14
John Berry saß bewegungslos auf dem Platz des Flugingenieurs. Einen Augenblick bevor das Abfallen der Triebwerksleistung von den Instrumenten angezeigt wurde, nahm Berry sie instinktiv wahr und wußte genau, was mit der Straton passierte. Er spürte, daß die Maschine leicht gierte, bevor die Verzögerungskräfte auf seinen Körper einwirkten.
»John!« rief Sharon Crandall entsetzt. »Was ist los? Was ist passiert?« Das Instrumentenbrett vor ihr schien plötzlich nur noch aus blinkenden Lichtern und tanzenden Nadeln zu bestehen. Die Triebwerksanzeigen ließen ein rapides Abfallen der Schubleistung erkennen.
Der laute Hornton der Überziehwarnanlage füllte das Cockpit mit seinem bedrohlichen Blöken.
Linda Farley stieß einen schrillen Angstschrei aus, der das Warnsignal übertönte.
Im Salon begannen die Passagiere, ihr ohnehin unsicheres Gleichgewicht zu verlieren: Sie gingen zu Boden oder torkelten nach vorn gegen die Trennwand zum Cockpit. Aus dem Salon drang eine Kakophonie von Schmerz- und Angstlauten nach vorn.
Der Lärm gellte in Berrys Ohren, und die vielen Blinklichter blendeten ihn. Einige Sekunden lang war er wie gelähmt. Sein Magen rebellierte gegen den plötzlichen Übergang in einen steilen Sinkflug. Berry hatte Herzklopfen und eine trockene Kehle. Erst die volle Erkenntnis dessen, was man ihm angetan hatte, und der daraus entstehende Zorn brachten ihn wieder zur Besinnung. Er schlug mit der Faust auf die Arbeitsplatte des Flugingenieurs. »Scheißkerle! Verdammte Schweine!«
Sein Blick glitt über das Instrumentenbrett vor ihm. Fast alle Nadeln und Signallampen waren aktiv, aber ihre Anzeigen waren zu kompliziert, als daß er sie hätte erfassen können. Er sah nur, daß alle vier Triebwerke ausgefallen waren – und daß die Stromversorgung zusammenbrach, weil die von den Triebwerken angetriebenen Generatoren immer langsamer liefen. Berry atmete tief durch und wartete noch einen Augenblick, bis seine Hände nicht mehr zitterten. Dann stellte er den Notstromschalter und die vier Schalter für die Treibstoffventile nach oben zurück.
Crandall drehte sich nach ihm um. Sie mußte schreien, um das Warnhorn und Lindas Kreischen zu übertönen. »John, wir sinken! Stell die Schalter zurück! Beeil dich! Stell sie zurück!«
»Ich hab’ sie schon zurückgestellt«, antwortete Berry laut. »Nur keine Panik! Bleib ruhig sitzen. Linda! Halt den Mund!« Er starrte wieder die Instrumente an und wartete auf irgendein Anzeichen dafür, daß die Triebwerke wieder Schub lieferten. Aber er sah und spürte nichts. Der durch das Umlegen der Schalter verursachte Schaden ließ sich offenbar nicht so einfach rückgängig machen.
»John …«, schluchzte Crandall. »Tu doch was, John! Wir stürzen ab!«
Berry schwankte zwischen dem Bemühen, nicht an seinen bevorstehenden Tod zu denken, und dem Versuch, dieses Ende irgendwie zu vermeiden. Er strengte sich an, die Anzeigen der Blinkleuchten und Bordinstrumente zu deuten, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Pumpenantrieb. Treibstoff. Generator. Berry wußte nicht, was nicht in Ordnung war, aber er hatte keine Ahnung, was er dagegen unternehmen sollte. Nur das Bild eines Mannes in San Francisco, der sein Todesurteil in eine Maschine schrieb, hielt ihn davon ab, die Hände in den Schoß zu legen und das unvermeidliche Ende zu erwarten.
Die Lichter im Cockpit leuchteten schwächer, als Batterien den Ausfall der Generatoren zu kompensieren versuchten. Dann wurde es schlagartig erheblich dunkler, und Berry hörte ein neues Geräusch, das alle anderen übertönte. Er sah nach vorn. Die Straton war im Sinkflug in das erste Gewitter geraten, in dem Regen und Hagel gegen die Windschutzscheibe und die Rumpfoberseite hämmerten. Der Hagelschlag war so stark, daß Berry um die Windschutzscheibe fürchtete. »Festhalten! Festhalten!« rief er, obwohl er wußte, daß niemand ihn hören konnte.
Das Verkehrsflugzeug begann wild zu stampfen und rutschte gefährlich über die rechte Tragfläche ab, während sein Heck von links nach rechts gierte.
Berry hatte Angst, die Maschine könnte auseinanderbrechen, falls diese unkontrollierbare Turbulenz anhielt. Er sah Sharon Crandall zusammengekauert auf ihrem Platz hocken, wo sie sich krampfhaft an den Armlehnen festhielt. Linda Farley fand keinen richtigen Halt, wurde nach vorn und hinten geworfen und konnte von Glück sagen, daß sie angeschnallt war.
Der Autopilot nahm die notwendigen Korrekturen vor, so daß die Straton ihren Sinkflug ruhiger fortsetzte, obwohl sie weiterhin von Turbulenzen durchgeschüttelt wurde.
Berry holte tief Luft. Er spürte, daß er am ganzen Leib zitterte, als er jetzt wieder die Instrumente vor ihm anstarrte, um vielleicht etwas zu finden, das ihn darauf brachte, was in dieser Lage getan werden mußte. Er war sich darüber im klaren, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb, bis die Straton ins Meer stürzte.
Dann hörte er eine Stimme, die den Hagelschlag, das Blöken der Überziehwarnanlage und das Kreischen aus dem Salon übertönte, indem sie ständig ein einziges Wort schrie. Berry sah nach vorn. Sharon bemühte sich, durch wilde Gesten seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er las ihr das Wort Autopilot von den Lippen ab.
Berrys Blick fiel auf die Mittelkonsole zwischen den Piloten-sitzen. Dort brannte das gelbe Warnlicht, das den Ausfall des Autopiloten anzeigte. »Scheiße!« Da die Generatoren keinen Strom mehr lieferten, wurde die für den Autopiloten nötige Betriebsspannung unterschritten, so daß er sich ausschaltete. Damit hatten sie keine Chance mehr, eine kontrollierte Notwasserung durchzuführen. Berry rief Sharon zu: »Halt das Steuer fest! Halt das Steuer fest!« Er schnallte sich los und stand auf.
Durch die Bewegungsenergie der Straton war der Sinkflug einige Sekunden lang stetig geblieben, aber jetzt wirkte sich die Turbulenz störend aus. Das Flugzeug richtete sich mit dem Bug auf, so daß Berry beim ersten Schritt gegen die Cockpittür geworfen wurde, die leicht nachgab. Dann rollte die Maschine nach rechts, und er prallte gegen das Instrumentenbrett des Flugingenieurs. Berry wollte sich an der Rückenlehne von Crandalls Sessel festhalten, verlor schon vorher das Gleichgewicht und taumelte rückwärts gegen Linda Farley. Dann rollte er über ihre Knie nach vorn und blieb zwischen den beiden linken Sitzen liegen.
Crandall beobachtete ihn kurz, wandte sich wieder ab und starrte nach vorn. Das große, schwarze Steuerhorn des Kopiloten bewegte sich von selbst, als sei der Autopilot noch eingeschaltet. Aber das gelbe Blinklicht zeigte ihr, daß das nicht der Fall war. Sie griff danach und hielt es mit beiden Händen umklammert.
Berry schaffte es, sich aufzurappeln und sich an der Rückenlehne des Pilotensitzes festzuhalten. Das Flugzeug behielt seinen steilen Anstellwinkel bei, während er in den Sitz zu klettern versuchte. Er wußte, daß die Eigenstabilität der Straton ausreichte, um diese Fluglage noch einige Sekunden lang beizubehalten, aber wenn es ihm nicht gelang, ans Steuer zu kommen, konnte die Maschine durchsacken, über eine Tragfläche abrutschen oder ins Trudeln geraten. »Halt das Steuer fest, Sharon! Halt das Steuer fest!«
Sie bemühte sich, das Steuerhorn festzuhalten, aber es vibrierte jetzt so stark, daß sie es nicht richtig in den Griff bekam.
Inzwischen war es Berry gelungen, über die Lehne nach vorn zu klettern. Dann traf der erste starke Aufwind die Straton wie ein Faustschlag. Das große Verkehrsflugzeug wurde wie ein Spielzeug hochgehoben, um im nächsten Augenblick fast senkrecht durchzusacken. Berry schwebte plötzlich über dem Pilotensitz, stieß fast gegen die Decke und krachte zwischen den Sitzen zu Boden. Er blieb benommen und desorientiert liegen, wußte nicht, wo oben und unten war, und bemühte sich vergeblich, auf die Beine zu kommen. Er sah Linda Farleys Gesicht über ihm und hörte, daß sie seinen Namen kreischte.
Sharon Crandall umklammerte das Steuerhorn, machte seine Bewegungen zunächst noch mit und leistete dann immer mehr Widerstand, um die Ausschläge zu verringern. Sie konzentrierte sich auf das größte Bordinstrument vor ihr, das jeder kannte, der schon einmal auf dem Kopilotensitz gesessen hatte: den Wendehorizont. Das Gerät zeigte an, daß die Straton im Vergleich zum Horizont keineswegs waagrecht in der Luft lag. Aber in den Wolken fehlte ihr jegliches Gefühl dafür, ob der Anstellwinkel groß oder klein war und ob eine der Tragflächen hing. Sharon wußte nur, daß sie abstürzen würden. Wenn John Berry nicht am Boden gelegen hätte, hätten sie sich sogar im Rückenflug befinden können, so groß war Crandalls Desorientierung.
Sie hielt das vibrierende Steuerhorn fest, aber ihre Arme und Schultern taten bereits weh. Sie wußte, daß sie etwas tun mußte, bevor das Flugzeug abstürzte. Nach einem weiteren Blick auf den Wendehorizont kam sie zu dem Schluß, die Maschine fliege zu steil angestellt und mit hängender linker Tragfläche, obwohl das Gegenteil zutreffen konnte, falls sie die Anzeige falsch deutete. Crandall drückte das Steuerhorn mit aller Kraft nach vorn und drehte es gleichzeitig nach rechts.
Im ersten Augenblick fürchtete sie, falsch geraten zu haben, weil der künstliche Horizont sich noch weiter in die falsche Richtung bewegte. Aber dann kam die Horizontlinie rasch zurück. Die Vibrationen hörten auf, und das Flugzeug wurde nur noch durch Turbulenzen erschüttert. Sharon umklammerte das Steuerhorn krampfhaft mit beiden Händen.
Berry rappelte sich auf und spürte, daß die Maschine viel ruhiger in der Luft lag. Er sah rasch zu Linda hinüber. Sie war kreidebleich und würgte vor Angst. Berry kletterte rasch in den Pilotensitz, schnallte sich an und griff nach dem Steuerhorn. Es schien leicht zu zittern – bis er merkte, daß in Wirklichkeit seine Hände zitterten. Berry holte mehrmals tief Luft, bis er wieder sprechen konnte. »Sharon …, Sharon …«, sagte er heiser. Aber dann fehlten ihm die Worte. Crandall ließ das Steuer los, lehnte sich zurück und versuchte, sich auf die bevorstehende Notwasserung vorzubereiten. Alle möglichen Verhaltensmaßregeln gingen ihr durch den Kopf, aber sie wußte, daß sie keine Zeit haben würde, sie auch wirklich anzuwenden. Sie streckte die linke Hand nach Berrys Arm aus und drehte sich dann nach Linda um.
Die Kleine starrte sie an. »Fallen wir ins Meer?«
»Ja. Halt dich gut fest.«
Berry spürte die vertrauten Ruderkräfte und erkannte, daß dies sein erster Versuch war, die riesige Straton selbst zu fliegen. Der Warnton wurde leiser, und die Lichter brannten schwächer, als die Batteriekapazität des todgeweihten Flugzeugs sich erschöpfte. Im Cockpit wurde es ruhiger, weil sie sich jetzt unterhalb der eigentlichen Gewitterzone befanden. Aus dem Salon hörte Berry das Jammern der Verletzten. Er nahm eine Hand vom Steuer und stellte die Scheibenwischer an. Durch Regenschleier und Wolkenfetzen glaubte er, hin und wieder das aufgewühlte Meer zu sehen. Sein Herz klopfte wie rasend. Er zwang sich zu einem Blick auf den Höhenmesser. »4000 Fuß«, sagte er laut. Sie sanken mit etwa 12 Metern in der Sekunde. »In zwei Minuten sind wir unten. Haltet euch fest! Sharon … die Schwimmwesten …«
»In dem orangeroten Beutel an der Rückwand.«
Er drehte sich um, sah den grellroten Beutel an der Wand und erkannte den kleinen Notausgang neben dem Platz des Flugingenieurs. »Sobald wir im Wasser sind, holst du die Schwimmwesten. Ich öffne den Notausgang. Linda, du bleibst sitzen, bis wir dich holen.«
Crandall griff nach seinem Arm. »John … John, ich hab’ Angst.«
»Reg dich nicht auf. Um Himmels willen, bleib ruhig.« Berry hielt das Steuerhorn mit beiden Händen fest. Er wußte, daß er an die Wasserung und ihre Überlebenschancen nach der Notwasserung hätte denken sollen. Aber er war in Gedanken noch immer bei den ausgefallenen Triebwerken. Die Treibstoffzufuhr ist unterbrochen gewesen. Aber jetzt funktioniert sie wieder. Was fehlt sonst noch?
Ein grellweißer Blitzstrahl vor dem linken Fenster ließ ihn zusammenzucken. Aber noch während der Donner verhallte, setzte Berry sich ruckartig auf. Er hatte plötzlich ein Bild aus seiner Heimatstadt Dayton, Ohio, vor Augen: Er rollte mit seinem alten Buick, dessen schwache Batterie nicht mehr genügend Strom abgab, einen Hügel hinunter, schaltete die Zündung ein, ließ die Kupplung kommen und hörte den Motor anspringen. »Sharon! Die Zündschalter! Die Zündschalter! Schnell, steh auf!« Berry sah auf den Höhenmesser. Sie waren bei 2000 Fuß.
Als Crandall sich losschnallte und aufstand, sank die Straton eben aus der Wolkendecke. Jetzt konnte Berry die Meeresoberfläche deutlich erkennen. Unter den Wolken war die Turbulenz geringer, so daß die Maschine verhältnismäßig ruhig flog. Aber selbst aus dieser Höhe waren die weißen Schaumkronen der sturmgepeitschten Wogen auszumachen.
Sharon Crandalls Hand lag auf Berrys Arm. Als er ihrem Blick begegnete, war er sich darüber im klaren, daß sie ihm bedingungslos vertraute, denn sie mußte als Stewardess wissen, daß sie kaum Aussichten hatte, die Wasserung unangeschnallt zu überleben.
»Hinten auf dem Schaltpult findest du vier Schalter, die als Zündschalter gekennzeichnet sind«, erklärte Berry ihr mit klarer, ruhiger Stimme. »Aber beeil dich!«
Sie war mit zwei Schritten am Arbeitsplatz des Flugingenieurs und suchte das Schaltpult ab. »Wo denn? Wo? John …«
Er schloß die Augen und versuchte, sich das Schaltpult vorzustellen. Dann drehte er sich danach um. »Unten links! Unten links! Vier Schalter mit gelben Leuchten. Gelb! Gelb! Alle vier einschalten!«
Crandall fand die Schalter, bedeckte sie mit einer Hand und betätigte alle vier gleichzeitig. »Zündung ein!«
Berry sah auf den Höhenmesser. 900 Fuß. Die Sinkgeschwindigkeit war leicht zurückgegangen, aber sie hatten auch etwas Geschwindigkeit verloren. In weniger als einer halben Minute würde die Straton ins Meer stürzen. »Bleib sitzen und schnall dich an!« rief er Sharon zu. Dann beobachtete er die Instrumente, um zu sehen, ob die Triebwerksanzeigen sich bewegten. Er überlegte angestrengt, was noch zu tun sein konnte, damit die Triebwerke gezündet wurden, aber ihm fiel nichts mehr ein. Berry konzentrierte sich auf die vier Fernthermometer, deren Zeiger sich langsam nach oben bewegten. »Zündung! Die Triebwerke arbeiten wieder!« Aber er wußte, daß es einige Zeit dauern würde, bis die Düsentriebwerke auf Touren kamen und genügend Schub lieferten – vielleicht mehr Zeit, als ihnen noch blieb.
Er warf einen Blick auf den Höhenmesser. 250 Fuß. Die Fluggeschwindigkeit war auf 210 Knoten zurückgegangen, und sie sanken jetzt langsamer, aber Berry spürte, daß er die Maschine bald überziehen würde. Im nächsten Augenblick ertönte bereits wieder das Blöken der Überziehwarnanlage. Berry war sich darüber im klaren, daß er das Steuerhorn nach vorn hätte drücken müssen, um die Geschwindigkeit zu erhöhen, aber das konnte er sich so dicht über dem Meer nicht mehr leisten. Statt dessen zog er das Steuer leicht zu sich heran und sah, daß der Flugzeugbug sich hob. Die Straton begann heftig zu vibrieren; ihr ganzer Rumpf zitterte so stark, daß Berry die Instrumente fast nicht mehr ablesen konnte. Hier kämpften die Schwerkraft und der wachsende Triebwerkschub gegeneinander. Aber der Höhenmesser zeigte Berry, daß die Schwerkraft siegen würde. Nur mehr 100 Fuß.
Berry sah aus dem Seitenfenster. In Wirklichkeit schien er sich viel tiefer über dem Meer zu befinden. Er hatte den Eindruck, die unter ihm vorbeirasenden schaumgekrönten Wogen griffen bereits nach den Tragflächen. Er sah nach vorn. Riesige Wellenberge wälzten sich heran, türmten sich auf und brachen gischtend zusammen. Schon die Berührung mit einem dieser Ungetüme mußte bewirken, daß die Straton so viel Geschwindigkeit verlor, daß ihr Absturz unvermeidlich wurde.
John Berry überflog die Anzeigen. Die Triebwerksleistung war gestiegen, die Fluggeschwindigkeit war gut, aber sie verloren weiter an Höhe. Er zog das Steuerhorn vorsichtig etwas zurück, um den Anstellwinkel zu vergrößern. Das war ein unsicherer Drahtseilakt, bei dem ein Fehltritt bedeutete, daß sie mit über 200 Knoten Geschwindigkeit ins Meer stürzten.
Die Überziehungswarnanlage blökte weiter. Auch das starke Rütteln, das Berry fast das Steuer aus der Hand schlug, hielt unvermindert an. Der Höhenmesser stand auf Null, obwohl Berry sich schätzungsweise noch sieben bis acht Meter über dem Wasser befand. Er merkte, daß die Straton es nicht schaffen würde, weil ihre Triebwerke noch immer zuwenig Schub lieferten, um das Sinken aufzuhalten. In seiner Erregung stieß Berry wilde Beschimpfungen gegen die Maschine aus. Dann drehte er sich nach Crandall um und brüllte: »Such die Nachbrenner! Die Nachbrenner!«
»Ich hab’ sie!« antwortete Sharon fast augenblicklich.
»Einschalten!« wies Berry sie an. Dann fügte er hinzu: »Klar zum Wassern!« Crandall betätigte die vier Schalter.
Berry hörte und spürte ein zweistufiges Dröhnen, als die Nachbrenner zu arbeiten begannen. Er hatte keine Vorstellung davon, was als nächstes passieren würde.
Sharon verriegelte den Drehsitz des Flugingenieurs und rief Linda zu: »Runter mit dem Kopf! Mach’s wie ich!« Sie hob schützend ihre Arme über den Kopf und überzeugte sich mit einem raschen Blick, daß die Kleine ihrem Beispiel folgte.
Berry fühlte, daß er leicht gegen die Rückenlehne seines Sitzes gedrückt wurde. Als Treibstoff hinter den vier Turbinen eingespritzt und gezündet wurde, erhöhte sich die Triebwerksleistung um ein Drittel. Die Straton 797 wurde schneller, und Berry zog das Steuerhorn zu sich heran, sobald das Vibrieren schwächer wurde. Der Flugzeugbug hob sich, und das Meerschien unter ihnen zu versinken. Das Blöken der Überziehwarnanlage war nur mehr gelegentlich zu hören und verstummte endlich ganz. Der Höhenmesser zeigte 100 Fuß und kletterte weiter. »Wir steigen! Wir steigen wieder! Wir haben’s geschafft!«
Sharon Crandall hob langsam den Kopf. Sie spürte den zunehmenden Andruck, als die Maschine weiter beschleunigte. »Lieber Gott, ich danke dir«, schluchzte sie, während ihr Tränen übers Gesicht liefen.
John Berry hielt das Steuerhorn mit der linken Hand fest, streckte die rechte aus und legte die Finger auf die vier Leistungshebel. Zum erstenmal seitdem er auf diesem Platz saß, flog er die Maschine ganz allein.
»Nachbrenner aus!« rief er Sharon zu.
Sie betätigte wortlos die vier Schalter.
Die Straton wurde etwas langsamer, aber Berry schob die Leistungshebel nach vorn und spürte, daß das Flugzeug erneut beschleunigte. Er sah die Höhenmessernadel nach oben klettern. 500, 600, 750 Fuß. Berry lehnte sich zurück. Die unbekannten Schrecken dieses Wagnisses hatten sich als übertrieben herausgestellt.
Im Cockpit herrschte Schweigen. Die Lichter brannten hell; das Warnsignal war verstummt. Draußen tobte ein heftiges Gewitter, das sich in dieser niedrigen Höhe jedoch nur durch starken Regen und gelegentliche Böen bemerkbar machte. John Berry räusperte sich. »Jetzt fliegen wir nach Hause. Sharon … Linda, wie geht’s euch?«
»Mir ist schlecht«, antwortete die Kleine.
Crandall stand auf und ging zu ihr hinüber. Dabei merkte sie, daß sie selbst unsicher auf den Beinen war. Sie nahm Lindas Kopf zwischen die Hände. »Du bist nur ein bißchen luftkrank, Kleines. Aber das gibt sich gleich wieder. Du brauchst nur tief durchzuatmen. Siehst du, jetzt wird’s schon besser.«
Aus ihren Worten sprach die erfahrene Stewardess, aber ihr Tonfall war zumindest aufrichtig. »Komm lieber wieder nach vorn, Sharon«, forderte Berry sie auf. »Du hast dich lange genug als Flugingenieur amüsiert.«
Sie kam nach vorn zurück, lächelte ihm zu und setzte sich wortlos auf den Platz des Kopiloten.
Berry konzentrierte sich auf die Instrumente. Er ließ die Straton bis 900 Fuß steigen und hielt sie in dieser Höhe, bevor sie in die Wolkendecke eindrangen. Er horchte nach hinten, aber aus dem Salon drang kein Laut, der das Prasseln des Regens und die Triebwerksgeräusche übertönt hätte.
Er stellte die Scheibenwischer ab, experimentierte einige Minuten lang mit den Rudern und schaltete dann den Autopiloten ein. Als das gelbe Warnlicht erlosch, ließ Berry das Steuerhorn los und nahm die Füße von den Pedalen. Er reckte sich gähnend. Dann wandte er sich an Sharon. »Das war verdammt knapp, was? Du hast dich prima gehalten.«
»Wirklich? Davon weiß ich nichts mehr. Ich weiß nur, daß ich gekreischt habe.« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Was ist eigentlich passiert, John? Hast du etwa … nein … und ich hab’ dir alles vorgelesen …«
»Wir haben beide keinen Fehler gemacht – außer ihnen zuzuhören.«
»Was …?«
Das Klingelzeichen ertönte.
Sie wechselten einen Blick, bevor sie wie gebannt den kleinen Bildschirm anstarrten.
AN FLUG 52: WIE VERSTEHEN SIE UNS? BESTÄTIGEN SIE. SAN FRANCISCO
Berry zeigte auf den Bildschirmtext: »Diese Schweine! Diese Verbrecher!«
Crandall starrte ihn an, bevor sie den Text zum zweitenmal las. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, über die Ereignisse der letzten Viertelstunde nachzudenken, aber jetzt erfaßte sie instinktiv, was geschehen sein mußte. »John, wie konnten sie nur? Ich meine, wie … warum …?«
»Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, was für ein Idiot ich gewesen bin! Hawaii … Das hätte mich mißtrauisch machen sollen. Verlagerung des Schwerpunktes. Treibstoff umpumpen. Diese gottverdammten Lügner!«
Sharon nickte schuldbewußt. »Das ist auch meine Schuld gewesen. Ich habe dich dazu gedrängt, alles …«
»Nein. Ich habe ihnen auch vertraut. Aber das ist ein Fehler gewesen. Ich hätte’s wissen müssen. Ich hab’s gewußt, verdammt noch mal!«
»Aber warum? Um Himmels willen, warum haben sie das getan?«
Berry zeigte mit dem Daumen nach hinten. »Weil sie die nicht zurückhaben wollen.«
Crandall nickte erneut. Sie hatte flüchtig über diese Frage nachgedacht, ohne den Gedanken bis zu seinem logischen Ende zu verfolgen. »Was tun wir jetzt, John? Was sollen wir ihnen antworten?«
»Antworten? Ich denke nicht daran, eine Antwort zu geben!«
»Nein, John, wir müssen antworten. Sie sollen wissen, daß wir ihre Absichten durchschaut haben.«
Berry überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Irgend jemand, der uns erledigen will, hat die Situation dort unten in der Hand. Irgend jemand in der Nachrichtenzentrale eurer Fluggesellschaft. Eine Meldung bei diesem Mann – oder diesen Männern – ist so unsinnig, als wollte man jemand, der einen ins Wasser gestoßen hat, zurufen, daß man ertrinkt. Die anderen sollen gar nicht wissen, daß wir noch leben! Das ist unser Geheimnis, aus dem wir das Beste machen müssen.«
»Okay, wahrscheinlich hast du recht«, stimmte Sharon widerstrebend zu. »Aber ich wollte, wir könnten irgend jemand erzählen, was passiert ist. Falls wir nicht zurückkommen, erfährt kein Mensch davon …«
John Berry dachte an die Data-Link-Nachrichten. Er versuchte, die Meldungen in Gedanken zu rekonstruieren. »Selbst wenn wir zurückkommen, wird’s uns verdammt schwerfallen, jemand von der Wahrheit zu überzeugen. Dann steht eine Aussage gegen die andere – und wir sind die Leute, die an Sauerstoffmangel gelitten haben, und wir sind nicht imstande gewesen, die übermittelten Anweisungen zu befolgen.«
Crandall hatte inzwischen eine sehr klare Vorstellung von den Ereignissen. »Diese Schweine! Der Teufel soll sie alle holen!« Sie überlegte, wem aus der Trans-United-Hierarchie diese Gemeinheit zuzutrauen war. Dabei fielen ihr einige Namen ein, aber sie erkannte, daß der Kreis der möglicherweise Verantwortlichen sich nicht so leicht eingrenzen ließ. Als Täter kamen alle in Frage, die durch die Rückkehr der Straton etwas zu verlieren hatten.
Berry beschäftigte sich mit ihren Motiven. »Sie wollen wahrscheinlich nicht zugeben, daß ihre Sicherheitsvorkehrungen auf dem Flughafen ungenügend gewesen sind. Sie werden die Sache mit der Bombe herunterspielen – falls sie die Meldung überhaupt veröffentlichen – und versuchen, jemand anders die Schuld zuzuschieben. Zum Beispiel der Straton Aircraft Corporation. Ein bedauerlicher Konstruktionsfehler … Diese gemeine Heuchlerbande!«
»Mein Gott, ich kann’s kaum noch erwarten, bis wir zurückkommen und auspacken! Aber ob die Leute uns das glauben?« »Wir müssen versuchen, uns an alles zu erinnern, was wir gelesen haben, um es möglichst genau wiedergeben zu können.«
»Wir können ihnen den auf Papier geschriebenen Text zeigen«, warf Linda Farley plötzlich ein.
Crandall verstand nicht gleich, wovon die Kleine sprach. »Hast du alles mitbekommen, Linda?«
»Ja.«
Berry behielt die Instrumente im Auge, während er mit ihr sprach. »Diese Männer in San Francisco haben uns belogen, Linda. Sie haben versucht, uns … sie haben uns Anweisungen gegeben, durch die wir beinahe abgestürzt wären. Verstehst du das?«
»Ja.«
»Welchen Text meinst du?« erkundigte Sharon sich.
»Hinter dem Schrank dort drüben, wo ich vorhin geschlafen habe. Die Maschine hat geschrieben, während John getippt hat, und …«
»John! Hinter dem Schaltpult des Flugingenieurs steht eine Art Fernschreiber. Den hatte ich ganz vergessen!« Crandall sprang auf, ging nach hinten und warf einen Blick in den schmalen Raum zwischen Schaltpult und Außenwand. »Tatsächlich!« Sie griff hinein, riß den Papierstreifen ab und zog den beschriebenen Teil aus dem Auffangkorb. »John, hier steht alles!« rief sie ihm zu. »Jedes Wort!«
Berry nickte grinsend. Rache ist süß! »Zeig mal«, sagte er dann.
Crandall brachte ihm den an beiden Seiten gelochten, kaum postkartenbreiten Papierstreifen. Berry überflog die in Computerschrift ausgedruckten Texte. »Das sind anscheinend tatsächlich alle«, bestätigte er. Als er sich abwandte und nach vorn starrte, sah er Sharons Spiegelbild in der dunklen, nassen Windschutzscheibe.
Er beobachtete sie einige Sekunden lang – ihre Bewegungen, während sie die Fernschreibtexte las, und ihren Gesichtsausdruck. Er wurde sich bewußt, daß er Jennifer nicht mehr wollte.
Sharon faltete den Papierstreifen zusammen. »Wir müssen zurück, damit wir diese Leute entlarven können.«
»Richtig«, bestätigte er. Aber falls sie abstürzten und das Cockpit zerstört wurde, oder falls sie notwassern mußten, würden die Meldungen voraussichtlich vernichtet werden. Berry wandte sich an Crandall. »Gib mir den Streifen und hol uns Schwimmwesten.«
Crandall zog die orangeroten Schwimmwesten aus dem Beutel an der Cockpitrückwand. Sie beobachtete, wie John und Linda ihre anlegten, bevor sie selbst nach einer Schwimmweste griff. Dann holte sie den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Notfall-fach in der Trennwand und versorgte die kleine Platzwunde auf Lindas Stirn mit einem Pflaster. Sie kam mit dem Kasten nach vorn zu Berry. »Halt still, John. Du hast dir das Gesicht und den Arm aufgeschürft.«
Berry ließ sich geduldig mit einem Antiseptikum einpinseln. »Woher hast du den Kasten?«
»Aus dem Notfallfach.«
»Was enthält es sonst noch?«
»Nicht viel. Die eigentliche Notfallausrüstung ist an verschiedenen Stellen im Salon und den Kabinen untergebracht.« Als Crandall den Salon erwähnte, sah sie unwillkürlich zur Cockpittür hinüber. Sie hatte in ihrer Aufregung ganz vergessen, wie es dahinter aussah.
Berry gab ihr die zusammengefalteten Fernschreibtexte zurück. »Hier, am besten steckst du sie in den Beutel von Lindas Schwimmweste. Vielleicht findest du irgendwas, in das du sie wasserdicht verpacken kannst.«
Sharon verstand, daß er aufs Schlimmste vorbereitet sein wollte. Sie ging an das Fach hinter dem Beobachtersitz, holte mehrere Gegenstände heraus und brachte sie nach vorn zu Berry. »Da – eine wasserdichte Taschenlampe und Asbesthandschuhe.«
Er nickte zufrieden. »Ausgezeichnet!«
Crandall schraubte die Taschenlampe auf, nahm die Batterien heraus und steckte den zusammengefalteten Papierstreifen in die leere Hülse. Dann schraubte sie die Taschenlampe wieder zu, schob von beiden Enden je einen feuerfesten Handschuh darüber und sicherte das Päckchen mit Heftpflaster aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Zuletzt steckte sie es in den Beutel an Lindas Schwimmweste und schloß die Druckknöpfe. »Linda, du weißt, wie wichtig diese Unterlagen sind. Falls uns etwas zustoßen sollte, zeigst du sie …«
»Einem Polizisten«, warf die Kleine ein.
Sharon lächelte. »Richtig, einem Polizisten. Und sag ihm, daß der Inhalt sehr wichtig ist.«
Die Kleine nickte ernst.
Crandall kam nach vorn zurück und ließ sich in ihren Sitz fallen.
Berry griff nach ihrer Hand. »Diesmal hast du dir deine Flugzulage wirklich verdient.«
Sie erwiderte seinen Händedruck und lächelte. »Als du an Bord gekommen bist, habe ich mir gedacht: ›Der würde einen guten Piloten abgeben.‹«
»Ich bin dir aufgefallen, als ich an Bord gekommen bin?«
»Na ja …, du hast blaue Socken zu braunen Schuhen getragen.« Sie lachten beide. Dann lehnte Sharon sich zurück, horchte nach draußen, hörte die Triebwerke arbeiten und spürte ihr leichtes Vibrieren. Sie sah zu Berry hinüber. »John, kannst du mit der Straton landen?«
Berry starrte nach vorn. Der Regen ließ langsam nach, und der Himmel wurde heller. Das Meer unter ihnen schien weniger aufgewühlt zu sein. Er warf einen Blick auf das Wetterradar. Es zeigte weniger an als zuvor, und soviel er erkennen konnte, wurde das Wetter vor ihnen besser. »Das hängt von dem Wetter in San Francisco ab«, behauptete er. Aber er wußte recht gut, daß die Landung zum größten Teil von seinen Fähigkeiten abhing. Dann las er die Treibstoffanzeigen ab. »Außerdem weiß ich nicht, ob unser Treibstoff reicht. Die Nachbrenner haben enorm viel geschluckt. Und hier unten ist der Verbrauch auch höher. Andererseits können wir uns den Treibstoffverbrauch im Steigflug nicht leisten – und das Wetter dort oben könnte wieder schlecht werden.«
»Glaubst du, daß der Treibstoff bis San Francisco reicht?«
»Schwer zu sagen. Da spielen zu viele Unsicherheitsfaktoren mit. Aber ich wette mit dir um ein gutes Abendessen, daß wir wenigstens noch die Küste sehen, bevor uns der Sprit ausgeht.« Berry grinste, um sich nicht anmerken zu lassen, was er wirklich dachte. Er wußte, wie schlecht ihre Chancen standen. Russisches Roulett mit sechs Kugeln in der Trommel, falls sie weit von der Küste notwassern mußten. Mit fünf Kugeln, falls sie in Sichtweite des Festlandes aufs Wasser mußten. Mit vier Kugeln, falls sie …
»Und ich wette, daß du auf dem Flughafen landest! Ich möchte in New York im Four Seasons dinieren.«
Berry nickte. »Einverstanden.« Dann verschwand sein Lächeln. »Falls wir notwassern müssen, weiß ich’s so rechtzeitig, daß wir uns darauf vorbereiten können. So dicht vor der Küste werden wir bestimmt bald aufgefischt.« Aber er fragte sich, ob sie in der Nähe eines Schiffahrtsweges niedergehen würden. Und er dachte an Haie, ohne zu wissen, wie häufig sie vor der amerikanischen Westküste waren. Danach konnte er Sharon später fragen, wenn es soweit war. Je länger er über eine Notwasserung nachdachte, desto stärker wurde sein Verdacht, sie sei nicht das Ende, sondern erst der Anfang aller ihrer Probleme. Dann fiel ihm etwas anderes ein. Auch eine sichere Landung in San Francisco bedeutete noch nicht, daß sie in Sicherheit waren. »Sharon, wir müssen einen Plan machen. Wir müssen überlegen, was wir nach der Landung in San Francisco tun sollen.«
»Was?« Sie runzelte verwirrt die Stirn. Für sie erschöpfte sich ihre Aufgabe darin, die beschädigte Straton sicher zu landen. »Wie meinst du das? Wovon redest du überhaupt?«
»Diese Leute«, sagte er und zeigte auf den Bildschirm, »haben versucht, uns zu ermorden. Glaubst du, daß sie vor einem weiteren Versuch zurückschrecken, nur weil wir sicher gelandet sind?«
»Das ist doch verrückt!«
»Nein, durchaus nicht. Wir besitzen schriftliche Beweise, die sie unter allen Umständen vernichten müssen. Oder glaubst du, daß sie uns ungehindert von Bord gehen lassen, damit wir das Belastungsmaterial auf einer Pressekonferenz vorlegen können?«
»Was werden sie deiner Meinung nach tun?«
Berry zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, behauptete er. Aber er konnte sich vorstellen, welches Durcheinander nach ihrer Notlandung herrschen würde. Sie würden von Hunderten von Menschen umringt sein, ohne zu wissen, wer von ihnen versucht hatte, sie zu ermorden.
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Sharon ruhig, »aber ich bezweifle, daß sie etwas unternehmen werden. Zu viele Zeugen. Wenn wir aufkreuzen, werden sie so schnell wie möglich verschwinden.«
»Vielleicht.«
»Außerdem ist auch die Polizei da. Der können wir trauen.«
»Richtig«, stimmte Berry zu, ohne wirklich überzeugt zu sein.
Die beiden schwiegen einige Sekunden lang nachdenklich. Sharon fragte sich, ob John Berry vielleicht doch recht hatte. Vielleicht war es falsch, die Situation allzu rosig zu sehen. Bisher hatte er in vielerlei Beziehungen recht gehabt.
»Ich bin trotzdem dafür, daß wir einen genauen Plan zurechtlegen«, sagte Berry schließlich.
»Okay.« Wahrscheinlich hatte er auch diesmal recht. Sie mußten irgend etwas unternehmen, um nach der Landung ihres Lebens sicher zu sein. »John, ich habe eine Idee.«
»Ja?«
»Wir lassen die Cockpittür zugebunden und bleiben alle drei hier vorn. Wir können durchs Fenster nach draußen rufen, was wir zu sagen haben. Wir können schildern, wie man uns zu ermorden versucht hat.«
»Ja, das klingt gut. Sogar sehr gut.« Berry war mit dieser Lösung zufrieden. Sobald die Straton 797 zum Stehen gekommen war, würde er das Fenster öffnen und die ganze Geschichte in die Welt hinausschreien. Selbst wenn es den anderen gelang, ihn irgendwie zum Schweigen zu bringen – beispielsweise durch einen Scharfschützen –, konnten Sharon und Linda das gegen sie geschmiedete Komplott ans Tageslicht bringen. Viel wahrscheinlicher war allerdings, daß die Mörder die Flucht ergriffen, wenn sie sahen, wie aussichtslos ihr Vorhaben geworden war. Berry würde die Cockpittür erst öffnen, wenn der ganze Salon hinter ihnen voller Polizisten stand. »Ja, das müßte klappen, wenn wir zusammenbleiben. Wir dürfen niemand an uns heranlassen, bis wir wissen, wer diese Leute sind.«
»Einverstanden.« Crandall lächelte zufrieden. »Noch was?«
Berry sah sich im Cockpit um. Er bemühte sich, Vorkehrungen für alle denkbaren Fälle zu treffen? »Gibt’s hier vorn ein Schlauchboot oder eine Rettungsinsel?«
»Nein, die sind alle hinten.« Sharon machte eine Pause. »Die aufblasbare Rettungsrutsche unter dem Notausgang läßt sich auch als Rettungsfloß verwenden. Ich weiß nicht, ob sie viel taugt, aber sie wäre immerhin besser als gar nichts.«
»Ja, das stimmt.« Er überlegte kurz. »Bei ruhiger See traue ich mir eine Notwasserung zu. Am besten rekapitulieren wir das Verfahren gleich noch mal. Linda, hör gut zu, wenn Sharon uns jetzt …«
Das Klingelzeichen ertönte wieder.
AN FLUG 52: WIE VERSTEHEN SIE UNS? BESTÄTIGEN SIE. SAN FRANCISCO
Berry schüttelte den Kopf. »Diese Schweine! Ich würde am liebsten antworten, daß wir uns im Anflug auf San Francisco befinden. Was sie wohl dazu sagen würden?«
Crandall starrte den Bildschirm an. »Das ist so … furchtbar. Was für Menschen sind das? Wie kann man versuchen, Unschuldige zu ermorden …?«
John Berry antwortete nicht gleich. Er erinnerte sich an seine Überlegungen, ob es möglich sei, die Gewitterfront zu überfliegen. Hätte er ausreichend Treibstoff, Sauerstoff und Selbstvertrauen besessen, hätte er dieses Wagnis auf sich genommen. Bei dem Höhenflug wären vermutlich Dutzende von Passagieren umgekommen. Berry fragte sich, ob er wirklich besser als ihre unbekannten Feinde in San Francisco war. »Das ist manchmal eine Frage der Zweckmäßigkeit. Im allgemeinen spielen keine persönlichen Dinge mit. Vielleicht sollten wir die Sache nicht zu persönlich nehmen.«
»Ich nehme sie sehr persönlich!«
Unterdessen kamen wieder Geräusche aus dem Salon: unartikulierte Laute, Jammern und Stöhnen, Schmerzensschreie Verletzter und Kratzgeräusche an der Cockpittür. Berry hörte, daß jemand mehrere Klaviertasten anschlug, und bildete sich einen Augenblick lang ein, jemand versuche das Instrument zu spielen.
Berry war sich darüber im klaren, daß diese Menschen bei einer Notwasserung ertrinken würden, und er gestand sich ein, daß er sehr wenig – sogar überhaupt nichts – zu ihrer Rettung unternehmen würde. Er sah auf seine Armbanduhr. Sie zeigte
14.24 an. »Bis zur Küste sind’s noch ein paar Stunden.« Berry überlegte, was er für eine Landung auf einem Flughafen brauchte. Er überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß der Autopilot weiterhin eingeschaltet war, schnallte sich los und stand auf.
»Wohin gehst du?«
Berry mußte lachen. »Nicht weit fort, darauf kannst du dich verlassen!«
Sie lächelte über ihre naive Frage.
Er kniete nieder und tastete den Boden unter dem linken Pilotensitz ab.
»Was suchst du?« erkundigte Sharon sich.
»Flugsicherungskarten. Ich brauche die Frequenzen der Funkfeuer.«
»Die Funkgeräte sind ausgefallen.«
»Der Radiokompaß funktioniert vielleicht noch. Er ist von den Funkgeräten unabhängig.« Berry suchte weiter, stand aber mit leeren Händen auf. »Verdammt noch mal! Die Karten sind wahrscheinlich aus dem Cockpit gesaugt worden. Dabei bräuchten wir sie dringend.« Ihre Aussichten, den Flughafen San Francisco ohne sein Funkfeuer zu finden, waren sehr gering – selbst wenn sie genug Treibstoff gehabt hätten, um die Küste abzusuchen, was nicht der Fall war.
»Wie wichtig sind sie?«
»Wahrscheinlich kommen wir auch ohne sie zurecht.« Berry nahm wieder Platz. »Sobald wir in Küstennähe sind, können wir alle Funkfrequenzen absuchen. Wir finden bestimmt die richtige.« Aber er wußte, daß es zu viele Frequenzen gab und daß ihnen nicht genug Zeit blieb, um sie durchzuprobieren.
Crandall löste ihren Gurt. »Ich suche hier drüben.«
»Okay.«
Sie beugte sich nach vorn und tastete den Boden unter dem Kopilotensitz ab. »Nichts. Augenblick …« Sharon griff in den Spalt zwischen Sitzrand und Seitenkonsole. »Hier ist was, glaube ich.« Sie zog mehrere zerknitterte Karten aus dem Spalt und hielt sie Berry hin. »Hier!«
Berry griff rasch danach. »Das müssen die Funknavigationskarten des Kopiloten sein«, stellte er fest. Er dachte einen Augenblick an McVary, der draußen im Salon stand. Dies waren seine Karten – und dies war sein Cockpit. Jetzt gehörten Karten und Cockpit Berry, der irgendwie damit zurechtkommen mußte. Er faltete die Karten auseinander.
»Sind’s die richtigen?« fragte Sharon besorgt.
Er nickte lächelnd. »Hier liegt San Francisco.« Berry zeigte darauf. »Und das hier ist die Frequenz, die ich brauche.«
»Glaubst du, daß der Radiokompaß funktioniert?« erkundigte Sharon sich zweifelnd.
»Aus dieser Entfernung sowieso nicht. Ob er funktioniert, stellt sich erst später heraus.« Berry faltete eine der Karten so zusammen, daß das Gebiet um San Francisco gut zu überblikken war.
»Und wenn er nicht funktioniert?«
»Dann müssen wir uns eben durch Erdsicht orientieren. Würdest du markante Punkte entlang der Küste wiedererkennen?«
»Warum nicht? Ich habe sie schließlich schon oft genug aus der Luft gesehen.«
»Weißt du, ob wir nördlich oder südlich von San Francisco sind? Oder ob wir in der Nähe einer anderen Großstadt sind? In der Nähe irgendeines Flugplatzes?«
Crandall antwortete nicht gleich. »Das kann ich erst beurteilen, wenn wir dort sind«, antwortete sie schließlich.
»Am besten denkst du schon jetzt darüber nach.«
»Wird gemacht.« Sharon streckte ihre nackten Beine aus und lehnte sich in den Sitz zurück. »Können wir uns nicht ein bißchen unterhalten? Ich hab’s satt, immer nur an das zu denken, was uns bevorsteht.«
»Gut, meinetwegen. Ich bin sowieso fast arbeitslos.«
Sharon schloß die Augen. »Erzähl mir von … deiner Familie.«
Berry hätte lieber über etwas anderes gesprochen. Er lehnte sich ebenfalls zurück und überlegte, was er erzählen sollte. Sekunden später leuchtete die gelbe Warnlampe, die das Abschalten des Autopiloten anzeigte, erneut auf, und der Schalter sprang auf AUS. Berry griff hastig nach dem Steuerhorn. »Verdammter Mist!«
»Autopilot?«
»Ja.« Er wußte jetzt, daß er sich nicht mehr auf den Autopiloten verlassen durfte. Das Gerät war offenbar durch den Stromausfall defekt geworden. Berry blieb nichts anderes übrig, als die Straton 797 bis zur Landung selbst zu fliegen. Während er die Fluglage der Maschine korrigierte, hörte er hinter sich das hartnäckige Scharren an der Tür und die Dissonanzen auf dem Klavier. Beides ging ihm allmählich auf die Nerven. Dann ertönte wieder das Klingelzeichen, das eine Data-Link-Nachricht ankündigte.
»John? Sie schreiben uns wieder an.«
Er warf einen Blick auf den Bildschirm. Eine Wiederholung der Anfrage von vorhin. Die Dreckskerle versuchten noch immer, sie zu ködern, weil sie nicht wußten, ob es ihm vielleicht doch gelungen war, den Sturz der Straton in den Pazifik zu verhindern. »Der Teufel soll sie holen!« sagte Berry. Auch er nahm die Sache jetzt persönlich. Er wandte sich ab und starrte aus dem Fenster.