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Wie ein Silberfisch vor dem blauschwarzen Horizont der Stratosphäre schwimmend, raste der Trans-United-Flug 52 auf Westkurs nach Japan.
Durch Lücken in der Wolkendecke sah Captain Alan Stuart unter sich glitzernde Wasserflächen des sonnenbeschienenen Pazifiks. Über ihm erstreckte sich die Stratosphäre – ein nahezu sauerstoffloses Nichts ohne Sonne oder Leben. Die durch die Überschallgeschwindigkeit der gigantischen Maschine fortwährend erzeugte Stoßwelle löste sich unsichtbar von den Tragflächen und sank ungehört als Schallteppich in den mittleren Pazifik hinab.
Captain Stuart überprüfte die Anzeigen seiner Instrumente. Die Maschine war vor zwei Stunden und 20 Minuten in San Francisco gestartet. Die Straton 797 flog mit einer Reisegeschwindigkeit von Mach 1,8 mit 1900 Stundenkilometern. Die doppelt vorhandenen Trägheitsnavigationssysteme zeigten übereinstimmend an, daß Flug 52 den Bereich der ersten Karte verlassen hatte. Das im Niederfrequenzbereich arbeitende Omega-Verfahren ergab die gleiche Position. Stuart faltete seine Navigationskarte des östlichen Pazifiks zusammen und steckte sie in die Kartentasche zurück. Während er die nächste herauszog, warf er erneut einen Blick auf die elektronische Positionsanzeige: 161° 14’ W, 43° 27’ N – 3350 Kilometer westlich von Kalifornien, 2400 Kilometer nördlich von Hawaii. »Die Position stimmt«, stellte er fest.
Erster Offizier Daniel McVary, der Kopilot, sah zu ihm hinüber. »Dann müßten wir in einer knappen Stunde in Chicago landen.«
Stuart rang sich ein Lächeln ab. »Du hast die falsche Karte, Dan.« Fliegerhumor war ihm zuwider. Er entfaltete die neue Karte für die Höhennavigation über dem mittleren Pazifik und studierte sie mit der Bedächtigkeit eines Mannes, der mehr Zeit als Aufgaben hat. Die Navigationskarte enthielt lediglich ein Gradnetz, denn Flug 52 hatte alle markanten Punkte, die Kartographen hätten einzeichnen können, längst hinter sich gelassen. Und aus ihren fast 20 Kilometern Flughöhe war auf diesem Teil der Strecke ohnehin kein Land zu sehen. Captain Stuart wandte sich an Ersten Offizier McVary. »Hast du die Meldungen für die Sektoren vier und fünf empfangen?«
»Ja. Sie sind auf dem neuesten Stand.« Er reckte sich gähnend. Stuart nickte. Er dachte an seine Heimatstadt San Francisco zurück. Gestern vormittag war er im Fernsehen in einer Talk-Show aufgetreten. Er war nervös gewesen und erinnerte sich jetzt an Einzelheiten des Gesprächs, als sehe er sie als Wiederholung auf dem Bildschirm.
Der Interviewer hatte sich wie üblich mehr für die Straton 797 als für ihn interessiert, aber daran hatte Stuart sich inzwischen gewöhnt. Er dachte an die Standarderklärungen, die er sich für solche Fälle zurechtgelegt hatte. Die Straton hatte kaum etwas mit der alten englisch-französischen Concorde gemeinsam. Sie erreichte die gleiche Flughöhe, aber sie flog etwas langsamer – und um so wirtschaftlicher. Auf der Grundlage aerodynamischer Erkenntnisse der siebziger Jahre hatten die Straton-Ingenieure ein langsameres, aber größeres Flugzeug entwickelt, das Luxus mit Wirtschaftlichkeit vereinte.
Die Straton 797 beförderte 40 Fluggäste in der Ersten Klasse und 285 in der Touristenklasse. Im Rahmen des Interviews hatte Stuart auch das Oberdeck mit dem Cockpit und dem Salon der Ersten Klasse erwähnt. Zur Einrichtung des Salons gehörten eine Bar und ein Klavier. Eines Tages würde er einemInterviewer aus reinem Übermut erklären, dort gebe es auch einen offenen Kamin und einen Swimmingpool.
Stuart hatte aus dem Werbematerial des Flugzeugherstellers zitiert, wenn ihm nichts anderes mehr eingefallen war. Die Straton 797 flog schneller als die Sonne. Etwas schneller als die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde.
Bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 1650 Stundenkilometern würde Flug 52 um 7.15 Uhr Ortszeit in Tokio landen, obwohl die Maschine in San Francisco um 8.00 Uhr gestartet war. Allerdings nicht heute. Sie waren mit 39 Minuten Verspätung abgeflogen, weil im Hydrauliksystem drei ein kleines Leck aufgetreten war. Während die Mechaniker das schadhafte Ventil ausgewechselt hatten, hatten Captain und Kopilot nochmals ihr vom Computer errechnetes Flugprofil durchgesehen. Auf Grund neuer Höhenwindvorhersagen hatte Stuart ihren Flugplan geändert: Sie würden sich südlich der normalen Großkreisroute halten, um dem stärksten Gegenwind auszuweichen.
Die voraussichtliche Flugzeit veränderte sich dadurch nur geringfügig auf sechs Stunden und 24 Minuten – eine imposante Leistung. In weniger als einem Arbeitstag über sieben Zeitzonen und die internationale Datumsgrenze hinweg! Das Wunder des Jahrzehnts.
Aber das Ganze war gleichzeitig etwas beängstigend. Stuart erinnerte sich an ein Zeitschrifteninterview, bei dem er ganz freimütig gesprochen hatte. Er hatte die technischen Probleme des Überschallfluges in über 60 000 Fuß Höhe offen erörtert: die schleichende Wirkung der Ozonvergiftung und die zeitweise erhöhte Strahlungsintensität als Folge von Sonnenflecken. Der Interviewer hatte sich auf einige dieser Punkte konzentriert, andere übertrieben und einen Artikel geschrieben, der einem Astronauten Angst eingejagt hätte. Stuart hatte sich dem Chefpiloten gegenüber rechtfertigen müssen und sich vorgenommen, nie mehr so freimütig zu antworten. »Gestern vormittag bin ich wieder im Fernsehen interviewt worden. Verdammt lästig.«
McVary zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich? Warum hast du uns das nicht vorher gesagt? Ich wäre zwar nicht eigens aufgestanden, aber …«
Der Flugingenieur Carl Fessler, der hinter ihnen an seinem Instrumentenbrett saß, lachte meckernd. »Warum haben sie’s immer auf dich abgesehen, Skipper?«
Stuart zuckte mit den Schultern. »Irgendein Idiot in der PR-Abteilung findet, daß ich telegen bin. Dabei fliege ich lieber durch ein paar Gewitter, als vor einer Kamera zu stehen.«
McVary nickte. Alan Stuart war jeder Zoll ein erfahrener Flugkapitän – von seinem grauen Haar bis hinunter zur messerscharfen Bügelfalte. »Mir würd’s nichts ausmachen, mich im Fernsehen interviewen zu lassen.«
Stuart gähnte. »Das mußt du unseren PR-Leuten sagen.« Er sah sich im Cockpit um. Hinter McVary trug Fessler die Meßwerte seiner Instrumente in eine Kladde ein. McVary starrte blicklos nach vorn und hing offenbar seinen eigenen Gedanken nach.
Die gewohnte Flugroutine lastete nach halber Strecke lähmend auf den drei Männern im Cockpit. Sie befanden sich in der Kalmenzone der alten Seefahrer – aber ihr Schiff lag keineswegs in einer Flaute still, sondern raste nahezu mit der Geschwindigkeit einer Gewehrkugel dahin. Trotzdem hatten die drei Piloten im Augenblick eigentlich nichts zu tun. In 62 000 Fuß blieben alle Wettererscheinungen unter ihnen. Vor einer Stunde hatten sie ein Schlechtwettergebiet überflogen. Einige der Kumulustürme hatten so weit hinaufgereicht, daß die Besatzungsmitglieder und Passagiere, die sich dafür interessierten, wenigstens etwas zu sehen gehabt hatten. Aber in dieser Höhe war nicht die geringste Turbulenz zu spüren gewesen. Stuart hätte einen kleinen Stoß begrüßt, wie es Lastwagenfahrer auf endlos geraden Autobahnstrecken taten. Er sah wieder nach vorn. Dort draußen gab es nichts zu sehen als die gewölbte Horizontlinie der Tropopause.
Der Autopilot machte geräuschlose kleine Steuerbewegungen, um die Maschine auf Kurs zu halten. Stuart berührte das Steuerhorn lustlos mit zwei Fingern der rechten Hand. Er hatte die 797 seit der Startphase nicht mehr selbst geflogen und würde den Autopiloten erst zu Beginn des Landeanflugs in Tokio abschalten.
Carl Fessler sah von seiner Kladde auf und schob sie angewidert zur Seite. »Dieser verdammte Papierkram!«
Stuart warf ihm einen irritierten Blick zu. »Ich möchte wetten, daß es genügend ehrgeizige junge Piloten gibt, die liebend gern deinen Platz einnehmen würden. Sie würden sogar ihre eigenen Bleistifte mitbringen.« Er lächelte dabei, aber im Grunde genommen hatte er wenig Verständnis für seine jüngeren Kollegen. Sie hatten es fünfzigmal schöner als früher – und jammerten trotzdem ständig. Ob sie wußten, daß Alan Stuart vor 30 Jahren mitgeholfen hatte, das Gepäck einzuladen, bevor er seinen Platz als Kopilot eingenommen hatte? Verwöhnt! sagte Stuart sich. Aber es hatte keinen Zweck, ihnen solche Geschichten zu erzählen. »Falls wir in Tokio im Monsun landen, muß du für dein Geld arbeiten, Carl.«
McVary klappte seinen Playboy zu und steckte ihn in seinen Bordkoffer. Lesen im Dienst war verboten, und Stuart war offenbar dabei, den strengen Captain hervorzukehren. »Richtig, Carl. Oder falls eine deiner Warnleuchten blinkt, hast du auch genügend zu tun.«
Fessler merkte, aus welcher Ecke der Wind blies. »Okay, du hast recht. Der Job ist in Ordnung.« Er drehte seinen Sitz etwas nach vorn. »Wie wär’s mit einem kleinen Quiz? Wer von euch kann mir die Hauptstadt von Ruanda sagen?«
McVary sah sich nach ihm um. »Ich weiß eine andere Quiz-frage: Welche der Stewardessen ist scharf auf dich?«
Fessler wirkte plötzlich hellwach.
»Welche?«
»Das sollst du mir sagen.« Der Kopilot lachte. »Hör zu, ich klingele jetzt, und falls sie zufällig kommt, nicke ich. Und falls nicht … na ja, dann hast du zehn andere zur Auswahl, wenn du den Steward mitrechnest.« Er lachte erneut und warf Captain Stuart einen prüfenden Blick zu. Der Alte schien die Sache von der heiteren Seite zu nehmen. »Was darf’s für dich sein, Skipper?«
»Kaffee und Kuchen, bitte.«
»Für mich nur Kaffee«, sagte Fessler.
McVary griff nach dem Mikrophon der Bordsprechanlage und drückte auf den Rufknopf.
Die Stewardessen Sharon Crandall und Terri O’Neil standen auf dem Hauptdeck in der Bordküche der Ersten Klasse, als das Licht aufblinkte. Terri O’Neil nahm den Hörer ab. Nachdem sie einige Worte mit McVary gewechselt hatte, legte sie auf und wandte sich an Sharon Crandall.
»Sie wollen schon wieder Kaffee. Ein Wunder, daß sie davon nicht allmählich braun werden!«
»Sie langweilen sich nur«, antwortete Crandall.
»Was geht uns das an? Ich hab’ keine Lust, mich jedesmal auf den Weg nach oben zu machen, wenn die Piloten sich langweilen!« O’Neil nahm einen Teller mit Kuchen aus dem Vorratsschrank und schenkte drei Tassen ein.
Crandall lächelte. Ihre Kollegin fand ständig irgend etwas, über das sie sich aufregen konnte. Heute war es der Weg hinauf ins Cockpit. »Ich gehe schon, Terri. Das ist gut für meine schlanke Linie. Ich muß sowieso bald runter und Barbara Yoshiro helfen.« Sie nickte zu dem Lift hinüber, der zur Bordküche auf das Unterdeck führte. »Dort unten kann man sich sowieso kaum umdrehen.«
»Nein. Du machst jetzt Pause. Ich brauche das Training mehr als du. Sieh dir bloß meine Hüften an!«
»Okay, dann gehst du.« Sie lachten beide. »Ich räume hier inzwischen auf«, fügte Crandall hinzu.
Terri O’Neil griff nach dem Tablett, verließ die Bordküche und ging das kurze Stück bis zur Wendeltreppe nach vorn. Sie wartete unten, während eine ältere Frau langsam die Treppe herabkam.
»Tut mir leid, daß ich so langsam bin«, sagte die elegante ältere Dame.
»Lassen Sie sich nur Zeit, ich hab’s nicht eilig«, antwortete O’Neil. Sie wünschte sich, die Alte wäre etwas schneller.
»Ich bin Mrs. Thorndike.« Sie stellte sich mit altmodischer Höflichkeit vor, ohne zu wissen oder darauf zu achten, daß moderne Reisegewohnheiten dies nicht mehr erforderten. »Ihr Pianist gefällt mir. Er spielt ausgezeichnet.« Sie blieb auf der untersten Stufe stehen, um zu schwatzen.
O’Neil zwang sich zu einem Lächeln und stützte ihr Tablett mit den Tassen und dem Kuchenteller aufs Treppengeländer. »Ja, er spielt gut. Aber es gibt noch bessere.«
»Tatsächlich? Hoffentlich höre ich auf dem Rückflug einen der besseren Pianisten.«
»Das wünsche ich Ihnen auch.«
Die ältere Frau trat schließlich zur Seite, so daß die Stewardess an ihr vorbei nach oben gehen konnte. O’Neil hörte, daß der Pianist »As Time Goes By« spielte. Der Gesang der geselligeren Passagiere wurde von Stufe zu Stufe lauter.
O’Neil runzelte die Stirn, als sie die oberste Treppenstufe erreichte. Drei Fluggäste standen Arm in Arm um das Klavier herum. Bisher begnügten sie sich damit, halblaut zu singen, aber die Stewardess wußte aus Erfahrung, daß Männer, die sich betont freundschaftlich gaben, solange sie nüchtern waren, unweigerlich laut wurden, sobald sie etwas getrunken hatten. Der Alkohol brachte den Tenor in ihnen zum Vorschein. O’Neil wußte, daß die Sänger bald Gelegenheit haben würden, ihre Stimmbänder zu ölen, da sie in einigen Minuten die Bar öffnen würde. Sie wünschte sich, die Fluggesellschaft hätte darauf verzichtet, hier oben einen Nachtklub in den Lüften einzurichten.
»Hallo!« rief O’Neil dem jungen Pianisten zu. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ob er Hogan oder Grogan hieß. Er war ohnehin zu jung für sie. Nachdem sie sich an dem halben Dutzend Fluggäste in dem luxuriös eingerichteten Salon vorbeigeschlängelt hatte, blieb sie mit dem Tablett in der Hand vor der Glasfasertür stehen und klopfte mit der Schuhspitze dagegen. An dem Schatten war zu erkennen, daß jemand sich im Cockpit aufrichtete, um einen Blick durch das winzige, außen verspiegelte Fenster zu werfen und festzustellen, wer angeklopft hatte. Carl Fessler sperrte ihr die Tür auf, und O’Neil kam mit ihrem Tablett ins Cockpit. »Der Kaffee ist serviert, Gentlemen.«
»Der Kuchen ist für mich, Terri«, sagte Stuart.
Jeder nahm sich eine Plastiktasse, und Stuart bekam außerdem den Kuchenteller. Die Stewardess sah, daß Fessler und McVary einen merkwürdigen Blick wechselten, der offenbar eine Art Signal war. O’Neil war sich darüber im klaren, daß Kopilot und Flugingenieur irgendein Spiel trieben – und daß es mit ihr zusammenhing. Diese Männer! Nachdem die drei ihren Dank gemurmelt hatten, verließ O’Neil das Cockpit und zog die Tür hinter sich ins Schloß.
Captain Stuart hatte auf Kaffee und Kuchen gewartet, als sei diese Pause ein besonderes Ereignis: ein Meilenstein entlang einer schnurgeraden Wüstenstraße. Er aß langsam seinen Kuchen und lehnte sich dann zurück, um den Kaffee zu trinken. Stuart konnte sich als einziger der drei Männer im Cockpit an eine Zeit erinnern, in der an Bord alles auf echtem Porzellan serviert worden war. Damals hatte es dazu Silberbesteck gegeben, und das Essen hatte ein bißchen weniger künstlich geschmeckt. Der Captain seufzte und nahm einen weiteren Schluck aus seiner Plastiktasse. »Ich möchte bloß wissen, wo die Gesellschaft diesen miserablen Kaffee kauft«, murmelte er vor sich hin.
Fessler drehte sich um. »Soll das eine Quizfrage sein? Dann lautet die Antwort: Brasilien.«
Stuart reagierte nicht. Der Flugingenieur klopfte mit seinem Bleistift auf die Rumpftemperaturanzeige. Er war dabei, neue Zahlenreihen in seine Kladde einzutragen; diese Angaben würden später auf Nimmerwiedersehen in einem Trans-United-Computer verschwinden.
Die Nadel der Rumpftemperaturanzeige stand auf 87,2 °C – nur wenig unter dem bei 92,2 °C beginnenden roten Feld. In 62 000 Fuß Höhe wurden die Grenzen der Betriebssicherheit stets von Drücken und Temperaturen bestimmt. Die Temperatur des Flugzeugrumpfes durfte eine festgelegte Obergrenze nicht überschreiten. Falls dieser Grenzwert erreicht wurde, mußte Fessler den Captain informieren, damit Stuart die Reisegeschwindigkeit der Straton 797 verringerte. Die Umgebung, in der sie sich bewegten, war feindselig genug. Man durfte das Risiko nicht noch absichtlich erhöhen.
Fessler beendete seine Eintragungen und sah nach vorn durch die Windschutzscheibe. Die Straton 797 flog so schnell, daß ihre Oberfläche sich durch die Luftreibung auf fast 90 °C erhitzte – und das bei einer tatsächlichen Außentemperatur von minus 55 °C! Die Luft hier oben war so dünn, daß sie praktisch nicht mehr existierte: Ihr Druck war auf ein Fünfzehntel des in Meereshöhe gemessenen Wertes abgesunken; ihr Sauerstoffgehalt lag bei weniger als einem Prozent. Auch wenn der Sauerstoffanteil höher gewesen wäre, hätte die Luft sich nicht atmen lassen, da der Druck zu gering war, um die Sauerstoffmoleküle in der Lunge ins Blut zu überführen.
McVary setzte sich ruckartig auf und stellte seine Kaffeetasse weg. »He, was ist das, Skipper?« Er deutete nach rechts vorn. Am Horizont war ein Punkt zu erkennen – ein winziger dunkler Punkt, der ein Fleck auf der Windschutzscheibe hätte sein können.
Stuart richtete sich auf und starrte in die angegebene Richtung.
Fessler rutschte in seinem Drehsessel nach vorn und kniff die Augen zusammen. Sie beobachteten den Punkt durch die rechte Hälfte der Windschutzscheibe. Er schien sich ihrem Kurs in spitzem Winkel anzunähern und wurde dabei größer – allerdings noch nicht besorgniserregend. Zumindest vorläufig schien keine Zusammenstoßgefahr zu bestehen.
McVary atmete auf. »Wahrscheinlich ein Jagdflugzeug. Irgendein Militärpilot, der sich unsere Maschine mal ansehen will.«
Stuart nickte. »Richtig!« Er griff in seinen Bordkoffer und holte ein gutes Zeissglas heraus, das er Vorjahren in Deutschland gekauft hatte. Damit hatte er früher Schiffe, Flugzeuge und ferne Küsten beobachtet, als die Maschinen noch tief genug geflogen waren. Er hatte das Fernglas längst aus seinem Koffer nehmen wollen, aber Gewohnheit und Nostalgie – Stuart hatte große Teile der Welt durch dieses Zeissglas gesehen – hatten diesen Schritt bisher verhindert. Der Captain stellte das Fernglas scharf ein. »Nicht deutlich zu erkennen.«
»Vielleicht ist’s eine Rakete«, meinte McVary. »Ein Marschflugkörper.« Er war USAF-Pilot gewesen und dachte noch immer in militärischen Kategorien.
Fessler war halb aufgestanden. »Dürfen sie die überhaupt hier raufschießen?«
»Eigentlich nicht«, gab McVary zu. »Nicht in die Nähe unserer Strecken.« Er machte eine Pause. »Heute sind wir allerdings ziemlich weit nach Süden ausgewichen.«
Stuart drehte erneut an dem Einstellrad. »Jetzt ist das verdammte Ding weg. Augenblick! … Ich hab’s wieder …«
»Kannst du schon was erkennen, Skipper?« fragte McVary mit leichter Nervosität in der Stimme.
»Sieht komisch aus. Jedenfalls sehr ungewöhnlich. Eine Art Rakete, glaub’ ich. Hier!« Er gab McVary das Glas. »Vielleicht wirst du daraus schlau.«
Der ehemalige Jagdflieger griff nach dem Fernglas. Schon mit bloßem Auge war jetzt zu erkennen, daß das Flugobjekt nähergekommen war. Es hob sich als dunkler Metallsplitter von dem blauen Himmel ab. McVary stellte das Zeissglas scharf ein. Das Objekt kam ihm entfernt bekannt vor, aber er wußte nicht gleich, wie er es einordnen sollte. Seine Größe war schwer zu beurteilen; trotzdem wußte McVary instinktiv, daß es klein war. »Ziemlich klein«, sagte er laut. »In dieser Höhe und bei dieser Geschwindigkeit kommt nur etwas Militärisches in Frage.«
»Aus wessen Arsenal?« fragte der Flugingenieur, der jetzt hinter ihm stand.
McVary zuckte mit den Schultern, ohne das Glas abzusetzen. »Von der Mars-Luftwaffe, Carl. Woher soll ich das wissen?« Er beugte sich weiter nach vorn. Sekundenlang wurde er von der irrationalen Vorstellung beherrscht, die Eröffnungssalve eines Atomkrieges zu sehen. Das Ende der Welt. Nein, dazu war dieser Flugkörper zu klein; außerdem flog er zu niedrig und aufs offene Meer hinaus. »Das Ding muß ein Düsenjäger sein, aber …«
»Falls es näherkommt, drehen wir ab«, stellte Stuart fest. Eine Kursänderung mit einem Überschallflugzeug war jedoch keine Kleinigkeit. Im Reiseflug brauchte die Straton 797 vier Minuten, um einen Kreis mit 1,5°/s Winkelgeschwindigkeit zu fliegen und legte in dieser Zeit etwa 125 Kilometer zurück. Bei höherer Wendegeschwindigkeit wäre der Andruck für die Passagiere unerträglich hoch geworden. Stehende wären zu Boden geworfen worden; Sitzende hätten sich nicht mehr rühren können. Stuart schaltete die Leuchtschilder »Bitte anschnallen« in den Kabinen ein, setzte sich zurecht und griff nach dem Steuerhorn. Sein linker Daumen berührte den Ausschaltknopf des Autopiloten. Er starrte wieder aus dem Fenster und sah sich dann nach seinen beiden Kollegen um. Die Atmosphäre im Cockpit hatte sich schlagartig geändert. So war es immer; nichts zu tun – oder zuviel zu tun. McVary und Fessler sahen angestrengt nach vorn.
Auf der Stirn des Captains standen winzige Schweißperlen. »Ich drehe jetzt ab«, sagte er, ohne jedoch den Autopiloten abzustellen. Wie die meisten erfahrenen Flugkapitäne änderte Alan Stuart Kurs, Geschwindigkeit und Höhe nur, wenn dies zwingend notwendig war. Nur Flugschüler ließen sich zu unnötigen, überhastet ausgeführten Ausweichmanövern verleiten.
Der Autopilot hielt die 797 bei gleichbleibender Höhe und Geschwindigkeit auf dem eingestellten Kurs.
Das Flugobjekt war jetzt deutlich zu erkennen. Stuart merkte, daß der geheimnisvolle Flugkörper sich nicht auf Kollisionskurs mit der Straton befand. Falls beide ihren gegenwärtigen Kurs beibehielten, würde das Objekt ihren Kurs in sicherer Entfernung kreuzen. Captain Stuart behielt die Hände trotzdem am Steuerhorn, um nach Norden abdrehen zu können, falls eine Kursänderung des Flugobjekts festzustellen war. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die noch immer Pazifikzeit anzeigte. Es war Punkt 11 Uhr.
McVary hatte den Flugkörper jetzt deutlich in Sicht. »Großer Gott!« Dieser Ausruf klang überrascht und besorgt zugleich.
Der Captain starrte ihn an. »Was ist los, Dan? Was siehst du?«
»Das ist keine Rakete«, antwortete McVary. »Das ist eine Drohne! Ein Flugkörper zur Flugzielmarkierung!«
Um 10.44 Uhr Pazifikzeit korrigierte der Rudergänger des atomgetriebenen Flugzeugträgers Chester W. Nimitz den Kurs um drei Grad nach Steuerbord. Auf den Brücken der Geleitschiffe, des Kreuzers Belknap und der Zerstörer Coontz und Nicolas, die 2000 Meter achteraus folgten, nahmen Rudergänger die gleiche Kurskorrektur vor. Das Geleit steuerte einen Kurs von 135 Grad und lief 18 Knoten; im Augenblick stand es etwa 1500 Kilometer nördlich von Hawaii. Der Himmel war klar, Luft und Wasser waren warm. Nach der Wettervorhersage sollte sich daran in den nächsten 36 Stunden nicht viel ändern. Vizeadmiral a. D. Randolf Hennings stand auf dem Deck O-7 der Aufbauten des Flugzeugträgers. Sein blauer Anzug hob sich auffällig von den beigen Tropenuniformen der Offiziere
und Mannschaften ab. Und die an seinem Revers befestigte orangerote Karte mit dem Aufdruck UNBESCHRÄNKTER ZUTRITT machte ihn nur noch verlegener.
Von seinem Standort auf der Aussichtsplattform in der siebten Etage konnte Hennings das gesamte Flugdeck der Nimitz überblicken. Aber er sah statt dessen immer wieder zu der verglasten Brücke hinüber, wo Kapitän z. S. Diehl in seinem Drehsessel saß und den Bordbetrieb überwachte. Diehl sprach eben mit Oberleutnant z. S. Thompson, dem Deckoffizier, und einem weiteren Oberleutnant, dessen Namen Hennings nicht kannte. Der Rudergänger stand aufmerksam am Ruder.
Der Betrieb an Deck war abgeflaut, seitdem die bei Tagesanbruch gestarteten Maschinen von ihrem Übungseinsatz zurückgekommen waren. Hennings zählte ein halbes Dutzend Flugzeuge auf der Steuerbordseite des Flugdecks. Ein Außenaufzug brachte die Maschinen nacheinander aufs Hangardeck hinunter. Auf der Wandtafel im Einsatzraum war an diesem 23. Juni lediglich noch ein Flugzeug verzeichnet: Navy 347. F-18. Pilot Lt. P. Matos. Startzeit 1027. Sondererprobung. Voraussichtl. Landezeit 1300.
Hennings war mit der Bezeichnung »Sondererprobung« nicht ganz einverstanden gewesen. Sie kam der Wahrheit zu nahe – und über die Wahrheit durfte nicht offen gesprochen werden. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn als Flugauftrag »Sonderausbildung« angegeben worden wäre, weil das mehr nach einem Routineauftrag geklungen hätte.
Hennings wußte nur allzu gut, weshalb diese Erprobung geheim war, obwohl niemand mit ihm darüber gesprochen hatte. Die strikte Geheimhaltung hing mit dem kürzlich vom Kongreß verabschiedeten und vom Präsidenten unterzeichneten Vertrag zur Beschränkung taktischer Waffen zusammen. Dieses Abkommen verbot die Weiterentwicklung weitreichender taktischer Raketen.
Heute sollte eine modernisierte Phoenix erprobt werden – mit auf 500 Kilometer verdoppelter Reichweite und einer neuentwickelten Radarsteuerung. In dieser Form verstieß die LuftLuft-Rakete eindeutig gegen die Vertragsbestimmungen, aber falls sie wie erwartet funktionierte, konnte sie amerikanischen Piloten eine entscheidende Überlegenheit in Luftkämpfen verschaffen.
Ein junger Leutnant z. S. baute sich vor Hennings auf und legte die rechte Hand an den Mützenschirm. Der pensionierte Admiral warf einen Blick auf das Namensschild des Uniformierten. »Was gibt’s, Mr. Phillips?«
Der Leutnant ließ die Hand sinken. »Entschuldigung, Admiral. Commander Sloan läßt Sie bitten, zu ihm in Raum E-334 zu kommen.«
Hennings nickte. »Gut, gehen Sie bitte voraus.«
Hennings folgte dem jungen Offizier durch die Stahltür und die Treppe hinunter. Auf Deck O-2 bogen sie in einen langen grauen Korridor ab, der den Tausenden von Schiffskorridoren glich, durch die Hennings in seiner Dienstzeit gegangen war. In den Jahren seit seiner Versetzung in den Ruhestand hatte sich an Bord durch technische Neuerungen unglaublich viel verändert. Aber die funktionellen Bauformen von Kriegsschiffen waren auf beruhigende Weise gleichgeblieben. Trotzdem war Hennings sich insgeheim darüber im klaren, daß hier nichts mehr wie früher war. »Sind Sie schon einmal auf einem älteren Schiff gefahren, Mr. Phillips?«
Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Die Nimitz ist mein erstes Schiff.«
»Können Sie sich vorstellen, wie heiß es in diesen Korridoren ohne Klimaanlage gewesen ist?«
»Ich kann’s mir denken, Sir.« Der junge Offizier blieb abrupt stehen und öffnete die Tür zu Raum E-334. Er war froh, seinen Auftrag ausgeführt zu haben, bevor der Alte ihm die Geschichte von hölzernen Schiffen und eisernen Männern erzählen konnte. »Admiral Hennings, Commander.«
Hennings betrat einen kleinen Raum, dessen graue Stahlwände fast hinter den vielen elektronischen Geräten verschwanden, die in ihm installiert waren. Die Tür schloß sich hinter ihm.
Vor einem Schaltpult saß ein Signalmaat. Commander James Sloan stand hinter ihm und sah ihm über die Schulter. Sloan hob den Kopf, als Hennings gemeldet wurde. »Hallo, Admiral. Haben Sie den Start gesehen?«
»Ja. Die F-18 ist startklar gemacht worden, als ich auf die Brücke gekommen bin. Sehr eindrucksvoll.«
»Ein richtiges Kraftpaket, was? Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Admiral.« Sloan beugte sich nach vorn und sprach halblaut mit Signalmaat Moriarty – gerade so leise, daß Hennings nicht verstand, was er sagte.
Hennings merkte, daß Sloan unzufrieden war. Offenbar gab es technische Schwierigkeiten. Der Admiral a. D. hatte den Eindruck, nicht gerade mit einem Maximum an militärischer Höflichkeit behandelt zu werden, aber er wollte daraus keine Affäre machen. Außer Dienst bedeutete schließlich außer Dienst. Er war mit einem bestimmten Auftrag an Bord der Nimitz gekommen: Er sollte den Vereinigten Stabschefs das Ergebnis der »Sondererprobung« überbringen. Hennings hatte den Auftrag, das nicht näher bezeichnete und nicht unterschriebene Versuchsergebnis zur Beförderung zu übernehmen, den gewöhnlichen Dienstweg zu umgehen und sich alles zu merken, was zu brisant war, um zu Papier gebracht zu werden. Er sollte als Kurier dienen. In die Durchführung des eigentlichen Versuchs wollte er sich keineswegs einmischen.
Seine alten Freunde in Washington schanzten ihm gelegentlich gut dotierte Beratungsaufträge zu. Hennings hätte sich sonst gelangweilt. Diesmal wünschte er sich jedoch allmählich, er wäre nicht zu Hause gewesen, als das Telefon klingelte. Er hatte das Gefühl, alle interessanten Auslandsaufträge, die jeweils großzügig honoriert worden waren, seien nur Köder gewesen, mit denen er für einen speziellen Auftrag hatte verpflichtet werden sollen. War dies der besondere Auftrag? Hennings zuckte innerlich mit den Schultern. Darüber brauchte er sich nicht den Kopf zerbrechen. Seine Freunde hatten Anspruch auf seine Loyalität, und er würde sie nicht enttäuschen.
Commander Sloan zeigte auf die Batterie von Meßinstrumenten über dem Schaltpult. Moriarty murmelte irgend etwas. Sloan schüttelte den Kopf. Er war sichtlich unzufrieden.
»Probleme, Commander?«
Sloan sah auf und rang sich ein Lächeln ab. »Nichts Außergewöhnliches … Admiral.« Er machte eine kurze Pause. »Einer unserer Sprechkanäle nach San Diego ist gestört. Wir wissen nicht, warum.« Er starrte das Schaltpult an, als sei es ein desertierter Matrose.
»Wird der Versuch dadurch behindert?«
Das war denkbar, aber Sloan wußte, daß das nicht die richtige Antwort gewesen wäre. »Nein, voraussichtlich nicht. Wir können Pearl Harbor als Relaisstation benützen. Das ist nur ein bißchen umständlicher.« Er überlegte, wieviel Hennings von technischen Dingen verstehen mochte. »Wir können diesen Schritt ohnehin eliminieren. Die Geräte, die wir brauchen, funktionieren einwandfrei.«
»Gut. Ich soll morgen früh zu einer Besprechung in Washington sein.«
Das wußte Sloan bereits. Die bekannten Frühstückstreffen der Vereinigten Stabschefs, bei denen schwammige alte Männer die Möglichkeit eines Atomkrieges mit der gleichen Unbefangenheit diskutierten wie ihre Golfresultate vom vergangenen Wochenende.
»Für mich ist ein Platz in einer Maschine reserviert, die am späten Abend in Los Angeles abfliegt. Ich muß den Träger bis sechzehn Uhr verlassen haben.«
»Die Erprobung dürfte bald abgeschlossen sein.«
»Ausgezeichnet. Erklären Sie mir jetzt noch, warum Sie mich herbeordert haben, Commander?« Der unverändert höfliche Ton des älteren Mannes schwächte diese Frage keineswegs ab, sondern ließ sie noch schärfer klingen.
Sloan war im ersten Augenblick sprachlos. »Ich wollte Sie keineswegs … Ich dachte, das würde Sie interessieren, Admiral.«
»Das alles bedeutet mir nicht viel«, antwortete Hennings mit einer Handbewegung, die den Raum E-334 umfaßte. »Mir hätte Ihr mündlicher und schriftlicher Bericht nach Abschluß der Erprobung genügt. Aber wenn ich bleiben soll, bleibe ich natürlich.« Er setzte sich auf einen kleinen Drehstuhl.
»Danke, Sir, damit tun Sie mir wirklich einen Gefallen.« Mehr wollte Sloan im Augenblick lieber nicht sagen. Er hatte Hennings seit seiner Ankunft auf der Nimitz etwas von oben herab behandelt, aber dieser kleine Wortwechsel erinnerte ihn nachdrücklich daran, daß Randolf Hennings einflußreiche Freunde hatte. Dem Commander war jetzt klar, daß der erste Eindruck getäuscht hatte: Hennings war keineswegs der harmlose ältere Herr, für den er ihn anfangs gehalten hatte.
Während Hennings zusah, wie Sloan in seinen Unterlagen blätterte, erkannte er erstmals, wieviel dem Commander daran lag, ihn als Komplizen bei der Raketenerprobung in Raum E334 anwesend zu haben. Hennings war sich jetzt darüber im klaren, daß sie etwas Verbrecherisches taten. Aber für eine Umkehr war es bereits zu spät. Hennings verdrängte diese beunruhigenden Überlegungen aus seinen Gedanken.
Sloan konzentrierte sich scheinbar auf die Elektronik. Er starrte das Schaltpult an, aber in Wirklichkeit versuchte er, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was er über Randolf Hennings wußte. Der Admiral hatte am Zweiten Weltkrieg und am Koreakrieg teilgenommen. Er galt als freundlicher Vorgesetzter, was nicht ausschloß, daß er energisch durchgreifen konnte, wenn es sich als nötig erweisen sollte. Hennings hatte Durchsetzungsvermögen bewiesen: genug, um Karriere zu machen, aber nicht genug, um seine Vorgesetzten zu gefährden. Diese Vorgesetzten, die unterdessen ganz oben standen, hatten Hennings für einen höchst sensiblen Auftrag ausgewählt. Hennings war für seine sprichwörtliche Zuverlässigkeit und Diskretion bekannt. Und obwohl er nur eine Art Laufbursche der Vereinigten Stabschefs war, mußte Sloan auch auf ihn Rücksicht nehmen. Er sah wieder zu Hennings hinüber.
»Kaffee, Admiral?«
»Nein, danke.«
Sloan dachte weniger an das Elektronikproblem als an die politischen Auswirkungen dieses Versuchs. Er überlegte, ob er Hennings um nähere Auskünfte bitten sollte. Aber das wäre ein Fehler gewesen. Außerdem wußte Hennings wahrscheinlich nicht mehr als er selbst.
»Sir, die Verbindung über Pearl Harbor kommt nicht zustande.«
Sloan starrte Moriarty an. »Was?«
»Vielleicht liegt das Problem eher dort.«
»Richtig! Das glaube ich auch.« Sloan sah zu Hennings hinüber, dessen Finger einen Marsch auf der Armlehne seines Drehstuhls trommelten. Seine Aufmerksamkeit schien dem Fernschreiber zu gelten, der gewöhnliche Wettermeldungen schrieb. Signalmaat Moriarty drehte sich halb um. »Sir? Soll ich’s weiter versuchen?«
Sloan zündete sich eine Zigarette an. Er wußte, daß er eine Entscheidung treffen mußte, hatte ein flaues Gefühl im Magen und wußte auch, warum Offiziere häufiger als Unteroffiziere oder Mannschaften Magengeschwüre hatten. Er überlegte. Die Erprobungselemente befanden sich fast alle in Position. Eine Verzögerung konnte bedeuten, daß die Erprobung um einige Stunden verschoben werden mußte. Hennings sollte am nächsten Morgen mit seinem Bericht im Pentagon sein. Falls darin lediglich stand »Sondererprobung verschoben«, warf das ein schlechtes Licht auf Commander James Sloan. Die Verantwortlichen konnten kalte Füße bekommen und den Versuch abblasen. Oder sie konnten, was noch schlimmer wäre, den Eindruck gewinnen, er habe die Nerven verloren. Sloan überlegte, ob er Hennings um Rat bitten sollte, aber das wäre ein taktischer Fehler gewesen.
»Sir?« fragte der Elektronikfachmann drängend.
Sloan schüttelte den Kopf. »Zum Teufel damit, Moriarty! Unser Versuch ist wichtiger als diese Routineverfahren. Geben Sie den Start frei und holen Sie eine neue Positionsmeldung ein.«
Moriarty konzentrierte sich wieder auf seine Geräte. Er hatte den Verdacht, daß es sich hier um mehr als einen gewöhnlichen Test handelte, aber als ehemaliger U-Boot-Fahrer verstand er zu wenig von Raketen und Jägern, um erraten zu können, in welcher Beziehung diese Erprobung über den Rahmen des Routinemäßigen hinausging. Moriarty ahnte jedoch, daß seine Unwissenheit mit dazu beigetragen hatte, ihn aus dem U-Boot, das ihm verhaßt geworden war, herauszuholen und auf die Nimitz zu bringen, die ihm erträglicher erschien. Und er wußte, daß sein Versetzungsgesuch zur im Mittelmeer operierenden 6. Flotte genehmigt werden würde, wenn er sich hier als verschwiegen erwies.
Sloan beobachtete ihn einige Sekunden lang, bevor er wieder zu Hennings hinübersah. Der Alte starrte weiterhin den Fernschreiber an und hatte eine orientalisch undurchdringliche Miene aufgesetzt. »Jetzt ist’s bald soweit, Admiral.«
Hennings hob den Kopf. Er nickte schweigend.
Sloan überlegte sich, daß es Hennings vielleicht – wie ihm selbst – darauf ankam, ausdrücklich nichts Belegbares gesagt zu haben.
»Leutnant Matos ist in Position, Sir«, meldete der Signalmaat. »Er kreist im Sektor 23.«
»Danke. Geben Sie durch, daß wir die Zielinformation in Kürze erwarten.«
»Ja, Sir.«
Sloan versuchte, seine eigene Beteiligung an diesem Projekt zu bewerten. Die Sache hatte damit begonnen, daß vor vier Wochen zwei Phoenix-Raketen an Bord der Nimitz gebracht worden waren. Er hatte für den Empfang dieser Luft-Luft-Raketen quittiert. Dann war aus Pearl Harbor die Routinemeldung eingegangen, Hennings werde an Bord des Flugzeugträgers kommen, um einen Schießversuch mit der Phoenix zu verfolgen. Das war nicht außergewöhnlich, aber schon keine Routineangelegenheit mehr. Danach hatte Kapitän z. S. Diehl, der Kommandant der Nimitz, nähere Anweisungen für die Erprobung der Phoenix-Raketen erhalten. Das einzige Ungewöhnliche daran war die Anweisung, die Zielentfernung gemäß den neuen Spezifikationen des Herstellers festzulegen. Von diesem Augenblick an hatte Sloan gewußt, daß die Vereinigten Stabschefs insgeheim beschlossen hatten, das neue Abkommen zur Rüstungsbeschränkung zu ignorieren. Und der Zufall hatte es gewollt, daß Sloan als technischer Offizier mit der Leitung dieses Schießversuchs beauftragt worden war. Innerhalb eines Jahres würde er zum Kapitän befördert werden … oder im Marinegefängnis Portsmouth sitzen.
Der Commander wußte, daß er sich jederzeit vor dieser Aufgabe hätte drücken können, indem er Urlaub beantragt hätte. Aber die alten Männer im Pentagon hatten richtig erkannt, daß Sloan eine Spielernatur war, die keiner derartigen Versuchung widerstehen konnte. Sloan spürte, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand, und konnte nur hoffen, daß Hennings nichts davon merkte. »Noch ungefähr zehn Minuten, Admiral.« Er ließ eine Countdown-Digitaluhr auf dem Schaltpult anlaufen.
Sloan fand Countdowns immer wieder faszinierend, obwohl er sie andererseits fürchtete. Er beobachtete die rückwärtslaufende Anzeige und nutzte die Zeit, um über seine Motive nachzudenken und sich in seiner Entschlossenheit zu bestätigen, um sich eine Begründung für sein Verhalten zurechtzulegen. Die modernisierte Phoenix würde den Vereinigten Stabschefs beweisen, daß die Rakete im Ernstfall einsatzbereit war. Dann durften die Politiker ruhig weiter über Abrüstung verhandeln. Die amerikanische Jagdwaffe würde einen Vorsprung haben, von dem niemand etwas ahnte: einen kleinen, aber höchst bedeutsamen Vorsprung. Noch neun Minuten.
Commander Sloan schenkte sich aus einer Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein. Er beobachtete Hennings aus dem Augenwinkel heraus. Hennings machte einen unbehaglichen Eindruck. Das sah Sloan ihm deutlich an; es war ihm an diesem Tag schon mehrmals aufgefallen. Wußte Hennings mehr als er?
Sloan trat ans andere Ende des Schaltpults und warf einen Blick auf die Meßinstrumente. Aber er dachte dabei über Hennings nach. Der pensionierte Admiral schien sich kaum für den bevorstehenden Schießversuch zu interessieren. Und er zeigte auch kein Interesse für Sloan, was eigenartig war, weil der Commander zu wissen glaubte, daß Hennings eine mündliche Beurteilung über ihn abgeben würde. Sloan spürte leichte Anzeichen eines für Leutnants typischen Verfolgungswahns und schüttelte ihn energisch ab. Ein erfahrener Offizier konnte alles zu seinem Vorteil ausnützen. Sloan würde Hennings’ Desinteresse in einen Vorteil für sich ummünzen.
Der Alte stand plötzlich auf und trat dicht an Sloan heran. »Sind die Ergebnisse gleich nach dem Schießversuch verfügbar, Commander?« fragte er mit halblauter Stimme. »Oder müssen sie erst ausgewertet werden?«
Sloan schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauche nur noch die Meßwerte einzusetzen«, antwortete er und zeigte auf den Stapel Vordrucke auf seinem Arbeitsplatz. »Das dauert keine halbe Stunde.«
Hennings nickte dankend. Er sah sich in dem mit elektronischen Geräten vollgestopften Raum um. Die Funktionen dieser Geräte waren ihm nicht ganz rätselhaft: Er kannte einige und konnte sich bei anderen vorstellen, wozu sie dienten. Als junger Offizier hatte er den Technikern an Bord seiner Schiffe häufig Fragen gestellt. Aber im Lauf der Jahre waren ihm ihre Antworten immer unverständlicher geworden. So war die merkwürdige Situation entstanden, daß er sich in einflußreicher Stellung wiedergefunden hatte, ohne zu verstehen, was seine wichtigsten Untergebenen taten oder beabsichtigten.
Er wandte sich um, blieb vor dem einzigen Bullauge der Kabine stehen und schob den schwarzen Verdunkelungsvorhang zur Seite. Die ruhige See beschwichtigte seine aufgeregten Gedanken und sein bedrücktes Gewissen. Randolf Hennings erinnerte sich daran, daß er schließlich zu der Einsicht gekommen war, Untergebene nach ihrer Persönlichkeit beurteilen und auf ihre technischen Fähigkeiten vertrauen zu müssen. Mit Menschen kannte er sich aus, denn mit seinen 67 Jahren hatte er immerhin gelernt, Menschen zu beurteilen. Er konnte in den Herzen und Seelen seiner Mitmenschen lesen, hatte einen forschenden Blick in die Psyche von Commander Sloan geworfen und war über das Gesehene erschrocken.
Der Signalmaat drehte sich um. »Commander Sloan.« Er zeigte auf einen Funkfernschreiber.
Sloan trat an die Maschine und riß ein eben eingegangenes Fernschreiben von der Rolle ab. »Erfreuliche Nachrichten, Admiral.« Hennings zog den schwarzen Vorhang zu und drehte sich nach ihm um.
»Unsere Elemente sind in Position«, fuhr Sloan fort, nachdem er das Fernschreiben überflogen hatte. »Die F-18 und die C130 haben die befohlenen Sektoren erreicht. Jetzt brauchen wir nur noch die Startbestätigung.« Er sah auf die Countdownuhr. Fünf Minuten.
Hennings nickte. »Ausgezeichnet.«
Sloan dachte zum letztenmal an die nicht zustande gekomme-ne Verbindung mit San Diego. Wäre dieser Versuch nicht geheim gewesen, hätte eine Verzögerung nicht vermutlich eine Verschiebung bedeutet, wäre damit keine Schwächung des amerikanischen Potentials für den Ernstfall verbunden gewesen, hätte seine Karriere nicht auf dem Spiel gestanden, hätte Hennings ihn nicht mit seinen stahlgrauen Augen prüfend angestarrt und wäre die verdammte Digitaluhr nicht angestellt gewesen, hätte er – vielleicht – gewartet. Noch vier Minuten.
Der Funkfernschreiber begann wieder zu klappern. Sloan riß die kurze Nachricht ab, las sie durch und lächelte zufrieden. »Die C-130 hat den Zielkörper gestartet und auf den vorgesehenen Kurs gebracht. Die Drohne hat inzwischen Mach 2 erreicht und befindet sich in 60 000 Fuß im Horizontalflug.« Er warf einen Blick auf die Digitaluhr. »In zwei Minuten und 30 Sekunden kann ich Leutnant Matos den Befehl geben, das Ziel aufzuspüren und anzugreifen.«
»Möchten Sie noch einen Drink?«
»Nein, danke, vielleicht später.« John Berry stellte sein leeres Glas ab und sah zu der Stewardess auf. Ihr schulterlanges brünettes Haar streifte den weißen Kragen ihrer Bluse. Sie war sportlich schlank, trug kaum Make-up und sah wie ein Fotomodell auf dem Umschlag einer Tennisklubbroschüre aus. Berry hatte seit dem Start schon mehrmals mit ihr gesprochen. Seitdem sie das zweite Frühstück serviert hatte, schien sie sich hauptsächlich in der Nähe seines Platzes aufzuhalten. »Nicht sehr voll«, meinte Berry und zeigte auf die vielen leeren Sitze in der Ersten Klasse der Straton 797.
»Hier vorn nicht, aber dafür sitzen hinten um so mehr. Ich bin froh, daß ich für die Erste Klasse zuständig bin. Die Touristenklasse ist voll.«
»Hochsaison in Tokio?«
»Offenbar. Vielleicht haben die Reisebüros Transistorfabriken im Sonderangebot.« Sie lachte über ihren eigenen Scherz. »Reisen Sie zum Vergnügen oder geschäftlich?«
»Bei mir trifft beides zu. Für mich ist’s ein Vergnügen, geschäftlich zu verreisen.« Solche ehrliche Antworten kommen manchmal unerwartet. Aber John Berry war bewußt ehrlich gewesen. Diese junge Stewardess war alles, was Jennifer Berry nicht war. Und noch besser: Sie schien nichts von dem zu sein, was Jennifer Berry geworden war. »Sharon?« Er zeigte auf das Namensschild der Stewardess.
»Ja, Sharon Crandall. Aus San Francisco.«
»John Berry aus New York. Ich reise zu Verhandlungen mit der Kabushi Steel nach Tokio. Dann besuche ich ein Gußwerk in Nagasaki. Keine Transistorfabriken. Ich bin zweimal im Jahr in Japan. Der Boss schickt mich, weil ich am größten bin. Die Japaner unterstreichen gern die Unterschiede zwischen sich und westlichen Ausländern. Kleine Vertreter machen sie nervös.«
»Tatsächlich?« Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. »Ist das wirklich wahr? Das habe ich noch nie gehört.«
»Es stimmt aber.« Berry zögerte. Er räusperte sich. Allein der Gedanke, diese junge Frau aufzufordern, sich neben ihn zu setzen und sich mit ihm zu unterhalten, war etwas beunruhigend. Dabei wollte er sich nur ein bißchen unterhalten. Um die Zeit totzuschlagen. Um ein paar Minuten lang das schöne Gefühl haben zu können, die Situation in New York existiere nicht.
Jennifer Berrys Fangarme reichten sogar bis hierher. Obwohl er durch einen Kontinent und ein Meer von ihr getrennt war, bildete er sich ein, ständig ihre Gegenwart zu spüren. Der Gedanke an seine schwierige, ewig nörgelnde Frau lastete schwer auf John Berry. Aber er dachte auch an ihre beiden halbwüchsigen Kinder – ein Sohn und eine Tochter –, die sich von Jahr zu Jahr weiter von ihm entfernt hatten. Die Familie wurde praktisch nur mehr durch den gemeinsamen Namen zusammengehalten. Durch ein gemeinsames Haus und gemeinsame Papiere.
Ihr ganzer Lebensstil erschien Berry heutzutage als grausamer Scherz. Ein unmäßig teures Haus in Garden City, das er noch nie gemocht hatte. Der angeberhafte Country Club. Die affigen Bridgeabende. Hohle Freundschaften. Klatsch über die Nachbarn. Die Cocktails, ohne die ganz Garden City mit sämtlichen Vororten längst Massenselbstmord verübt hätte. Ein vergebliches, unausgefülltes, langweiliges Leben. Wo waren die Dinge geblieben, die ihm früher Spaß gemacht hatten? Er konnte sich kaum noch an die gute alte Zeit erinnern. Die nächtelangen Gespräche mit Jennifer – und wie sie sich geliebt hatten, bevor auch das zu einer weiteren lästigen Pflichtübung geworden war. Seine Campingausflüge mit den Kindern. Die langen Frühstücke am Sonntagmorgen. Die Baseballspiele auf dem Rasen. Das alles schien zu einem anderen Leben zu gehören. Es schien ein Leben lang zurückzuliegen.
John Berry merkte, daß er in Gedanken immer öfter in die Vergangenheit zurückkehrte. Daß er in der Vergangenheit lebte. Wenn er im Radio einen Song aus den fünfziger Jahren hörte, bekam er Sehnsucht nach seiner Heimatstadt Dayton, Ohio. Ein alter Schwarzweißfilm im Fernsehen konnte dieses Heimweh so sehr verstärken, daß er davon Herzschmerzen bekam.
Er sah zu der jungen Frau auf, die vor ihm stand. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen? Ja, ja, ich weiß – Sie sind im Dienst. Aber wie wär’s mit einer Cola?« Berry sprach rasch, um nicht unterbrochen zu werden. »Ich könnte Ihnen von japanischen Geschäftssitten erzählen. Sehr unterhaltsam und bildend. Unbezahlbare Informationen für den Fall, daß Sie sich einmal als internationaler Konzern selbständig machen wollen.«
»Klar«, antwortete sie lächelnd. »So was interessiert mich brennend. Ich muß nur noch ein bißchen aufräumen. Sagen wir, in zehn Minuten.« Sharon Crandall sammelte ein halbes Dutzend Tabletts von Berry und anderen Passagieren ein. Sie nickte ihm lächelnd zu, als sie zu dem winzigen Lift ging, der in die Kabinenrückwand eingelassen war.
Berry drehte sich um und sah ihr nach. Die enge Kabine bot kaum Platz genug für sie und ihre Tabletts. Sekunden später schloß sich die Schiebetür, und der Aufzug fuhr in die Bordküche im Unterdeck hinunter.
John Berry blieb einige Minuten lang unbeweglich sitzen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Dann stand er auf, reckte sich, sah sich in der geräumigen Kabine um und warf einen Blick aus dem Fenster auf die beiden riesigen Steuerbordtriebwerke der Straton 797. Sie könnten eine Skymaster verschlukken, dachte er. Auf einmal.
Die Firma Taylor Metals, bei der er angestellt war, hatte eine viersitzige Cessna Twin Skymaster als Geschäftsreiseflugzeug, und Berrys letzte verbliebene Leidenschaft war die Fliegerei. Er vermutete, daß das irgendwie mit seinen sonstigen Problemen zusammenhing. Wäre ihm die Erde erträglicher erschienen, hätte er vielleicht nicht jede Gelegenheit wahrgenommen, sich darüber zu erheben.
Berry sah nach hinten und stellte fest, daß die Toiletten der Ersten Klasse frei waren. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er hatte noch Zeit, sich die Hände zu waschen und sich zu kämmen, bevor Sharon zurückkam.
Auf dem Weg nach hinten sah Berry erneut nach draußen. Er bewunderte die riesigen Ausmaße und die Leistung der Triebwerke des mächtigen Überschallflugzeugs. Und er bewunderte die Einsamkeit der Stratosphäre, ohne zu merken, daß sie hier oben nicht mehr allein waren. Berry konnte den winzigen Punkt, der sich der Straton 797 vom Horizont her rasend schnell näherte, nicht sehen.
Leutnant Peter Matos hielt den Steuerknüppel der F-18 locker mit der rechten Hand umfaßt. Er drückte die Leistungshebel etwas weiter nach vorn. Die beiden General-Electric-Triebwerke kamen auf höhere Drehzahl. Matos zog mit seinem Jäger weiterhin große, träge Kreise in 54 000 Fuß Höhe und blieb dabei ständig etwas unter Mach 1. Während er in dem Luftsperrgebiet 23 Warteschleifen flog, überlegte er, wann der Anruf von der Nimitz kommen würde. Dieser Anruf war eigentlich schon überfällig, aber bevor Matos sich ernstlich Sorgen machen konnte, knackte es in seinen Kopfhörern. Am Mikrophon war Signalmaat Nelson Moriarty, den Matos flüchtig kannte.
»Navy drei-vier-sieben, hier Homeplate, kommen.«
Matos drückte auf den Mikrophonknopf an seinem Steuerknüppel. »Homeplate, hier drei-vier-sieben, kommen.« Er begann eine weitere Warteschleife am blauen Himmel über dem Pazifik.
»Der Zielflugkörper ist gestartet worden«, berichtete der Signalmaat in Raum E-334 mit lauter, klarer Stimme. »Wir rechnen damit, daß er Ihr Gebiet in zwei Minuten erreicht. Die Einsatzstufe wird hiermit auf Foxtrott-Foxtrott geändert. Ich wiederhole, Foxtrott-Foxtrott.«
»Verstanden, Homeplate. Stufe Foxtrott-Foxtrott.« Matos ließ den Knopf los und zog gleichzeitig den Steuerknüppel nach hinten. Foxtrott-Foxtrott bedeutete »Feuer frei!«. Er würde das Ziel nie selbst sehen und seine Vernichtung nur auf dem Radarschirm beobachten können, aber der Jagdinstinkt machte sich trotzdem bemerkbar, und sein Herz schlug schneller. Die F-18 flog einen engeren Kreis, so daß Matos den erhöhten Andruck spürte, als er seine Maschine wieder beschleunigte. Er flog im Horizontalflug nach Norden ab und erhöhte die Triebwerksleistung weiter. Dabei kam er sich wie ein Ritter vor, der in die Schlacht reitet.
Wie die meisten amerikanischen Soldaten, die außerhalb der Vereinigten Staaten geboren waren, war Peter Matos loyaler, patriotischer und diensteifriger als die gebürtigen Amerikaner. Das war ihm schon frühzeitig klargeworden. Die eingebürgerten Kubaner, Mexikaner, Kanadier und Puertoricaner sahen in den amerikanischen Streitkräften mehr als nur eine militärische Organisation, der man seine Steuergelder, aber nie seine Söhne schickt. Männern wie Pedro Matos, der aus der ärmsten Bevölkerungsschicht Puerto Ricos stammte, bedeutete das Militär Heimat, Familie, Freunde … das Leben selbst.
Matos tat seine Pflicht, studierte seine Handbücher, sprach kein unbedachtes Wort, hielt sich streng an den Dienstweg, äußerte seine Meinung nur, wenn er dazu aufgefordert wurde, und führte alle Befehle prompt und bereitwillig aus. Äußerlich war er davon überzeugt, alles richtig zu machen, aber innerlich betete er zu San Geronimo, er möge ihn davor bewahren, bei der nächsten Beförderung übergangen zu werden. Das konnte das Ende seiner Laufbahn als Berufsoffizier bedeuten.
Moriartys Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. »Navy dreivier-sieben, haben Sie das Ziel erfaßt?«
Matos sah auf seinen Radarschirm. »Negativ, Homeplate.«
»Verstanden, Navy. Halten Sie uns auf dem laufenden.«
»Wird ausgeführt.« Matos behielt den Radarschirm im Auge, während er wieder über seine größeren Probleme nachdachte. Er war davon überzeugt, daß das Ergebnis dieses Schießversuchs über seinen weiteren Lebensweg entscheiden würde. Der Versuch war geheim. Das war ihm mitgeteilt worden. Er war außerdem illegal. Das hatte Matos selbst herausbekommen. Er wußte nur nicht, weshalb er dazu bestimmt worden war, diese Rakete abzuschießen. Die weiterentwickelten Phoenix-Raketen hingen an Aufhängepunkten unter den Tragflächen seiner F-18. Für diese Sondererprobung waren die Raketen mit einem leeren Sprengkopf aus Edelstahl und Titan ausgerüstet, und dasZiel war eine Überschallschnelle Drohne, die in einigen hundert Kilometern Entfernung von einer C-130 Hercules der Marine gestartet wurde. Wenn Matos diese Tatsache aus seinem Bewußtsein verdrängte, konnte er sich einbilden, mit zwei Luft-Luft-Raketen einen russischen Tupolew-Bomber oder eine chinesische MiG 21 anzugreifen.
Matos sah nach unten auf seinen Radarschirm. Noch kein Ziel zu erkennen. Heute sollte das Ziel aus größtmöglicher Entfernung bekämpft werden. Sein Radargerät, dessen Reichweite normalerweise nur 300 Kilometer betrug, war auf 500 Kilometer Reichweite umgebaut worden. Nach dem Abschuß brauchte die neue Phoenix nicht mehr ins Ziel gelenkt zu werden. Matos hatte den Auftrag, die erste Rakete abzuschießen, ihre Fluglagestabilisierung abzuwarten, die zweite Rakete abzuschießen, auf Gegenkurs zu gehen und das Kampfgebiet mit Höchstgeschwindigkeit zu verlassen. Die Raketen würden ihr Ziel selbständig erfassen und ansteuern. Für den angreifenden Piloten war das erheblich sicherer, denn bevor der Gegner wußte, daß er angegriffen wurde, war der Angreifer schon wieder verschwunden. Matos stand dieser Neuerung etwas skeptisch gegenüber. Sie stellte geringere Anforderungen an den Piloten der F-18; sein Abdrehen war nicht so mannhaft, als wenn er im Kampfgebiet geblieben wäre. Außerdem hatte er keine Chance mehr, den Treffer zu beobachten, was früher in Ausnahmefällen möglich gewesen wäre. Aber darüber hatte Matos nicht zu entscheiden.
Er konzentrierte sich auf den Radarschirm. Am äußersten Rand des Leuchtschirms wurde ein Lichtpunkt sichtbar. Matos drückte auf seinen Sprechknopf. »Homeplate, drei-vier-sieben hat Ziel vorläufig erfaßt.« Sein Tonfall war ruhig, fast lakonisch. Er lächelte, als er sich die deutschen und japanischen Piloten in alten Kriegsfilmen vorstellte, die in ihre Funkgeräte kreischten, während die amerikanischen und englischen Piloten nie die Ruhe verloren, selbst wenn ihre Maschine abmontierte. Cool. »Haben Sie verstanden, Homeplate?«
»Verstanden, drei-vier-sieben. Ziel vorläufig erfaßt. Weitermachen. Ende.« Leutnant Matos drückte auf einen Knopf am Instrumentenbrett und sah dann auf den Leuchtschirm des Feuerleitradars. Ein elektronisches Symbol markierte den Lichtpunkt, der das Ziel verkörperte. Matos beobachtete ihn einige Sekunden lang. Plötzlich erschien ein zweiter heller Punkt. Der Pilot kniff die Augen zusammen. Er sah genauer hin. Der zweite Lichtpunkt war etwas schwächer und kleiner. Er befand sich genau hinter dem ersten. Ein Phantombild, dachte Matos. Ein defekter Transistor oder eine Diode. Ein Zehntelgrad zu warm. So was kommt vor. Er hatte solche fehlerhaften Anzeigen schon mehrmals erlebt und kannte sie aus Berichten seiner Staffelkameraden. Phantombilder. Echos. Reflektierungen. Einflüsse durch andere Radargeräte. Rückstrahlung von der Meeresoberfläche oder einer Wolke.
Matos veränderte die Helligkeit des Radarbildes. Das zweite Ziel begann zu verschwinden. Dann löste es sich ganz auf. Es schien mit dem ursprünglichen, helleren Lichtpunkt, der nach Matos’ Überzeugung der Zielflugkörper sein mußte, verschmolzen zu sein. Er drückte auf seinen Sprechknopf. »Homeplate, Navy drei-vier-sieben hat das Ziel erfaßt. Entfernung ist vierhundertsiebzig Kilometer. Kommen.«
»Verstanden, drei-vier-sieben«, antwortete Moriarty mit ausdrucksloser Stimme und dem für Militärfunker charakteristischen neutralen Tonfall.
Matos zögerte unschlüssig. Er überlegte, ob er das Phantombild erwähnen sollte, und verzichtete dann doch darauf. Wozu sollte er die anderen mit gar nicht existierenden Problemen nervös machen. Er sah erneut auf den Radarschirm. Das Ziel war gut erkennbar. Matos betätigte einen Sicherheitsschalter und klappte die Abdeckung über dem Feuerknopf hoch. Sein Zeigefinger lag leicht auf dem Knopf. Er war im Begriff, eine Luft-Luft-Rakete mit bisher unbekannter Reichweite zu erproben. Matos drückte auf seinen Sprechknopf. »Schieße Nummer eins.« Er wartete noch eine Sekunde, holte tief Luft und drückte den roten Feuerknopf.
Die Phoenix-Rakete löste sich aus ihrer Halterung unter der Steuerbordtragfläche der F-18. Sie schien im ersten Augenblick inaktiv zu sein, weil ein Verzögerungsmechanismus die Zündung ihres Triebwerks verhinderte, bis jede Gefahr eines Zusammenstoßes mit der F-18 ausgeschaltet war. Dann wurde der Raketenmotor elektrisch gezündet: Aus dem Heck der Phoenix schoß ein orangeroter Feuerstrahl, der die Rakete sekundenschnell aufs Zweifache der Geschwindigkeit der F-18 brachte.
Matos sah die Rakete davonrasen. Bevor er die zweite Phoenix abfeuerte, kontrollierte er das Radarbild. Das Ziel hatte sich erneut in zwei Lichtpunkte aufgelöst. Zwei Ziele! Matos drehte am Helligkeitsregler. Keine Veränderung. Er versuchte es nochmals. Wieder nichts. Zwei deutlich erkennbare Einzelziele. Großer Gott! Auf die selbständig ihr Ziel suchende LuftLuft-Rakete hatte er nach dem Abschuß nicht mehr den geringsten Einfluß.
Der Steuermechanismus der Phoenix befaßte sich bereits mit diesem Problem. Der Konflikt zwischen den beiden erfaßten Zielen mußte irgendwie gelöst werden. Der Mechanismus hielt sich an logische Prioritäten, die vor Jahren in einem viele Tausende von Kilometern entfernten Konferenzraum festgelegt worden waren. Die Phoenix-Rakete nahm eine minimale Kursänderung vor und steuerte das größere der beiden Ziele an.