6

 

Obwohl Leutnant Matos die Straton 797 nicht direkt beobachtete, hatte er den Eindruck, die Verkehrsmaschine habe kurz eine leichte Schräglage eingenommen und sei danach in den Horizontalflug zurückgekehrt. Er starrte das Flugzeug an. Es lag waagrecht in der Luft. Ein Blick auf seinen Magnetkompaß zeigte ihm, daß der Kurs bei 325 Grad geblieben war. Nein, die Straton hatte keine Kurve geflogen. Das war eine Illusion gewesen. Matos rieb sich die Augen. Er litt offenbar schon anÜbermüdungserscheinungen.

Die F-18 fiel etwas weiter zurück und folgte der riesigen Verkehrsmaschine in etwa 1000 Meter Abstand. Um den von der Straton hervorgerufenen Luftwirbeln zu entgehen, ging Matos etwas höher. Der letzte von der Nimitz eingegangene Funkspruch war geradezu bizarr gewesen. Ein bizarrer Befehl in einer bizarren Situation. »Navy drei-vier-sieben, folgen Sie der Straton. Sorgen Sie dafür, daß Sie weder aus der Kabine noch aus dem Cockpit gesehen werden. Machen Sie keinen, ich wiederhole, keinen Versuch, mit der Straton Verbindung aufzunehmen. Bestätigen Sie diesen Befehl.« Matos hatte ihn bestätigt und kommentarlos ausgeführt. Wäre seine Position besser gewesen, hätte er wahrscheinlich Erläuterungen verlangt. Aber im Augenblick war er die Nummer eins auf Sloans berüchtigter Schwarzer Liste, und dieses Bewußtsein bewirkte eine vollständige psychologische Abhängigkeit und die Bereitschaft zu absolutem Gehorsam. Was Sloan verlangte, würde er bekommen. Sein Wahnsinn hatte sicher Methode.

Der Leutnant erfaßte intuitiv die feineren Nuancen in Sloans Tonfall, obwohl die Stimme des Commanders im Scrambler verzerrt und in Matos’ Funkgerät wieder entzerrt wurde. Sein Tonfall war weder barsch noch feindselig; er war eher freundschaftlich aufmunternd. Die Stimme schien zu sagen: Okay, Peter, du hast Mist gemacht, aber wenn du jetzt tust, was dir befohlen wird, läßt sich alles in Ordnung bringen.

Aber wie, zum Teufel, sollte irgend jemand – sogar Commander Sloan – dies in Ordnung bringen können?

Weil Matos jetzt Zeit zum Nachdenken hatte, wurde ihm klar, daß er nicht der einzige Beteiligte war, dessen Karriere ein abruptes Ende nehmen würde. Er hatte bisher nur an sich selbst gedacht, was unter den gegenwärtigen Umständen durchaus verständlich war. Jetzt sah er die Situation in ihrer ganzen Bedrohlichkeit. Er war der unmittelbar Betroffene, aber die Kettenreaktion würde Sloan und alle anderen erfassen, die das Pech gehabt hatten, im Raum E-334 anwesend gewesen zu sein. Ebenfalls betroffen war Kapitän Diehl, der Kommandant der Nimitz – vermutlich mit seinem ganzen Stab. Matos’ Phoenix-Treffer würde auch das Pentagon, das Marineministerium, das Verteidigungsministerium und vielleicht sogar das Weiße Haus erschüttern. Auf welcher Ebene die Entscheidung getroffen worden war, die weiterentwickelte Rakete heimlich zu erproben, mußte sich erst herausstellen. Aber alle, die dieser vertragswidrigen Erprobung zugestimmt hatten, waren mitschuldig. No es tu culpa, Pedro.

Aber obwohl Matos nicht genau wußte, wer diesen Versuch befohlen hatte und wie illegal er gewesen war, befürwortete er ihn aus Überzeugung. Er stellte sich vor, wie er vor einem Untersuchungsausschuß des Senats, des Repräsentantenhauses oder des Verteidigungsministeriums aussagen würde. Er würde seine Beteiligung als moralische Entscheidung im Dienste der nationalen Sicherheit rechtfertigen. Eine persönliche Entscheidung, die keine vertragliche Bindungen kannte. Er würde nicht sagen, er habe nur auf Befehl gehandelt. Das war ein Ausweg für Feiglinge. Matos fühlte sich allmählich als Patriot und Märtyrer. Er würde beweisen, was in ihm steckte, sobald die Senatoren ihn ins Kreuzverhör nahmen! Die Marine würde über seine Loyalität staunen. Sloan würde von seiner Verteidigung seiner Vorgesetzten beeindruckt sein. Peter Matos hatte das Gefühl, es endlich geschafft zu haben.

»Navy drei-vier-sieben.«

Sloans Stimme riß Matos aus seinem Wachtraum. »Verstanden.«

»Lagebericht.«

»Verstanden. Halte weiter Abstand. An der Straton keine Veränderung.«

»Verstanden, Ende.«

Matos starrte die Verkehrsmaschine an. Das war nur zum Teil seine Schuld. Irgend jemand an Bord des Flugzeugträgers hatte vergessen, auf den Flugplan der Straton 797 zu achten. Der Himmel war ein riesiger Schießplatz. Aber andere mußten dafür sorgen, daß der Übungsraum wirklich frei war.

Trotzdem wurde Matos den Verdacht nicht los, daß Commander Sloan etwas vorhatte, das nichts mit Untersuchungsausschüssen und Märtyrertum zu tun hatte. Er kannte Sloan gut genug, um sich in seine Gedanken versetzen und erraten zu können, wie sein nächster Befehl lauten würde. Aber Matos konnte sich nicht zu der logischen und endgültigen Schlußfolgerung in bezug auf die Straton 797 durchringen.

Er beobachtete das beschädigte Verkehrsflugzeug. Wenn es einfach weiterflog, mußte es irgendwann aus Treibstoffmangel abstürzen, und falls es keinen Notruf gesendet hatte … falls auf der Nimitz nichts weitergemeldet worden war … Warum hatte er den Unfall gemeldet? Verdammt ungeschickt.

Matos warf einen Blick auf seine Treibstoffanzeige. Er konnte die Straton nicht mehr allzu lange verfolgen. Aber er ahnte, daß Sloan genau das von ihm verlangen würde. Er würde bei der Verkehrsmaschine bleiben müssen, bis ihr Schicksal geklärt war.

In seinen Kopfhörern knackte es. Er spürte, daß er unwillkürlich zusammenzuckte. Er räusperte sich und wartete auf den Befehl.

»Navy drei-vier-sieben, hier Homeplate.« Sloans Stimme klang ruhig und gleichmäßig. Der Commander behielt Hennings im Auge, während er mit Matos sprach. »Zustand der Straton?«

»Zustand unverändert.«

»Verstanden. Erwarten Sie in Kürze Ihren Einsatzbefehl.«

»Verstanden.«

»Ende.« Sloan legte das Mikrophon weg und wandte sich an Hennings. »Wir müssen jetzt handeln, Admiral. Ich werde Leutnant Matos den Befehl geben, seine zweite Rakete ins Cockpit der Straton zu schießen. Ich bin davon überzeugt, daß an Bord dieser Maschine niemand mehr lebt. Wäre ein Pilot im Cockpit, hätte er längst einen Kurswechsel vorgenommen.« Er machte eine Pause und versuchte, Hennings’ Gesichtsausdruck zu deuten. »Ich möchte ein weiteres Argument anführen, das wir beide verstehen und mit dem wir uns abfinden können.« Sloan machte erneut eine Pause, bevor er im Gesprächston fortfuhr: »Wie Sie wissen, ist die Marine angehalten, Wracks zu versenken, die eine Gefahr für die Schiffahrt darstellen. Die Analogie trifft nicht ganz zu, aber dieses führerlose Flugzeug kann anderen Luftfahrzeugen gefährlich werden. Es befindet sich im Augenblick auf einer vielbeflogenen Route und …«

»Unsinn!« protestierte Hennings. Aber das klang keineswegs überzeugt.

»Die Straton könnte«, sagte der Commander unbeirrt, »sogar ins Radarfrühwarnsystem der Sowjetunion geraten. Natürlich gibt es dafür keinen Präzedenzfall, aber Sie können Gift darauf nehmen, daß die Marine oder Luftwaffe unter solchen Umständen den Abschuß eines derartigen Flugzeugwracks anordnen würde. Wir müssen es selbst beseitigen, weil es ein Luftfahrthindernis darstellt.« Sloan konnte nur hoffen, daß der pensionierte Admiral sich dadurch in seinem Sinne beeinflussen lassen würde.

Hennings gab keine Antwort, aber in seinem hageren Gesicht arbeitete es. Er erinnerte sich an einen Vorfall, an dem er kurz nach Pearl Harbor als junger Leutnant z. S. beteiligt gewesen war. Die Besatzung seines Schiffes, des Zerstörers Davis, war dabeigewesen, die Besatzung eines schwer beschädigten anderen Zerstörers zu retten. Der Zerstörer Mercer machte keine Fahrt mehr und stand in Flammen, aber er schien nicht sinken zu wollen, und die Japaner hatten eine Kampfgruppe aus einem Schlachtschiff, einem Kreuzer und zwei Zerstörern zu ihm in Marsch gesetzt. Die US Navy wollte natürlich nicht, daß die Japaner eines ihrer Kriegsschiffe enterten und amerikanische Seekarten, Einsatzbefehle, Chiffrierunterlagen und neuartige Geschütze erbeuteten. John Billings, der Kommandant des Zerstörers Davis, wußte genau, daß sich an Bord des brennenden Schiffes noch Verwundete und Eingeschlossene befanden. Die Geretteten berichteten auch, daß Roger Bartlett, der Kommandant des Zerstörers Mercer, der aus der gleichen Crew wie Billings stammte, noch an Bord sei. Hennings erinnerte sich noch deutlich daran, wie der Kommandant sich ohne zu zögern an seinen Artillerieoffizier gewandt und ihm ausdruckslos befohlen hatte: »Mercer versenken.«

Aber das war im Krieg gewesen. Dies war etwas anderes.

Aber im Grunde genommen befanden sie sich im Kriegszustand, auch wenn dieser Krieg nie erklärt worden war … Falls die Straton mit Radar verfolgt wurde, beim Absturz gesichtet wurde oder in der Nähe eines Schiffes abstürzte, konnten die Trümmer geborgen werden. In diesem Fall ließ sich rasch feststellen, wodurch der Absturz verursacht worden war. Und diese Spur würde irgendwann zur Nimitz zurückführen. Darauf wollte Sloan hinaus, wenn er von seinem Luftfahrthindernis schwatzte.

Und falls die Nimitz in Verdacht geriet, war der Teufel los. Amerika hatte die Angewohnheit, seine schmutzige Wäsche öffentlich zu waschen. Die Marine würde sich einem peinlichen Untersuchungsverfahren stellen müssen und von den Medien angegriffen werden. Die Russen würden begeistert sein. Sie würden behaupten – auch wenn sie’s nicht beweisen konnten –, die Straton sei von einer neuartigen Rakete getroffen worden, die nach dem Abrüstungsvertrag nicht hätte gebaut und erprobt werden dürfen.

Hennings wußte genau, was die Vereinigten Stabschefs dann sagen würden: »Warum haben Hennings und Sloan, diese beiden Idioten, die Straton nicht vom Himmel geholt?« Das würden sie niemals anordnen, aber sie erwarteten, daß ihre Untergebenen es selbständig taten. Irgend jemand mußte die Schmutzarbeit erledigen und die Männer ganz oben schützen. Sonst war Amerikas Verteidigungsfähigkeit in größter Gefahr.

Sloan hatte ihm lange genug Bedenkzeit gegeben. »Admiral?«

Randolf Hennings starrte ihn an. Wenn Sloan ihm nicht so unsympathisch gewesen wäre …, wenn dieser Vorschlag von einem charakterfesten Offizier gekommen wäre, hätte er leichter zustimmen können. Hennings räusperte sich. »Lassen Sie mir noch zehn Minuten Zeit.«

»Fünf.«

»Sieben.«

Sloan stellte die Countdown-Uhr auf sieben Minuten ein. Er ließ sie laufen.

Hennings nickte. Commander Sloan vergeudete weder Zeit noch Worte. »Wissen Sie bestimmt, daß Matos …?«

»Das stellt sich bald heraus. Aber ich würde mich wundern, wenn er nicht selbst zu der gleichen Schlußfolgerung gekommen wäre. Ich kenne Matos besser als er sich selbst kennt, obwohl ich bisher kaum mit ihm gesprochen habe. Matos hat den Ehrgeiz, zum Team zu gehören.« Er setzte sich und griff nach einem Notizblock. »Ich möchte, daß Sie mir helfen, den Befehl an ihn zu formulieren. Was wir sagen – und wie wir’s sagen –, kann entscheidend sein.«

 

»Wenn Sie mich überzeugt haben, Commander, können Sie bestimmt auch den bedauernswerten Piloten überzeugen. In dieser Beziehung brauchen Sie keine Unterstützung von mir.« Hennings kehrte Sloan den Rücken zu und öffnete den schwarzen Vorhang vor dem Bullauge. Er starrte aufs Meer hinaus und fragte sich, womit er es verdient hatte, so spät im Leben eine derartige Entscheidung treffen zu müssen. Die guten Jahre, die ehrlichen Jahre schienen nicht zu zählen, wenn man sie gegen diese Sache aufrechnete. Hennings dachte an die Straton. Wie viele Menschen waren an Bord? Dreihundert? Sie waren bestimmt schon tot. Aber nun würden ihre Angehörigen niemals erfahren, wo und wie sie den Tod gefunden hatten. Randolf Hennings hatte sie in ihr nasses Grab geschickt. Sie würden im Ozean liegen, wo so viele seiner Freunde lagen und wo er selbst zu liegen sich wünschte.

Jerry Brewster stand mit den Händen in den Hosentaschen in der kleinen Nachrichtenzentrale von Trans-United Operations und wartete darauf, daß die 500-Millibar-Karte mit dem Pazifikwetter ausgedruckt wurde. Die Arbeit in diesem Raum war der einzige Aspekt seiner Tätigkeit als Dispatcherassistent, der ihm nicht gefiel. Das Licht war zu grell, die Maschinen arbeiteten zu laut, und es roch hier unangenehm nach Chemikalien.

Die neue Karte war fertig. Brewster mußte noch warten, bis sie trocken war, bevor er sie aus der Maschine ziehen konnte. Jack Ferro hatte den neuesten Stand der Temperaturverteilung in mittleren Höhen verlangt, und Brewster wollte ihm die Angaben noch vor dem Mittagessen auf den Schreibtisch legen. Für Ferro gab Brewster sich alle Mühe: Er fand ihn nett, und der ältere Dispatcher war jederzeit bereit, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Brewster zog die frische Karte von der Walze, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger fest und ging mit ihr zur Tür. Hinter ihm ertönte ein Klingelzeichen, das sich auffällig von den Arbeitsgeräuschen der anderen Maschinen abhob. Brewster blieb stehen. Das war das Achtungssignal des Data-Links gewesen. Er horchte. Das Gerät hatte die Nachricht bereits geschrieben. Offenbar handelte es sich um eine sehr kurze Nachricht – nur ein paar Buchstaben oder Zahlen –, und Brewster wußte, was das bedeutete. Wieder eine Panne. Wieder nur Unsinn – vermutlich Teile einer längeren Meldung. Er wartete darauf, daß der Fernschreiber weiterklappern würde.

Nachdem die Trans-United ein Vermögen dafür ausgegeben hatte, um alle ihre Maschinen mit Data-Link-Geräten ausrüsten zu lassen, litt das System unter Kinderkrankheiten, die als »technische Schwierigkeiten« bezeichnet wurden. Brewster hätte dafür einen drastischeren Ausdruck benützt. Das Data-Link druckte verstümmelte Texte. Buchstaben oder ganze Sätze wurden endlos lange wiederholt. Zahlenkolonnen standen schräg oder auf dem Kopf. Das war beinahe komisch, wenn sie nicht dauernd den Wartungsdienst hätten anrufen müssen, damit er das verdammte Gerät reparierte. Zum Glück wurde es nur für Routinemeldungen benützt, so daß die meisten hier Beschäftigten es ignorierten. Auch Jerry Brewster ignorierte es zunächst.

Er ging zur Tür. Der Chemikaliengeruch in dem kleinen Raum reizte seine Schleimhäute und ließ seine Augen tränen. Brewster hatte es eilig, wieder ins Dispatcherbüro hinauszukommen. Er öffnete die Tür und zögerte dann. Das Data-Link gehörte zu seinen Zuständigkeiten. Okay, verdammt noch mal. Er warf die Tür ins Schloß, trat an das Gerät und las die eingegangene Nachricht:

SOS

Sonst stand dort nichts. Keine Identitätsnummer, keine Anschrift. Brewster war verwirrt und zugleich verärgert. Was sollte das sein? Ein Witz? Ein dummer Streich? Kein Verkehrspilot hätte wirklich SOS gesendet. Dieses archaische Kürzel stammte noch aus der Zeit der Dampfschiffahrt. Wer konnte so etwas für bare Münze nehmen?

Brewster rollte die Wetterkarte zusammen und klemmte sie sich unter den linken Arm. Er starrte das Data-Link an. Nein, ein Verkehrspilot hätte für einen Notruf die dafür vorgesehenen Frequenzen eines seiner vier Funkgeräte benützt, statt einem elektronischen Spielzeug ein altmodisches »Save Our Souls« anzuvertrauen. Und selbst wenn das Unmögliche eingetreten wäre und alle vier Funkgeräte ausgefallen wären, würde ein Pilot, der seine Meldung über Data-Link absetzte, ein längeres Fernschreiben mit der vorgeschriebenen Identitätsnummer schicken. Hier lag entweder ein Versagen des Geräts vor – oder ein Pilot hatte sich einen Scherz erlaubt. Einen üblen Scherz, bei dem er darauf vertraute, daß nur jemand in der Nachrichtenzentrale davon erfahren würde.

Brewster merkte, daß der Scherz auf ihn abzielte. Das brachte ihn auf. Er riß das Fernschreiben aus dem Gerät und starrte es mit zusammengekniffenen Augen an:

SOS

Idioten! Geschähe ihnen ganz recht, wenn ich sie melden würde. Brewster wußte allerdings nicht, ob sich feststellen ließ, von welcher Maschine dieser angebliche Notruf stammte. Jedenfalls war das ein dummer, verantwortungsloser Einfall, und der Pilot, der die Nachricht gesendet hatte, konnte sich auf einiges gefaßt machen, falls er erwischt wurde. Andererseits konnte das Gerät wieder einmal defekt sein. Warum sollte er sich weiter damit befassen? Falls er die Sache meldete, machte er sich bei den Besatzungen unbeliebt – und das konnte seine Beförderungschancen beeinträchtigen. Ferro hatte ihm eingebleut, die Piloten zu decken. Das würde sich früher oder später lohnen. Brewster war froh, daß Evans die Nachricht nicht gesehen hatte. Er knüllte das Fernschreiben zusammen, warf es in den Papierkorb und verließ den Raum.

Jack Ferro sah ihn aus der Nachrichtenzentrale kommen. »Jerry, kann ich die Temperaturen bald haben?«

Brewster nickte eifrig. »Klar, Mr. Ferro. Ich bin in ein paar Minuten fertig.« Er sah auf die Wanduhr. Drei vor zwölf. Sie würden beide zu spät zum Mittagessen kommen. Er entrollte die Wetterkarte auf seinem Schreibtisch, beschwerte die Ecken und machte sich daran, die gewünschten Temperaturen herauszuschreiben.

John Berry starrte die Wählscheibe des Data-Links an, mit der sich neue Codes einstellen ließen. Am besten änderte er den Code und schrieb eine neue Nachricht. Diesmal eine ausführliche Meldung. Er war sich darüber im klaren, daß sein impulsives SOS zu kurz, zu rätselhaft gewesen war. Berry sah sich nach einem Codeverzeichnis um, fand keines und erkannte, daß es vermutlich aus dem Cockpit gesogen worden war. Folglich blieb ihm nichts anderes übrig, als die Frequenzen nacheinander durchzuprobieren, jeweils eine Nachricht zu senden und nach dem gleichen System weiterzumachen. Irgendwann würde das Gegenstück dieses Geräts die Meldung empfangen und mitschreiben. Sobald Berry alle Frequenzen durchprobiert hatte, würde er sie nacheinander einschalten, um empfangsbereit zu sein. Das war eine recht plumpe Methode, die ihm jedoch viel besser als untätige Warterei erschien. Der Drang, sich erneut zu melden, wurde fast übermächtig. »Ich überlege gerade, ob ich’s mit einem anderen Kanal versuchen soll. Was halten Sie davon?«

Sharon Crandall warf einen Blick auf den leeren Bildschirm. »Warten Sie noch ein paar Minuten. Ich kann mich erinnern, daß die Piloten manchmal zehn Minuten oder noch länger auf eine Antwort gewartet haben.«

»Warum?«

»Na ja, sie haben keine wichtigen Meldungen geschrieben.« Crandall zuckte mit den Schultern. »Sie sollte nur schriftlich in der Nachrichtenzentrale vorliegen.«

»Kennen Sie die Nachrichtenzentrale in San Francisco?«

»Ja, wir Stewardessen haben sie einmal besichtigt. Dort stehen Funkgeräte, das Data-Link, Bildschreiber für Wetterkarten und ein normaler Fernschreiber.«

»Hmmm, ziemlich viele Geräte. Und wo befindet sich diese Nachrichtenzentrale genau?«

»Sie schließt ans Dispatcherbüro an.«

»Hat dort ständig jemand Dienst?«

Crandall überlegte. »Nein. Dort riecht es ziemlich nach Chemikalien. Aber die Dispatcher und ihre Assistenten gehen ein und aus.«

Berry nickte. »Okay, dann müssen wir warten, bis jemand unser SOS entdeck. Wo steht das Data-Link?«

»Mitten im Raum. Unübersehbar.«

»Na, hoffen wir das Beste!«

Crandall fühlte sich in die Defensive gedrängt, obwohl sie keinen rechten Grund dafür erkannte. Sie versuchte, sich auf die Bordinstrumente zu konzentrieren. Vielleicht fiel ihr noch etwas ein. Aber die Bezeichnungen über den Schaltern und Instrumenten blieben rätselhaft. »Hier! Daran erinnere ich mich. Das ADF ist eine Art Funkgerät, glaube ich.«

Berry rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Ja, das ADF zeigt die Richtung zu oder von einem nichtgerichteten Funkfeuer an. Vielleicht können wir es später brauchen.«

»Oh.« Sie lehnte sich zurück. »Ich mache mir Sorgen um Barbara. Wir haben schon lange nichts mehr von ihr gehört.«

Berry fand die Cockpituhr, aber sie schien eine falsche Zeit anzuzeigen. »Wie spät ist es?«

Sie sah auf ihre Uhr. »Sechs Minuten nach zwölf. Pazifik-zeit.«

Er runzelte die Stirn. Die Borduhr stand auf 20.06 Uhr; sie schien acht Stunden vorzugehen. Dann wurde ihm klar, daß sie auf Mittlere Greenwichzeit eingestellt war, nach der sich alle Fluggesellschaften richteten. Berry schüttelte angewidert den Kopf. In diesem Cockpit schien es lauter unnütze Geräte zu geben. Die Funkgeräte boten ihm Frequenzen an, auf denen sie dann nicht sendeten. Die Wendezeiger schlugen nicht aus. Die Uhr zeigte ihm, daß in diesem Augenblick auf der anderen Seite der Erde am Picadilly Lichtreklamen blinkten und eine Weltstadt dabei war, sich in abendliche Vergnügungen zu stürzen. Diese nutzlosen Informationen machten ihn nervös. Er merkte, daß er in ein Stimmungstief geraten war, und bemühte sich, etwas Positives zu sagen. Er räusperte sich. »Wenigstens ist das Wetter gut, und wir haben noch etwas Tageslicht vor uns. Wenn das alles nicht passiert wäre …«

»Richtig«, bestätigte Crandall ohne große Begeisterung.

Beide schwiegen bedrückt. Sie spürten, daß der andere nervös war, und waren trotzdem zu befangen, um sich gegenseitig zu ermuntern. Berry wünschte sich, Stein könnte seinen Posten verlassen und nach vorn ins Cockpit kommen. Crandall wünschte sich, Yoshiro würde so rasch wie möglich zurückkommen. Keiner von ihnen war vermessen genug, sich zu wünschen, der Unfall wäre nie passiert; keiner von ihnen war dankbar, mit dem Leben davongekommen zu sein. Ihr einziger Daseinszweck schien daraus zu bestehen, sich Sorgen über ihre nächsten Maßnahmen zu machen.

Berry stemmte sich in seinem Sitz hoch und warf einen Blick in den Salon. »Wie steht’s bei Ihnen, Mr. Stein?« rief er.

»Unten scheinen sie ruhig zu sein«, antwortete der andere. »Hier oben auch. Der Zustand des Kopiloten ist unverändert.«

»Rufen Sie bitte Barbara Yoshiro.«

Harold Stein rief mehrmals ihren Namen und horchte nach unten. Dann drehte er sich nach Berry um. »Nichts zu hören.«

Sharon nahm den Hörer des Bordtelefons ab. »Ich weiß nicht, wo ich anrufen soll.«

»Versuchen Sie’s mit irgendeiner Station.«

Crandall entschied sich für Station 6 im Heck der Maschine und drückte auf den Rufknopf. Sie wartete. Nichts. »Soll ich die anderen durchprobieren oder bei Nummer sechs bleiben?«

»Woher soll ich das wissen, verdammt noch mal?« fragte Berry ungeduldig.

»Ich habe Angst um sie.«

Berry schüttelte irritiert den Kopf. »Ich bin von Anfang an dagegen gewesen, daß sie nach unten geht. Sie ist jetzt ein Teil des Problems geworden, anstatt zu seiner Lösung beizutragen.« Er holte tief Luft.

Sharon Crandall stand auf. »Ich muß sie suchen.«

Berry hielt sie am Arm fest. »Nein! Sie bleiben gefälligst hier. Ich brauche Sie im Cockpit.« Er starrte sie an, und Sharon erwiderte seinen Blick. Sie verstanden sich auch ohne Worte: Berry hatte jetzt das Kommando übernommen.

Crandall ließ sich langsam zurücksinken. »Okay«, sagte sie und nickte dabei. Die Spannungen zwischen ihnen waren plötzlich verschwunden. Sharon fühlte sich seltsam ruhig und John Berry sehr nahe. Seine Hand, die noch immer auf ihrem Arm lag, war zu einem Anker geworden, der ihr Halt gab, wenn ihre Emotionen die Überhand zu gewinnen drohten. Sie wußte, daß diese stärkende Wirkung auch anhalten würde, wenn Berry seine Hand wegnahm.

»Versuchen Sie’s jetzt mit den übrigen Stationen«, forderte Berry sie ruhig auf. »Ich mache einen neuen Versuch mit dem Data-Link – auf anderen Frequenzen. Vielleicht haben wir eher Glück, wenn wir etwas dafür tun.« Berry nahm seine Hand von Sharons Arm, um einen anderen Kanal zu wählen.

Jack Ferro überlegte, ob er den Piloten von Flug 52 noch etwas länger Zeit lassen sollte. Er sah zu Brewster hinüber. »Wie funktioniert das Data-Link heute?«

Brewster, der in seine Arbeit vertieft gewesen war, hob den Kopf. »Was?«

»Wie funktioniert das Data-Link heute?« wiederholte der Dispatcher.

»Oh.« Er zögerte. »Nicht besonders, Chef. Vorhin ist wieder eine verstümmelte Nachricht eingegangen.«

»Okay.« Ferro wandte sich an Evans. »In zehn Minuten rufst du sie über Funk, Dennis. Aber freundlich, verstanden?«

»Immer freundlich, Chef.«

»Ja, ja, ich weiß schon.«

Jerry Brewster legte seinen Kugelschreiber weg, stand ruckartig auf und verschwand in der Nachrichtenzentrale. »Eigentlich bloß Zeitverschwendung«, murmelte er vor sich hin. Er setzte sich an das Data-Link-Gerät, sah auf einen Blick, daß keine weiteren Meldungen eingelaufen waren, und stellte die Automatik ein. Nun sendete das Gerät von selbst auf der Frequenz, auf der die letzte Nachricht – das rätselhafte SOS – eingegangen war. Brewster wußte allerdings, daß dieses Verfahren nur funktionierte, solange der Kanalwähler an Bord des Flugzeuges nicht betätigt worden war. Er überlegte kurz und tippte dann eine knappe Anfrage.

WER SIND SIE?

Dieser Satz erschien auf der Papierrolle seines Fernschreibers. Berry glaubte, ein kaum wahrnehmbares Pulsieren der Maschine zu spüren, und zuckte von dem Kanalwähler zurück, als habe er sich die Finger daran verbrannt.

Das Klingelsignal, das eine eintreffende Nachricht ankündigte, ertönte zweimal. Es schien das Cockpit der 797 mit Sphärenklängen zu füllen.

Sharon Crandall stieß einen verblüfften Schrei aus.

John Berry atmete schwer und hatte einen Klumpen im Hals.

Auf dem Bildschirm erschienen Buchstaben.

Sharon griff nach Berrys Hand.

WER SIND SIE?

Berry wäre beinahe aufgesprungen. »Wer sind wir?« Er lachte unwillkürlich. »Das sollen sie gleich erfahren!« Seine Finger lagen bereits auf der Tastatur. »Welche Flugnummer haben wir, verdammt noch mal?«

»Zweiundfünfzig. Schnell! Beeilen Sie sich um Himmels willen, bevor sie abschalten!« Crandall hatte zum erstenmal Tränen in den Augen und schluchzte leise vor sich hin. Sie beobachtete, wie John Berry mit zitternden Fingern eine kurze Antwort tippte.

»Großer Gott!« Jerry Brewster beugte sich über den Fernschreiber, als seine Anfrage beantwortet wurde.

VON FLUG 52: MAYDAY. FLUGZEUG BESCHÄDIGT. FUNK AUSGEFALLEN. POSITION MITTLERER PAZIFIK. BRAUCHEN HILFE. WIE VERSTEHEN SIE MICH?

Brewster riß das Fernschreiben von der Rolle und starrte es an. Er hatte Herzklopfen, als er aufsprang und zur Tür lief. Aber dann kehrte er um und setzte sich erneut an das Data-Link. Er wußte, daß die Besatzung auf eine sofortige Bestätigung wartete. Das war in dieser Situation nur verständlich. Seine Finger schienen ihm nicht recht gehorchen zu wollen, als er die Antwort tippte.

AN FLUG 52: MAYDAY VERSTANDEN. BLEIBEN SIE AUF DIESEM KANAL EMPFANGSBEREIT.

Er drückte auf den Sendeknopf und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, damit das Gerät diesmal einen guten Tag hatte.

Sobald er sah, daß seine Antwort ausgedruckt wurde, lief er zur Tür.

Brewster platzte in das große Dispatcherbüro hinein und rief: »Ruhe! Alles herhören! Flug 52 hat Mayday gesendet!« Im Büro herrschte schlagartig Schweigen. Ein Telefon klingelte, ohne daß sich jemand darum kümmerte.

Jack Ferro sprang auf. Sein Drehstuhl rollte zurück und kam erst am nächsten Schreibtisch zum Stehen. »Was ist passiert?« Er kam rasch auf Brewster zu.

Der andere hielt aufgeregt das Fernschreiben hoch. »Hier! Vom Data-Link!«

Ferro griff hastig danach und überflog die Meldung. Er räusperte sich, bevor er sie laut vorlas: »Mayday … Flugzeug beschädigt … Funk ausgefallen. Position mittlerer Pazifik – das ist Flug zweiundfünfzig.« Ferro war nicht einmal sonderlich überrascht. Im Unterbewußtsein war ihm das Ausbleiben der von Flug 52 erwarteten Routinemeldung von Minute zu Minute bedrohlicher erschienen. Trotzdem hatte er den Entschluß, die Situation durch einen Funkspruch zu klären, immer wieder vor sich hergeschoben. Das Bestreben, bis zuletzt anzunehmen, alles sei in bester Ordnung, war ein ganz natürlicher Drang.

Die anderen Dispatcher hatten zunächst betroffen geschwiegen. Jetzt waren die meisten von ihnen aufgesprungen und redeten erregt durcheinander.

Ferro wandte sich an Brewster.

»Haben Sie geantwortet?«

»Ja. Ja, ich habe den Empfang bestätigt und sie aufgefordert, empfangsbereit zu bleiben.«

»Gut, ausgezeichnet.« Ferro sah sich unsicher um. Alle anderen starrten ihn an. Er war der dienstälteste Dispatcher – und Flug 52 war sein Flug. So war Ferro doppelt zuständig. Das bestimmte jedenfalls ihre Dienstanweisung. Aber solche Dinge liefen nie nach Plan ab. Aus irgendeinem Grund war der Notruf nicht als Funkspruch über die Flugsicherung, sondern direkt als Fernschreiben im Data-Link-Verfahren eingegangen. Deshalb wußte Ferro nicht recht, was er als nächstes unternehmen sollte.

Dennis Evans, sein Stellvertreter, sprach mit ausdrucksloser Stimme, die das allgemeine Stimmengewirr trotzdem mühelos durchdrang. »Ich schlage vor, daß wir ein paar Leute verständigen. Schnellstens.«

Ferro runzelte die Stirn. Evans konnte verdammt lästig sein, aber diesmal hatte er recht. »Okay, Dennis, du übernimmst die Benachrichtigung«, wies er energisch an. »Du hast ja die Liste der Stellen, die wir anrufen müssen. Am besten sagst du ihnen …« Ferro warf einen Blick auf das Fernschreiben in seiner zitternden Hand. Er wußte, daß er sehr behutsam vorgehen mußte. Von diesem Augenblick an würden Hunderte von Menschen – von ihren Vorgesetzten bei der Fluggesellschaft über Regierungsbeamte bis hin zu Presse, Rundfunk und Fernsehen

– jede ihrer Reaktionen beobachten, jeden ihrer Atemzüge kommentieren. Jack Ferro und sein Dispatcherbüro standen plötzlich im Rampenlicht. Er nickte Evans zu. »Du sagst allen, daß wir noch keine näheren Informationen über die Art des Notfalls haben. Die blanken Tatsachen genügen. Zweiundfünfzig hat seinen Notruf über Data-Link blind abgesetzt. Flugzeug beschädigt, brauchen Hilfe. Aber die Maschine fliegt und sendet noch, deshalb ist der Notfall vielleicht nicht ganz so schlimm.« Ferro machte eine Pause und sah sich in dem großen Raum um. »Captain Stuart ist unser bester Pilot.«

Evans griff nach dem Hörer des Telefons und begann zu wählen.

»Los, wir haben’s eilig!« Ferro nickte zur Nachrichtenzentrale hinüber und ging voraus.

Brewster stand neben Ferro, als der Dispatcher sich an den Fernschreiber setzte. Ein Dutzend Kollegen zwängte sich in den kleinen Raum und bemühte sich, einen Platz zu finden, von dem aus es den Fernschreibverkehr verfolgen konnte.

Ferro lockerte seine Krawatte. »Ist der richtige Kanal noch eingestellt?«

Brewster nickte. »Ja, Sir.« Er fragte sich, wann er den Mut aufbringen würde, seine anfängliche Nachlässigkeit einzugestehen.

Jack Ferro begann zu schreiben.

AN FLUG 52: ERKLÄREN SIE ART DES NOTFALLS, ART DER BENÖTIGTEN HILFE? TREIBSTOFFVORRAT? GEGENWÄRTIGE POSITION?

Ferro drückte auf den Sendeknopf und lehnte sich zurück. In dem kleinen Raum herrschte gespanntes Schweigen. Einige Dispatcher zündeten sich Zigaretten an. Jemand machte eine halblaute Bemerkung.

Als das Klingelzeichen eine ankommende Nachricht ankündigte, drängten alle dichter heran.

Jack Ferro gab Brewster ein Zeichen. »Schalten Sie auf den Bildschirm um. Ich bleibe hier am Gerät. Alle anderen treten zurück und lesen auf dem Bildschirm mit. Ich brauche Platz, um schreiben zu können.«

Der Bildschirm an der Rückwand des kleinen Raumes leuchtete auf. Die weißen Computerbuchstaben erschienen im gleichen Augenblick auf dem grünen Untergrund, in dem sie von dem Fernschreiber geschrieben wurden.

VON FLUG 52: ZWEI PILOTEN BEWUSSTLOS. FLUGINGENIEUR TOT. ICH BIN EIN PRIVATPILOT. FLUGZEUG HAT ZWEI LÖCHER IM RUMPF. VERMUTE BOMBE. KEIN BRAND. SCHLAGARTIGER DRUCKABFALI. VERWUNDETE UND WOTE. ALLE GEISTIG BEHINDERT AUSSER ZWEI STEWARDESSEN, ZWEI FLUGGÄSTEN UND MIR. SUCHEN KABINE NACH ANDEREN AB. BRAUCHE ANWEISUNGEN, UM DIE MASCHINE FLIEGEN ZU KÖNNEN. AUTOPILOT EINGESCHALTET. HÖHE 11 000 FUSS, GESCHWINDIGKEIT 340 KNOTEN, MISSWEISENDER KURS 325 GRAD. TREIBSTOFF ETWA HALB VERBRAUCHT. POSITION UNBEKANNT.

Die Dispatcher blieben erstarrt stehen, sahen zum Bildschirm auf und lasen die Nachricht schweigend zum zweiten- und drittenmal durch. Jeder von ihnen hatte sich automatisch Gedanken darüber gemacht, welcher Notfall vorliege und wie darauf zu reagieren sei. Aber als die Worte. Zwei Piloten bewußtlos, Flugingenieur tot erschienen, waren alle herkömmlichen Notfallmaßnahmen hinfällig. Im Unterbewußtsein schrieben alle Anwesenden die Straton 797 bereits ab.

Ferro starrte den ausgedruckten Text an. »Eine Bombe!« wiederholte er tonlos. »Löcher im Rumpf. Explosive Dekompression. Großer Gott!« Er war sich darüber im klaren, daß er schon früher gemerkt hätte, daß mit Flug 52 irgend etwas nicht stimmte, wenn er die ausgebliebene Treibstoff- und Positionsmeldung zeitgerecht angefordert hätte. Jetzt fragte er sich, ob das Einfluß auf das Endergebnis hätte haben können. Er las den Text erneut durch und schüttelte den Kopf. »Dekompression. In dieser Höhe! Dann müssen die meisten tot oder …«

Dennis Evans kam herein. »Alle sind benachrichtigt«, meldete er. »Johnson ist hierher unterwegs. Ich habe mich absichtlich vage ausgedrückt. Ungeklärter Notfall. Vielleicht nicht allzu schlimm.«

»Ich hab’ mich getäuscht«, stellte Ferro ruhig fest. Er deutete auf den Bildschirm.

Evans kniff die Augen zusammen. Er las den Text zweimal. »Verdammter Mist! Wie kann die …«

»Das hilft uns jetzt nicht weiter«, unterbrach Ferro ihn. »Wir müssen sie irgendwie runterholen. Ich bitte um Vorschläge. Wer hat eine Idee?«

Keiner meldete sich.

Brewster räusperte sich. »Können wir ihre ungefähre Position bestimmen?«

»Ja, das ist eine gute Idee«, bestätigte Ferro. »Das würde uns weiterhelfen. Haben Sie die letzte gemeldete Position?«

Brewster nickte. »Ja, Sir.« Er warf einen Blick auf sein Schreibbrett. »Die Meldung ist fast eineinhalb Stunden alt, aber wir können versuchen, aufgrund der jetzt gemachten Angaben eine neue Position zu errechnen.« Er deutete auf den Bildschirm. »Daraus läßt sich keine exakte Position bestimmen, aber wir hätten immerhin einen besseren Anhalt.«

»Okay, fangen Sie an, Jerry.«

Brewster notierte sich die Angaben aus dem von Flug 52 gesendeten Notruf. »Eines steht jedenfalls fest«, meinte er als er fertig war. »Sie fliegen in die falsche Richtung.« Er wandte sich ab und verließ den Raum.

»Er hat recht«, warf Evans ein.

»Allerdings«, bestätigte Ferro kühl. Er war sich darüber im klaren, daß er bald eine Entscheidung würde treffen müssen.

»Vielleicht wär’s besser, wenn du sie auf Gegenkurs gehen lassen würdest«, schlug Evans vor.

Ferro starrte den Fernschreibtext an. Hier gab es keine Patentlösung, und er hatte in seiner jahrzehntelangen Erfahrung noch keinen derartigen Fall erlebt. Im Augenblick konnte er nur an die Konsequenzen für sich und die Besatzung sowie die Passagiere der Straton denken. »Der Mann ist nur ein Privatpilot. Die Maschine könnte dabei außer Kontrolle geraten.« Seine Finger trommelten auf das Data-Link. »Wir brauchen noch keine Entscheidung zu treffen. Der Autopilot kann eingeschaltet bleiben, bis wir ihre Position ungefähr bestimmt haben. Vielleicht kommen die Piloten wieder zu Bewußtsein …«

Evans schlug mit der flachen Hand auf das Gerät. »Verdammt noch mal, Jack! Wir haben keine richtige Vorstellung von den Treibstoffreserven an Bord, und die 797 fliegt in die falsche Richtung. In die Arktis oder nach Sibirien. Wir müssen unter allen Umständen dafür sorgen, daß sie umkehren, bevor sie den Punkt erreichen, an dem keine Umkehr mehr möglich ist.«

Aber Ferro schüttelte den Kopf.

»Der Pilot hat gemeldet, daß die Tanks halbvoll sind. Damit kann er San Francisco oder einen Flugplatz in Kanada oder Alaska erreichen. Wir wissen noch nicht genug, um eine rationale Entscheidung treffen zu können.«

»Dafür reichen die Informationen vielleicht nie aus. Hör zu, Jack, wir …« Evans sprach nicht weiter. Er hatte dem alten Jack Ferro bisher stets nur aus Sport zugesetzt, weil es ihm Spaß gemacht hatte, seinen Chef ein bißchen zu ärgern. Aber jetzt erkannte er plötzlich, daß es hier um Leben und Tod ging, daß er noch nie eine Entscheidung dieser Art zu treffen gehabt hatte und daß er diese Verantwortung nicht hätte übernehmen wollen. Evans sah ein, daß Jack Ferro als dienstältester Dispatcher eine schwere Last auf seinen Schultern trug. »Du mußt tun, was du für richtig hältst, Jack«, fuhr er leiser fort. »Du bist der Boss.«

Ferro nickte. »Wir brauchen weitere Informationen.« Er wußte, daß seine Vorgesetzten bald eintreffen würden. Was war, wenn sie fragten: »Warum, zum Teufel, haben Sie sie nicht umkehren lassen, Jack?« Er wollte nicht als Zauderer dastehen. Dann wäre er erledigt gewesen. Aber er wollte auch nicht zu impulsiv entscheiden. Er brauchte weitere Informationen! Wie gut war der Pilot? Wie schwer war das Flugzeug beschädigt? Wieviel Treibstoff war tatsächlich noch vorhanden? Wo befand sich die Maschine im Augenblick? Ferro sah auf die Wanduhr.

Die Bosse würden bald eintreffen.

Brewster stürmte herein. Alle drehten sich nach ihm um. Er las seine Berechnungen von einem Zettel ab. »Der Koppelort der Straton: 47 Grad zehn Minuten nördlicher Breite, 168 Grad 27 Minuten westlicher Länge. Bisher zurückgelegte Strecke: rund 2500 nautische Meilen. Auf der Grundlage der letzten Treibstoffmeldung und der inzwischen dazugekommenen Flugzeit beträgt die Mindestflugzeit jetzt noch sechseinviertel Stunden. In ungefähr 45 Minuten dürfte der Punkt erreicht sein, an dem keine Umkehr nach San Francisco mehr möglich ist. Die Mindestflugzeit kann je nach Windeinfluß länger oder kürzer sein. Zum Glück fliegt die Maschine bereits mit der für den Verbrauch günstigsten Geschwindigkeit. In größerer Höhe wäre die Reichweite besser, aber ich vermute, daß sie wegen der Löcher im Rumpf nicht zu halten ist. Wir können nur hoffen, daß die Treibstofftanks unbeschädigt sind, denn sonst …« Er hielt den Zettel mit seinen Berechnungen hoch. »Sonst ist das alles Makulatur.«

Ferro sah zu dem Bildschirm auf. Dort stand die letzte Meldung von Flug 52 in weißer Schrift auf dunkelgrünem Untergrund. Die Worte schienen drängend zu pulsieren, als er sie anstarrte. Er setzte sich zurecht und schrieb eine kurze Anfrage.

KÖNNEN SIE DEN KURVEN-KONTROLLKNOPF DES AUTOPILOTEN IDENTIFIZIEREN UND BENÜTZEN?

Sekunden später ertönte das Klingelzeichen.

JA.

Aufgeregtes Murmeln im Hintergrund. Ferro schrieb die nächste Frage.

KÖNNEN SIE DIE MASCHINE ABFANGEN, FALLS SIE AUSSER KONTROLLE GERÄT?

Auch diesmal kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

ZWEIFELHAFT.

Ferro drehte sich auf seinem Stuhl um und sah zu den anderen Dispatchern auf.

 

»Na, was haltet ihr davon?«

»Ich würde mich auf den Autopiloten verlassen«, stellte der junge Brewster fest.

»Ziemlich riskant«, meinte ein anderer Dispatcher. »Vielleicht sind die Ruder der Straton beschädigt.«

Jack Ferro schrieb eine neue Anfrage.

VERMUTEN SIE SCHÄDEN AN RUDERN UND/ODER KLAPPEN DER MASCHINE?

Das Klingelsignal ertönte erst nach über einer Minute, die den Wartenden wie eine Ewigkeit vorkam.

LOCH IM RUMPF AN BACKBORD NAHE DER TRAGFLÄCHENVORDERKANTE. ZWEITES LOCH GEGENÜBER. STEUERBORDLICH GRÖSSER, KEINE SCHÄDEN AN RUDERN UND/ODER KLAPPEN ZU ERKENNEN.

Einer der Dispatcher räusperte sich.

»Irgendwann muß er eine Kurve fliegen. Wir können ihm keine weiteren Anweisungen geben, wie er den Knopf drehen soll. Falls er die Kontrolle über die Maschine verliert, ist’s für Flugunterricht ohnehin zu spät – selbst wenn unser Chefpilot hier säße.«

Mehrere seiner Kollegen nickten zustimmend.

»Ich glaube, daß es am besten wäre, wenn sie hierher unterwegs wären, wenn die Bosse eintreffen«, warf Evans in weniger scharfem Tonfall ein. »Alles weitere muß sich daraus ergeben. Wenn er nicht einmal mit dem Autopiloten zurechtkommt …« Er zuckte vielsagend mit den Schultern.

Ferro überzeugte sich mit einem Blick davon, daß niemand anderer Meinung war, und schrieb wieder.

AN FLUG 52: SCHLAGEN VOR, DASS SIE AUF GEGENKURS GEHEN, AUSSER KURSWECHSEL ERSCHEINT IHNEN ZU GEFÄHRLICH. EMPFEHLEN MISSWEISENDEN KURS 120 GRAD. GENAUER KURS FOLGT, SOBALD TURN ABGESCHLOSSEN. AUTOPILOTEN EINGESCHALTET LASSEN UND KURVE MIT KURVEN-KONTROLLKNOPF DES AUTOPILOTEN FLIEGEN. TRAUEN SIE SICH DAS ZU? TEILEN SIE UNS IHRE ABSICHTEN MIT.

Während die Dispatcher auf eine Antwort warteten, diskutierten sie darüber, wodurch die Straton beschädigt worden sein konnte. Jemand brachte eine Karte des mittleren Pazifiks herein und markierte darauf die letzte bestätigte Position der 797. Brewster zeichnete auch die von ihm errechnete Position ein. Einige Dispatcher verließen widerstrebend die Nachrichtenzentrale, um andere Flüge zu betreuen und an die wie verrückt klingelnden Telefone zu gehen. Aus anderen Abteilungen kamen Neugierige herüber, die jedoch gleich wieder fortgeschickt wurden. Die Antwort von Flug 52 ließ lange auf sich warten, aber die Männer konnten sich vorstellen, was in dem Piloten vorging, während er zu einer Entscheidung zu gelangen versuchte. Ferros Finger trommelten nervös einen Marsch auf dem Data-Link-Gehäuse.

Als das Klingelzeichen eine Antwort ankündigte, sahen alle gespannt auf den Bildschirm.

VON FLUG 52: HABE KURVEN-KONTROLLKNOPF DES AUTOPILOTEN ZUVOR MIT 10 GRAD KURSÄNDERUNG UND RÜCKKEHR GETESTET, FUNKTION SCHEINT EINWANDFREI. WERDE IHN BENÜTZEN, UM MISSWEISENDEN KURS 120 GRAD ZU STEUERN. LEITE TURN IN KÜRZE EIN.

Danach folgte eine kurze Pause, bevor das Gerät erneut zu schreiben begann.

FÜR DIE AKTEN: MEIN NAME IST BERRY, BEI MIR SIND DIE STEWARDESSEN CRANDALL UND YOSHIRO. PASSAGIERE SIND H. STEIN UND L. FARLEY.

Ferro starrte die letzten drei Zeilen an. Wahrscheinlich war es ein natürliches menschliches Bedürfnis, sich zu erkennen zu geben, gewissermaßen zu sagen: So heiße ich, und falls mir etwas zustößt, sollen Sie wenigstens wissen, mit wem Sie gesprochen haben … Er schrieb zwei kurze Worte.

VIEL GLÜCK