Ordnung. Ganz sicher nicht! Ein Brand oder giftige Dämpfe. Ich schlage vor, daß wir weiter warten. Irgendwann stürzt die Maschine ab. Bestimmt! Ich weiß, daß sie sich nicht mehr lange halten kann.«

Sloan antwortete nicht gleich. »Verstanden, Navy drei-viersieben«, bestätigte er dann ausdruckslos. »Wir warten also.«

Während Harold Stein mit seiner Frau in den Armen in die Tiefe stürzte, hob er den Kopf und starrte die Straton 797 über sich an. In diesem Bruchteil einer Sekunde erkannte und identifizierte er den Düsenjäger, der schräg über dem Leitwerk der Verkehrsmaschine hing. Das Bild einer langen silberglänzenden Rakete unter einer Tragfläche des Abfangjägers prägte sich ihm ein. Im gleichen Augenblick wußte er intuitiv, was Flug 52 zugestoßen war.

Wayne Metz schaltete den Tempostat des Mercedes aus und bog mit quietschenden Reifen in die Flughafeneinfahrt ab. Er fuhr direkt zum Hangar der Trans-United Airlines, stellte seinen Wagen auf einem VIP-Parkplatz ab und blieb noch eine Minute lang am Steuer sitzen. Während er nachdachte, starrte er den blau-gelben Hangar an, ohne ihn wirklich zu sehen. Er hatte sich einen Plan zurechtgelegt, durch den sich die ruinös hohe Leistungspflicht der Beneficial Insurance Company verringern ließ – und der gleichzeitig seine eigene Verantwortung entscheidend herabsetzen würde.

Dieser Plan war nicht schwierig auszuarbeiten gewesen. Er lag sozusagen auf der Hand. Das Problem bestand nur darin, Edward Johnson davon zu überzeugen, daß sie die gleichen Interessen hatten, die es erforderten, daß der Plan in die Tat umgesetzt wurde. Wayne Metz glaubte, Johnson gut genug zu kennen, um das Risiko eingehen zu können, ihm seinen Plan zu unterbreiten.

Metz stieg aus und ging rasch über den heißen Asphalt auf den Personaleingang zu. Dort standen mehrere Angestellte der Fluggesellschaft, die eifrig diskutierten. Er nickte ihnen zu, stieß die kleine Tür auf und hastete die Treppe hinauf, indem er jeweils zwei Stufen auf einmal nahm. Im ersten Stock trabte er einen langen Korridor hinunter und öffnete die blaue Tür mit der Aufschrift DISPATCHER-BÜRO.

Er wandte sich an den Mann hinter dem ersten Schreibtisch. »Ich möchte zu Edward Johnson.«

Der Angesprochene zeigte zur Nachrichtenzentrale hinüber. »Dort drinnen. Aber ich bezweifle, daß er zu sprechen ist.«

Metz durchquerte den Raum und blieb an der Glaswand stehen. In dem kleinen Raum dahinter sah er Johnson an einer Art Fernschreiber sitzen. Ein weiterer Mann stand neben ihm. Metz erkannte auf den ersten Blick, wie nervös die beiden waren, und vermutete, daß das nicht nur auf die schwierige Situation, sondern auch auf persönliche Spannungen zwischen den beiden zurückzuführen war. Außerdem wußte er, daß sein Plan nur funktionieren konnte, wenn er mit Johnson allein war. Er beobachtete die beiden noch etwas länger. Der zweite Mann schien ein Untergebener zu sein. Johnson konnte ihn wegschicken. Metz klopfte an die Glaswand.

Johnson hob den Kopf, nickte Metz zu, stand auf und öffnete ihm die Tür.

Wayne Metz betrat die Nachrichtenzentrale. »Hallo, Ed.«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.

Johnson merkte, daß sie von mehreren Dispatchern beobachtet wurden. Als er sie aufgebracht anstarrte, senkten sie hastig die Köpfe. Er knallte die Tür zu und sperrte ab. »Immer dieses verdammte Rampenlicht!« Johnson zeigte auf den dritten Mann. »Jack Ferro, der Schichtleiter. Zweiundfünfzig ist sein Flug gewesen.«

Metz nickte Ferro geistesabwesend zu, bevor er sich an Johnson wandte. »Gewesen? Soll das heißen, daß …«

»Nein, nein! Die Maschine fliegt noch. Aber ich habe den Flug jetzt übernommen. Jack unterstützt mich dabei.« Trotzdem wußte Johnson, daß er die Straton in seinem Innersten bereits abgeschrieben hatte. Die Vergangenheitsform paßte zu der Straton, aber er würde sich vorsehen müssen, wenn er wieder von der Maschine sprach. Was er sagte, mußte auch optimistisch klingen. »Tatsächlich haben wir keine neuen Meldungen mehr bekommen, seitdem ich dich angerufen habe. Aber das Flugzeug hält seinen Kurs, und wir haben keinen Grund, den Piloten ständig zu rufen. Er wird sich schon melden, falls er etwas von uns braucht.«

»Er müßte’s also schaffen?« erkundigte Metz sich.

Johnson schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht behauptet. Landeanflug und Landung stehen ihm noch bevor.« Er beschloß, Metz reinen Wein einzuschenken. »Meiner Ansicht nach bedeutet das den fast sicheren Tod für alle an Bord.« Er nickte zu Ferro hinüber. »Jack ist da etwas optimistischer. Er traut diesem Berry zu, daß er eine perfekte Dreipunktlandung hinlegt und zum zugewiesenen Flugsteig rollt.«

Ferro räusperte sich. »Ich glaube, daß er eine Chance hat, Mr. Metz. Er scheint ein fähiger Mann zu sein. Das zeigen seine Mitteilungen.« Er warf Johnson einen fragenden Blick zu.

Der Vizepräsident nickte.

Ferro griff nach den eingegangenen Fernschreiben und hielt sie Metz hin.

»Hier sind alle Mitteilungen, falls Sie sie lesen möchten.«

»Nur zu, Wayne!« forderte Johnson ihn auf. »Lies sie nur! Das tut deinen Magengeschwüren gut. Diese gottverdammte Straton! Ich hab’ schon immer geahnt, daß diese verdammte Mühle uns den Hals brechen würde!«

Metz begann zu lesen. Er schüttelte unbewußt den Kopf. Die unpersönliche Computerschrift machte den Inhalt der Mitteilungen nur noch schlimmer. Jedenfalls machte sie ihn glaubwürdiger. Hirnschäden durch Sauerstoffmangel.

Ferro sah zu Metz hinüber und beobachtete dann wieder Johnson. Er kannte Metz kaum, aber der Versicherungsmann war ihm instinktiv zuwider. Zu elegant angezogen. Frisiert und parfümiert wie ein Filmstar. Zu solchen Männern hatte Ferro kein Vertrauen, obwohl er wußte, daß solche oberflächlichen Beurteilungskriterien unfair waren. Allein die Tatsache, daß Johnson seinen Freund Metz verständigt hatte, war charakteristisch für die Art und Weise, wie diese Fluggesellschaft heutzutage geführt wurde. Vor zehn oder 20 Jahren hätten sich in diesem Raum kaffeetrinkende, rauchende Männer in Hemdsärmeln zusammengedrängt: Piloten, Fluglehrer, Führungskräfte, Dispatcher, Ingenieure der Firma Straton Aircraft und andere, die vielleicht helfen konnten. Wird allmählich Zeit, daß du aussteigst! überlegte Ferro sich.

Metz gab ihm die Fernschreiben zurück und wandte sich an Johnson. »Weißt du bestimmt, daß diese Meldungen zutreffend sind?«

Der Vizepräsident zuckte mit den Schultern. »Wenn er sagt, daß Leute tot sind, sind sie tot. Und er weiß auch, wie zwei Löcher im Rumpf aussehen.«

»Ich spreche von den angeblichen Gehirnschäden. Warum sollen sie unheilbar sein?«

»Soviel ich von meinem Experten weiß …« Johnson nickte zu Ferro hinüber. »Er hat mir bestätigt, daß die Passagiere vermutlich tatsächlich hirngeschädigt sind. Ob dieser Zustand unheilbar ist? Höchstwahrscheinlich. Er wird durch ein Zellensterben ausgelöst. Das ist ein irreversibler Vorgang. Aber wer soll den Zustand dieser armen Schweine genau beurteilen können? Berry ist ein Sonntagsflieger, kein Neurochirurg. Wir wissen nicht einmal, ob er die Bombe nicht selbst gelegt hat, obwohl das ziemlich unwahrscheinlich ist.«

Metz nickte. »Sieht verdammt schlecht aus«, bestätigte er sehr ernst.

»Schnell erfaßt!« lobte Johnson ihn sarkastisch. »Ich bin froh, daß ich dich hergebeten habe.«

Der Versicherungsmann war entschlossen, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. »Warum hast du mich übrigens verständigen lassen?«

Johnson starrte ihn einige Sekunden lang an. »Evans hat dich angerufen, weil du auf der Liste für Notfälle stehst«, antwortete er schließlich.

Metz sah sich in dem leeren Raum um.

Johnson grinste unwillkürlich. Metz war ein gerissener Bursche. Er machte sich bewußt kostbar. »Gut, ich wollte ein paar Auskünfte von dir. Sind wir vor allem gegen sämtliche Risiken dieses Falls versichert?«

»Das nehme ich an. Eure Kaskoversicherung kommt natürlich für den Schaden an der Maschine auf. Aber alles andere fällt potentiell unter unsere Deckungspflicht.«

Die Ausdrücke »nehme ich an« und »potentiell« gefielen dem Vizepräsidenten nicht. »Auch die Ansprüche, die sich ergeben, falls die Straton über San Francisco abstürzt? Alle Sach- und Personenschäden?«

»Richtig, so steht’s im Vertrag.«

Johnson ging zwischen den Geräten auf und ab. Er hatte die Hiobsbotschaft, die Metz ihm überbringen mußte, noch nicht erhalten, weil er nicht die richtigen Fragen gestellt hatte. Er hob ruckartig den Kopf. »Kann deine Gesellschaft sich diesen Schaden leisten?«

Metz zuckte kaum merklich mit den Schultern.

Johnson blieb stehen. »Was soll das heißen, verdammt noch mal?«

»Das heißt, daß niemand deine Frage beantworten kann, bevor der Schaden eingetreten ist. Es bedeutet auch, daß der Versicherungsnehmer verpflichtet ist, alles zu tun, um den Schaden so gering wie möglich zu halten. Und es bedeutet weiterhin, daß die Trans-United Airlines nachweisen können müssen, daß ihre Mitarbeiter den Unfall nicht fahrlässig herbeigeführt haben. Außerdem …«

»Augenblick!« unterbrach Johnson ihn erregt. »Erstens möchte ich euch dringend raten, das Geld zu haben. Zweitens tun wir alles Menschenmögliche, um den Schaden geringzuhalten. Dazu sind wir schließlich hier! Und drittens liegt keinerlei Fahrlässigkeit unserer …«

»Irgend jemand hat eine Bombe an Bord geschmuggelt. Vielleicht dieser Berry. Das hast du vorhin selbst gesagt.«

Johnson trat einen Schritt auf Metz zu, aber dann wandte er sich an Ferro. »Rufen Sie die Rechtsabteilung an, Jack.«

Metz merkte, daß er den Bogen überspannt hatte. »Langsam, Ed. Ich möchte erst ein paar Punkte mit dir besprechen.« Er nickte zu Ferro hinüber. »Unter vier Augen.«

Der Vizepräsident hob die Hand. »Augenblick, Jack.«

Ferro nahm die Hand vom Telefonhörer. »Ich bleibe lieber am Data-Link, glaube ich«, erklärte er Metz trocken. Metz wechselte einen Blick mit Johnson. »Ich muß darauf bestehen …«

Jemand klopfte an die Tür. Die drei Männer drehten sich um.

Dennis Evans stand mit einem Zettel in der Hand draußen. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

Johnson sperrte ihm auf. »Was gibt’s, Evans?«

»Jemand von der FAA hat wegen der Straton angerufen«, antwortete Evans. Er hielt den Zettel hoch. »Die Flugsicherung hat keine Verbindung mehr mit Flug 52. Sie will wissen, ob wir die Maschine auf einer unserer Frequenzen erreichen können. Der Fluglotse, der angerufen hat – ein gewisser Malone –, vermutet, daß die Funkgeräte ausgefallen sind.«

»Was haben Sie ihm gesagt?«

»Nichts, Sir. Ich hab’ ihn abgewimmelt.« Er gab Johnson den Zettel. »Sein Name und seine Telefonnummer. Ich hab’ ihm versprochen, daß wir zurückrufen.«

Johnson steckte den Zettel in die Hemdtasche. »Okay, Evans. Gut gemacht.« Er schloß die Tür, bevor der junge Dispatcher antworten konnte, und ging ans Telefon.

Metz vertrat ihm den Weg. »Langsam, Ed. Können wir nicht zuerst miteinander reden?«

Johnson war es nicht gewöhnt, daß irgend jemand versuchte, ihn einzuschüchtern. Wayne Metz war entweder sehr frech oder sehr verzweifelt. In beiden Fällen hatte er etwas Bestimmtes im Sinn. »Ich muß anrufen, Wayne. Das hätte ich als erstes tun sollen. Dann wären die Rettungsmaßnahmen bereits eingeleitet. Wegen dieser Verzögerung kriegen wir ohnehin noch Schwierigkeiten.«

Jack Ferro stand bereits am Telefon. »Das nehme ich auf meine Kappe, Ed. Geben Sie mir die Nummer. Ich rufe gleich an.«

Der Vizepräsident schüttelte ungeduldig den Kopf. »Unsinn! Damit erledigen wir Evans. Er ist der dämliche Hund, der dort hätte anrufen müssen.«

»Ich bin der Schichtleiter.«

»Jack, überlassen Sie das lieber mir.« Johnson wandte sich an Metz. »Erstens besteht immer die Möglichkeit, daß Data-Link-Mitteilungen ein schlechter Scherz sind. Deshalb haben wir die Sache nicht gleich weitergemeldet. Zweitens ist dieser Unfall genau verkehrtherum abgelaufen. Normalerweise erfährt die Flugsicherung als erste davon und benachrichtigt die Fluggesellschaft. Über Data-Link ist noch nie ein Notruf eingegangen, soviel ich weiß. Dieser Fall ist in unseren Vorschriften gar nicht vorgesehen. Außerdem hast du mich gebeten, keine anderen …«

Metz schüttelte ungeduldig den Kopf. »Das mit der Flugsicherung geht mich nichts an. Ich möchte nur die Art und Weise der Bekanntgabe mit dir absprechen, bevor du irgendwo anrufst. Wir sollten Betriebs- und Haftpflichtfragen auseinanderhalten, sonst gefährden wir unsere juristische Ausgangslage. Ich muß dich eine Minute unter vier Augen sprechen, Ed. Nur eine einzige Minute!«

Johnson nickte Ferro zu. »Jack …«

Der Dispatcher schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen! Flug 52 ist mein Flug, Ed. Ich muß wissen, was hier besprochen wird.«

Johnson legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nur Versicherungskram, Jack. Den wollen Sie gar nicht hören, sonst müßten Sie eines Tages darüber aussagen. Lassen Sie uns eine Minute allein, ja?«

Ferro starrte die beiden Männer an. Die Trans-United glich noch immer einer großen Familie – aber einer Familie, die etwas zu verbergen hatte. Er wußte, daß er sich nicht gegen Edward Johnson auflehnen konnte. »Gut, meinetwegen …« Er ging zur Tür und verließ den Raum.

Johnson sperrte hinter ihm ab und drehte sich nach Metz um. »Okay, jetzt hast du deine Minute.«

Metz holte tief Luft und zog sich einen Drehstuhl heran. »Hör zu, Ed, wir müssen vom Haftungsstandpunkt aus sehr vorsichtig sein. Wir dürfen nichts tun, wodurch sich die Lage der Straton verschlechtern könnte. Vom juristischen Standpunkt aus ist es besser, nichts zu tun, als das Falsche zu tun.«

»Soll das heißen, daß wir ihnen keine Landeanweisungen geben sollen?«

»Tut mir leid, aber das ist die logische Schlußfolgerung. Die Rechtsprechung kennt genügend Präzedenzfälle. Was ihr jetzt tut, wird später vor Gericht beurteilt – und dabei geht es um die Folgen, nicht um die guten Absichten, die du vielleicht gehabt hast. Mit anderen Worten: Wenn du ihm landen hilfst und er dabei verunglückt, bis du schlechter dran, als wenn du’s nicht versucht hättest. Wie ich die Sache sehe, bist du lediglich dazu verpflichtet, Rettungsmaßnahmen auf dem Flughafen einzuleiten.«

Johnson starrte Metz an. Er spürte, daß der Versicherungsmann etwas ganz anderes meinte, als er sagte. »Das glaubst du doch selbst nicht! Aber falls du doch recht hast, haben wir bisher wenigstens noch keinen Fehler gemacht. Besser wär’s allerdings gewesen, wenn wir Berry Fernunterricht erteilt hätten,damit er lernt, wie man ein Überschallflugzeug fliegt. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie schwierig es ist, einen Piloten zur Landung ›herunterzusprechen‹? Und wir sollen dieses Kunststück über Data-Link schaffen. Unser Chefpilot macht sich wahrscheinlich in die Hose, wenn ich ihm sage, was er zu tun hat.« Er machte eine Pause. »Bei dem Pech, das ich in letzter Zeit habe, schafft Fitzgerald es wahrscheinlich und wird über Nacht zum Nationalhelden. Dann kann er gemeinsam mit Berry in Fernsehshows auftreten. Wunderbar!«

Der Versicherungsmann setzte sich auf. »Du siehst also eine Chance, daß die Straton heil runterkommt?«

Johnson zuckte mit den Schultern. »Es hat schon verrücktere Dinge gegeben. Gott auf dem Kopilotensitz, Maschinen, die mit toter Besatzung landen, geheimnisvolle Lichter, die im Nebel den Kurs zum nächsten Flughafen weisen. Außerdem kann dieser Berry ein erstklassiger Pilot sein. Wer weiß?«

Wayne Metz nickte. Der Anruf von der Flugsicherung war etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte, und er fragte sich, welche Überraschungen noch zu erwarten waren. Er brauchte weitere Informationen. »Warum weiß die Flugsicherung nicht, wo die Straton ist? Verfolgt sie die Maschine nicht im Radar?« »Über dem mittleren Pazifik gibt’s keine Radarüberwachung mehr. Jedes Flugzeug bestimmt seine Position selbst und meldet sie an die Flugsicherung. Dort werden die Flüge koordiniert, damit nicht zwei Maschinen zur gleichen Zeit in gleicher Höhe die gleiche Strecke befliegen. Bei der Straton 797 ist das

sehr einfach: Sie fliegt in Höhen, in denen nur gelegentlich eine Concorde oder Militärmaschinen unterwegs sind. Wahrscheinlich macht die Flugsicherung sich deshalb keine allzu großen Sorgen wegen des abgerissenen Flugkontakts. Dort oben ist ein Zusammenstoß mit einem anderen Flugzeug ziemlich unwahrscheinlich.«

Metz beugte sich nach vorn. »Das heißt also, daß die Flugsicherung noch glaubt, die Straton sei auf ihrem ursprünglichen Kurs nach Japan unterwegs?«

»Richtig.« Johnson warf Metz einen prüfenden Blick zu. Der Versicherungsmann wollte offenbar auf etwas Bestimmtes hinaus, und seine anfangs geäußerten Bedenken wegen der Landeanweisungen ließen erkennen, worauf er hinauswollte. Der ganze Unsinn mit einem möglicherweise drohenden Gerichtsverfahren war lediglich ein Versuchsballon gewesen. Vielleicht hatte Metz irgendeine Idee, wie sich ihre persönliche Haftung in dieser Angelegenheit verringern ließ.

Wayne Metz starrte seine Schuhspitzen an. Der psychologisch richtige Augenblick, in dem er zuschlagen mußte, war noch nicht gekommen – aber er stand unmittelbar bevor. Er hob den Kopf. »Daß die Funkverbindung abbricht ist also nicht ungewöhnlich?«

Johnson nickte. »So was kommt vor«, bestätigte er. »Auch moderne Funkgeräte funktionieren nicht immer. In großen Höhen treten alle möglichen atmosphärischen Störungen auf. Sonnenflecken. Inversionen. Aber solche Störungen dauern nicht ewig. Wenn die Verbindung nicht bald wiederhergestellt ist, weiß jeder, daß ein Notfall vorliegen muß.«

Metz runzelte die Stirn. »Das bedeutet also, daß die Trans-United Schwierigkeiten bekommt, falls die Flugsicherung später den genauen Unfallzeitpunkt feststellen kann?«

Johnson gab keine Antwort. Der Versicherungsmann ließ seine Feststellung einige Sekunden lang im Raum stehen, bevor er das Thema wechselte. »In welcher Entfernung erscheint die Straton auf den Radarschirmen der Flugsicherung?«

»Das hängt von der Höhe ab. Die Maschine fliegt jetzt verhältnismäßig tief. Die Anflugkontrollstelle hat sie erst in fünfzig bis sechzig Seemeilen Entfernung auf dem Radarschirm.«

»Nicht schon vorher?«

»Nein. Warum? Was hat das mit meiner Haftpflichtversicherung zu tun, Wayne? Du bist wie mein gottverdammter Autoversicherer. Er will alles über den Unfall wissen, während mich nur interessiert, wann gezahlt wird.«

Metz lächelte freundlich. »Das hängt alles zusammen.«

»Tatsächlich?« Johnson spürte, daß Metz ihm einen Vorschlag machen wollte, und bemühte sich, aufgeschlossen zu wirken. Er erwiderte das Lächeln des anderen. »Worauf willst du hinaus, Wayne? Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

»Ich kann ganz offen mit dir sprechen?«

»Klar. Was hast du vorzuschlagen? Ich bin für alles zu haben, was der Trans-United nützt. Und wenn du einen Vorschlag hast, der Ed Johnson und der Trans-United nützt, sind wir uns schon so gut wie einig. Aber falls dein Vorschlag nur Wayne Metz und Konsorten hilft, fliegst du ’raus! Los, red schon! Ich muß die Flugsicherung anrufen.«

 

Metz stand auf. Er starrte den Vizepräsidenten lange prüfend an, bevor er leise begann:

»Ed …, die Straton muß abstürzen. Über dem Meer, nicht über festem Land. Keine Überlebenden an Bord, keine weiteren Todesopfer am Absturzort.«

Johnson schüttelte den Kopf. Aber dieser Vorschlag war nicht ganz unerwartet gekommen. »Bist du verrückt geworden?«

Der Versicherungsmann atmete langsam aus. Johnson hatte ihn nicht gleich hinausgeworfen. Das war bereits ermutigend. Metz schwieg klugerweise.

Ed Johnson drehte sich nach der Pazifikkarte um. Er starrte sie an, senkte den Kopf und begann, in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Dann blieb er ruckartig stehen und wandte sich an Metz. »Okay, ich beiße an. Was haben wir davon, wenn die Maschine ins Meer stürzt?«

Metz wußte, daß er überzeugende Argumente vorbringen konnte. Er wartete ab, bis Johnson sich diese Frage in Gedanken selbst beantwortet haben mußte, bevor er seine Antwort gab. »Damit ist alles gewonnen, Ed. Wir retten unsere Firmen, unsere Jobs und unseren zukünftigen Wohlstand.«

»Alles auf einmal? Wunderbar! Und dafür brauchen wir nur einen kleinen Massenmord zu verüben, was?«

»Das ist kein Witz, Ed.«

»Richtig, Mord ist kein Witz.« Johnson machte eine Pause.

»Und wie willst du erreichen, daß die Straton abstürzt? Im Augenblick verfügt die Trans-United leider weder über Lenkwaffen noch Abfangjäger.«

»Darauf kommen wir später zurück – falls du daran interessiert bist.« Metz sah zur Tür hinüber, als sei er bereit, den Raum zu verlassen.

Johnson ignorierte dieses stillschweigende Angebot. »Mich interessiert alles, was du sagst.«

Metz nickte. »Okay, hör gut zu. Die Beneficial kann ihren Verpflichtungen nachkommen, wenn diese Leute sterben. Die Versicherungsleistungen für dreihundert Todesfälle sind keine Kleinigkeit, aber dafür hätten wir unsere Rücklagen. Wir würden alles zahlen, ohne auf die Trans-United zurückzugreifen.« Er machte eine Pause. »Aber … falls diese Leute zurückkommen und falls der Pilot ihren Zustand richtig beurteilt, lasten ungeheure Verpflichtungen auf uns. Die Beneficial wäre pleite und …«

»Bevor sie alle Rechnungen bezahlt hätte?«

»Allerdings! Wir wären für diese dreihundert armen Teufel ihr Leben lang verantwortlich, Ed. Und wir müßten alle Angehörigen und die von den Verunglückten abhängigen Firmen und Organisationen entschädigen. Im Extremfall über einen Zeitraum von fünfzig bis sechzig Jahren hinweg!«

»Und die Trans-United würde für alles aufkommen müssen, was ihr nicht zahlen könntet?«

»Ganz recht. Außerdem müßtet ihr alles übernehmen, was über die vereinbarte Haftpflichthöchstgrenze hinausgeht. Diese Grenze liegt in eurem Fall sehr hoch, aber ihr überschreitet sie garantiert, wenn dieses Flugzeug landet.«

»Vielleicht doch nicht«, wandte Johnson ein.

»Ich rede hier von Milliarden, Ed. Milliarden! Außerdem möchte ich erwähnen, ohne daß du dich gleich aufregst, daß die Beneficial zweifellos versuchen würde, der Trans-United ein Mitverschulden nachzuweisen. Das bedeutet, daß wir euch die Hälfte der Kosten anhängen würden, indem wir euch vor Gericht zumindest Fahrlässigkeit nachweisen würden. Und das ist bestimmt nicht allzu schwierig. Die Bombe ist an Bord der Straton gelangt, weil eure Leute nicht aufgepaßt haben. Solche Fälle hat’s schon früher gegeben. Die Trans-United trifft ein erhebliches Mitverschulden. Unzureichende Sicherheitsmaßnahmen. Ungenügend ausgebildetes Personal. Unzulängliche Kontrollen.«

»Damit kommt ihr nicht durch!«

Metz zuckte mit den Schultern. »Darüber entscheidet ein Gericht. Wir brauchen uns deswegen nicht in die Haare zu geraten. Aber vergiß nicht, daß wir im Zeitalter der Haftpflicht und der automatischen Schuldzuweisungen leben. Ursache und Wirkung. Die moderne Logik besagt, daß irgend jemand schuld sein muß, wenn etwas schiefgeht. Glaubst du etwa, daß du vor Gericht mit der Version durchkommst, die Straton habe eben ungewöhnliches Pech gehabt? Du brauchst dir nur dreihundert sabbernde Kläger im Gerichtssaal vorzustellen … Nein, ihr fahrt mit uns in die Grube!«

»Das klingt ja reizend!«

»Im Versicherungsgeschäft wird mit harten Bandagen gekämpft. Und das erst recht, wenn man keinen Versicherungspool hinter sich hat.«

»Da haben wir Mist gemacht, stimmt’s?«

»Allerdings«, bestätigte Metz lakonisch.

Johnson ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Okay, versucht doch, uns Fahrlässigkeit nachzuweisen!«

Metz ging zur Tür. Er blieb mit einer Hand auf der Klinke stehen und wandte sich an Johnson. »Tut mir leid, daß ich dir diesen Vorschlag überhaupt gemacht habe, Ed. Wir können jetzt nur hoffen, daß die Straton einigermaßen heil herunterkommt, ohne daß es dabei zu viele Tote gibt. Wenn du uns allen einen Gefallen tun willst, schlägst du der Flugsicherung vor, die Maschine in der Nähe eines Rettungsschiffes notwassern zu lassen. San Francisco ist eine schöne Stadt. Ich möchte sie nicht in Flammen stehen sehen.«

Der Vizepräsident winkte ab. »Erspar mir deine Schreckensgemälde.«

»Okay, aber die Wahrheit kann ich dir nicht ersparen.« Metz machte eine Pause und schien in Gedanken versunken zu sein. »Wenn ich an die Haftung für ein paar tausend Menschen am Boden denke … über vierhundert Tonnen Metall und Treibstoff … großer Gott, das wäre eine Katastrophe! Stell dir das bloß vor! Sachschäden, die in Hunderte von Millionen gehen … Na ja, zum Glück ist die Maschine nicht bei uns kaskoversichert. Dadurch sparen wir uns ein paar Millionen Dollar. Andererseits besteht die Chance, daß die Straton auf dem Flughafen landet. Aber sie könnte in ein überfülltes Abfertigungsgebäude rasen oder andere Maschinen rammen. Dabei fällt mir übrigens etwas ein: Mußt du nicht die Flughafenverwaltung alarmieren, damit sie Vorbereitungen für eine Notlandung treffen kann? Und wie steht’s mit der Stadt San Francisco, dem Zivilen Bevölkerungsschutz und so weiter?«

Johnson gab keine Antwort, aber Metz hatte auch keine erwartet.

»Ist dir eigentlich klar, daß ihr auf jeden Fall haftet, wenn wir zahlungsunfähig geworden sind?« erkundigte sich der Versicherungsmann. Er schüttelte den Kopf. »Unser Bankrott stört mich nicht einmal. Die Beneficial kommt bestimmt irgendwie zurecht, indem der Konzern umgegliedert wird. Aber für die Trans-United ist dieser Fall eine Katastrophe. Das schlechteste Presseecho des Jahrzehnts! Kein Mensch interessiert sich für den Namen des betroffenen Versicherungsunternehmens, aber euer Firmenzeichen wird sich einprägen. Auf dem Titel von Time und Newsweek! Und das nicht nur ein, zwei Wochen lang wie bei einer gewöhnlichen Flugzeugkatastrophe. Nein, wenn die Maschine über San Francisco abstürzt oder – noch schlimmer – intakt landet … Kannst du dir vorstellen, wie die Anwälte diese armen Teufel auf Pressekonferenzen und bei Gerichtsverhandlungen vorführen werden? Dreihundert Menschen, die mit einem Schlag schwachsinnig geworden sind! Du kannst dich schon jetzt darauf gefaßt machen, daß du das nächste Jahrzehnt in Gerichtssälen verbringen wirst. Und in dieser Zeit dürfte kein Andrang an euren Schaltern herrschen. Wenn wir euch nicht mitreißen, erledigt euch die Presse. Wie viele Leute beschäftigt ihr übrigens hier?«

Nach dieser rhetorischen Frage holte der Versicherungsmann tief Luft.

»Mein Gott, man müßte sich fast wünschen, daß die Maschine allein abstürzt. Tot ist tot, verstehst du? Ein paar Wochen lang sensationelle Berichte in den Medien. Aber danach weiß kein Mensch mehr, welcher Fluggesellschaft die verunglückte Maschine gehört hat. Sieh mich an, Ed: Glaubst du, daß ich noch weiß, welche Gesellschaft den letzten großen Unfall gehabt hat? Der Durchschnittsbürger kann gar nicht zwischen einzelnen Fluggesellschaften unterscheiden. Auch zwischen Versicherungen nicht. Falls das Flugzeug ins Meer stürzt, versinken alle Tatsachen mit ihm. Dann gibt es nichts zu fotografieren. Niemand zu interviewen. Das langweilt die Medien. Die sonst bei Flugunfällen in Aktion tretende Untersuchungskommission kann nicht in Aktion treten, die Trümmer zusammensetzen und den Unfallablauf rekonstruieren. Der Flugschreiber mit allen seinen Daten ist weg. John Berry und die Besatzungsmitglieder sind tot. Niemand kann den genauen Ablauf rekonstruieren. Die Klärung der Haftpflichtfrage würde sich jahrelang hinziehen. Wir könnten der Firma Straton einen Teil der Schuld in die Schuhe schieben. Wir könnten das Verfahren jahrelang verschleppen und uns in allen Ehren pensionieren lassen, bevor es abgeschlossen wird. Aber falls John Berry auf dem San Francisco International Airport landet … na ja, wie willst du mit juristischen Tricks arbeiten, wenn der Beweis für die Fahrlässigkeit der Trans-United auf dem Vorfeld geparkt steht und die Nervenheilanstalten der näheren Umgebung kaum ausreichen, um die Opfer von Flug 52 zu fassen?«

Metz hatte noch nicht davon gesprochen, daß es vielleicht besser wäre, wenn diese Bedauernswerten durch den Tod erlöst würden. Das war ein diffiziles Argument, das er lieber in Reserve behielt. »Okay, Ed, jetzt liegen alle Karten auf dem Tisch. Laß dir die Sache durch den Kopf gehen. Ich wünsche dir alles Gute. Ich wünsche uns viel Glück.« Er schloß auf und öffnete die Tür einen Spaltbreit.

»Mach die verdammte Tür zu und komm her!«

Wayne Metz schloß die Tür und sperrte wieder ab. Er sah zu Johnson hinüber. »Traust du dir zu, Berry solche Anweisungen zu geben, daß die Maschine ins Meer stürzt?«

Der Vizepräsident nickte. Er hatte bereits darüber nachgedacht. »Ja, das müßte zu schaffen sein. Der arme Kerl kriegt gar nicht mit, was mit ihnen passiert.«