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John Berry starrte sein Gesicht in dem kleinen Wandspiegel in einer der Toiletten der Ersten Klasse an. Er fuhr sich mit einer Hand durch sein graumeliertes braunes Haar. Um die Augen herum hatte er einige Falten. Trotzdem sah er mit seinen 41 Jahren noch recht gut aus.

Einige der Frauen, die er aus dem Country Club oder der Firma kannte, fanden ihn »interessant«, wie sie ihm selbst gesagt hatten. Er wußte, daß er sich um sie hätte bemühen sollen, aber er brachte nicht die rechte Begeisterung dafür auf. Das hatte er nur einmal versucht – mit einer Kollegin aus dem Büro. Und dieser Seitensprung war ein Fiasko gewesen.

John Berry dachte an seinen Vater, an den er sich in letzter Zeit immer öfter erinnerte. Mit 41 Jahren hatte sein Vater eine liebevolle Frau, vier loyale Kinder, seine Kirche, seine Stadt, sein Land und seine eigene kleine Farm gehabt. Aber das war in einer anderen Zeit gewesen, fast in einem anderen Land. John Berry hatte nichts dergleichen und mußte sich damit abfinden, daß er nie so etwas haben würde. Trotzdem gab es noch einen Ausweg. Er konnte Jennifer verlassen und ein neues Leben beginnen. Dann hätte er wenigstens hoffen dürfen. Daran dachte er jedesmal, wenn er die Skymaster flog. Aber er ahnte, daß er sich nie dazu aufraffen würde.

Berry erinnerte sich an sein Gespräch mit der jungen Stewardess. Warum hatte er sie angesprochen? Wer, zum Teufel, war Sharon Crandall? Vor einer Stunde hatte er noch nicht einmal gewußt, daß sie existierte. Sie konnte ihm nicht helfen, seine Probleme zu lösen. Trotzdem fühlte er sich weniger entfremdet, weniger von der restlichen Menschheit ausgeschlossen, seitdem er diese Verbindung geknüpft hatte.

Am Rand seines Blickfeldes leuchtete ein Leuchtsignal auf. Er brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, daß dieses Blinksignal ihn aufforderte, in die Kabine zurückzukehren. Als erfahrener Fluggast wußte Berry, daß in der Kabine die Leuchtschilder »Bitte anschnallen« brennen würden. Das war ungewöhnlich, weil der Flug sehr ruhig war. Aber vielleicht hatte eine andere Maschine Turbulenzen gemeldet. Berry dachte nicht daran, daß die Straton 797 die einzige Verkehrsmaschine auf dieser Route war. Er war in Gedanken bei Sharon Crandall. Sie würde sich wahrscheinlich zu den anderen Stewardessen setzen. Danach begannen die Vorbereitungen für das Mittagessen. Er ließ sich beim Händewaschen Zeit.

Leutnant Peter Matos starrte seinen Radarschirm an und hoffte, das zweite Ziel würde verschwinden. Er wußte, daß er sich melden mußte. Auf seiner Borduhr verstrichen die Sekunden. Matos drückte widerstrebend auf den Sprechknopf. »Homeplate, hier Navy drei-vier-sieben.«

»Drei-vier-sieben, kommen«, antwortete Moriarty.

»Ich … ich habe Schwierigkeiten mit der Zielerfassung. Verschiebe zweiten Abschuß. Melde mich in Kürze wieder.«

»Verstanden. Ende.«

Matos schluckte trocken. Er war dem Problem ausgewichen. Aber falls es zum Schlimmsten kam, war das andere Flugzeug rettungslos verloren. Handelte es sich andererseits nur um einen elektronischen Defekt, hatte er keinen Grund, mehr zu melden, als er bereits gesagt hatte. Schwierigkeiten bei der Zielerfassung. Wahrscheinlich machten sie sich an Bord der Nimitz ohnehin schon Sorgen. Ganz cool bleiben, Peter.

Er sah erneut auf den Bildschirm und hoffte wieder, das zweite Ziel habe sich inzwischen aufgelöst. Aber die beiden Ziele waren nach wie vor deutlich zu erkennen. Das schwächer leuchtende Ziel kreuzte den Kurs des anderen und verschwand im Südwesten von Matos’ Radarschirm. Der größere Blip behielt seinen bisherigen Kurs bei. Matos überlegte sich noch einmal, daß selbst Ausweichmanöver dieses Flugobjekts zwecklos gewesen wären: Die Phoenix hatte sich für dieses Ziel entschieden und würde es durch alle Manöver hindurch verfolgen, bis es getroffen und vernichtet war. Mehr konnte sie nicht. Nur dafür war sie konstruiert.

Aber was war dieses andere Ziel? Matos lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Die andere Maschine mußte die Hercules C-130 sein! Großer Gott, ich habe einen Navigationsfehler gemacht. Meine Schuld. Meine Schuld.

Der Leutnant wandte sich dem links neben ihm eingebauten Trägheitsnavigationssystem der F-18 zu. Er drückte nacheinander mehrere Tasten. Seine Hand in dem ledernen Fliegerhandschuh war schweißnaß. Dann erwischte er eine falsche Taste und mußte von vorn anfangen. Verdammt noch mal.

Matos sah die Anzeige aufleuchten. Sie bestätigte, daß seine Position richtig war. Um ganz sicherzugehen, überprüfte er sie nochmals. Wieder richtig. Er befand sich im befohlenen Gebiet – zumindest seinem Gerät nach. Was war dann dieses zweite Ziel?

Er starrte auf seinen Radarschirm. Die Phoenix war ein winziger Lichtpunkt, der auf dem grünen Leuchtschirm dem größeren der beiden Ziele zustrebte. Dieses Bild erinnerte Matos an ein Fernsehspiel. War das alles vielleicht nur ein Spiel? Richtig, so muß es sein. Sie hatten ein weiteres Element ins Spiel gebracht, um seine Reaktion zu testen. Das scheinbar so große Ziel auf seinem Radarschirm war in Wirklichkeit nur ein elektronischer Köder, der von der Hercules oder der Drohne ausgestrahlt wurde. Er hätte ihn melden müssen. Er war getestet worden – und hatte versagt.

Matos schloß kurz die Augen. Das war eine logische Erklärung, an der alles stimmte – nur eines nicht: Die Phoenix-Rakete steuerte das große Ziel an, obwohl ihre hochmoderne Elektronik sich nicht durch ECM-Köder irritieren ließ.

Die Entfernung zwischen Jäger und Gejagtem war auf weniger als 150 Kilometer zusammengeschrumpft. Die Luft-Luft-Rakete flog mit Mach 3 und legte in jeder Sekunde fast einen Kilometer zurück.

Matos wollte den Sprechknopf drücken, schreckte dann aber doch davor zurück. Er zermarterte sich das Gehirn, um eine Erklärung zu finden. Konnte die Hercules vom vorgeschriebenen Kurs abgekommen sein? Konnte sein Navigationsgerät defekt sein? Er war sich darüber im klaren, daß die Verantwortung selbst dann bei ihm gelegen hätte. Ein Fehler der F-18 war gleichbedeutend mit einem Fehler ihres Piloten. Eine unfaire, aber wirkungsvolle Bestimmung. Sie zwang die Verantwortlichen dazu, sich auch um Details zu kümmern. Und sie machte keinen Unterschied zwischen dem Kapitän der 91 000 Tonnen schweren Nimitz und dem Piloten eines 29 Tonnen schweren Marineflugzeugs. Die Elektronik konnte einen irreführen; vor dem Untersuchungsausschuß stand trotzdem nur der verantwortliche Offizier. Falls er die Hercules abschoß, konnte das fehlerhafte Navigationsgerät ihn vielleicht vor dem Kriegsgericht retten, aber seine Karriere als Marineoffizier war damit beendet.

Er hörte sich schwer atmen und spürte, daß ihm in seinem Druckanzug der Schweiß ausbrach. Seine rechte Hand umklammerte den Steuerknüppel. Sein linker Arm ruhte so auf dem Navigationsgerät, daß seine ausgestreckten Finger die Leistungshebel berührten. Er hatte es aufgegeben, das Radar-bild anders einstellen zu wollen. Die Darstellung auf dem Leuchtschirm war bedauerlicherweise richtig.

Dann riß ihn ein Hoffnungsschimmer aus seiner Betäubung. Es gab noch einen Strohhalm, an den er sich klammern konnte. Matos fragte bei seinem Bordcomputer Höhe und Geschwindigkeit des unbekannten Ziels ab. Die Antwort wurde auf dem Radarschirm eingeblendet: Die andere Maschine flog in 62 000 Fuß mit 1900 Stundenkilometern.

Matos atmete erleichtert auf. Keine Hercules erreichte auch nur die Hälfte dieser Leistung! Der Überschallflug in großen Höhen war Raketen, Zielflugkörpern, Jagdflugzeugen, Bombern und Aufklärern vorbehalten. Falls sich eigene Maschinen in seinem Gebiet befanden, hätte er rechtzeitig davon erfahren – falls sie nicht vom Kurs abgekommen waren. Folglich gab es zwei Möglichkeiten: Erstens konnte es sich bei dem Radarziel um ein feindliches Flugzeug handeln, für dessen Abschuß er zwar keinen Orden bekommen, aber auch nicht vors Kriegsgericht gestellt werden würde. Der Fall würde vertuscht werden, und Matos würde von allen anderen Piloten an Bord insgeheim beneidet werden. So etwas war schon früher vorgekommen.

Die zweite Möglichkeit war am wahrscheinlichsten. Das Radarziel zeigte genau die Leistungscharakteristik einer Drohne. Die Hercules muß – absichtlich oder unabsichtlich – zwei Drohnen gestartet haben. Das war die logische Erklärung! Matos atmete erneut auf. Seine Karriere als Marineoffizier war jetzt halbwegs gesichert. Er mußte sich sofort mit der Nimitz in Verbindung setzen und Commander Sloan die Situation erklären. Danach konnte er das zweite Ziel erfassen, die zweite Phoenix abschießen, wenden und mit Höchstgeschwindigkeit abfliegen. Er sah wieder auf den Radarschirm. Die Entfernung zwischen der Phoenix und dem Ziel verringerte sich rasend schnell. Zwanzig Kilometer, zehn Kilometer, fünf Kilometer. Dann verschmolzen die beiden Lichtpunkte miteinander. Matos nickte. Die Rakete funktionierte. Das wußten sie jetzt. Aber er fragte sich noch immer, was er getroffen hatte. 

John Berry ließ das kalte Wasser laufen, nahm seine Armbanduhr ab und legte sie auf die Ablage unter dem Spiegel. 11.02 Uhr. Sie zeigte noch immer Pazifikzeit an. Die Zeitunterschiede machten sich beim Überschallflug weniger stark bemerkbar als in normalen Jets, aber sie brachten seine Körperuhr trotzdem durcheinander. Sein Körper lebte nach New Yorker Zeit, seine Uhr zeigte Pazifikzeit an, er befand sich in der Zeitzone, zu der Westalaska, die Aleuten und die Samoainseln gehörten, und er würde in Tokio nach japanischer Zeit landen. Trotzdem verging die Zeit zu Hause nur quälend langsam, fast überhaupt nicht. Aber das hatte ihn nicht daran gehindert, älter zu werden, sondern den Alterungsprozeß eher noch beschleunigt. Die Zeit ist eben doch relativ, das steht außer Zweifel. Er beugte sich über das Waschbecken, ließ Wasser in die hohlen Hände laufen und tauchte sein Gesicht hinein.

Der Mittvierziger, der in Reihe 15 auf Sitz A saß, warf einen Blick aus dem Fenster, während er sich eine Zigarre anzündete. Dabei fiel ihm ein silbern glänzender Gegenstand in mindestens einem Kilometer Entfernung auf. Er blinzelte. Der Gegenstand war jetzt so groß wie ein Basketball und befand sich nur noch eine Handbreit von der äußeren Scheibe entfernt. Bevor der Mensch sich auch nur ducken oder einen Schrei ausstoßen konnte, drang die Silberkugel durch das Fenster in den Flugzeugrumpf ein und riß seinen Kopf und Oberkörper mit. Die Phoenix zermalmte die benachbarten Sitze B und C, auf denen die Frau und die Schwiegermutter des Mannes saßen. Sie schob einen Teil ihrer blutigen Ernte vor sich her über den Mittelgang, wo sie die Sitze D, E, F und G mit vier Passagieren zerschmetterte, überquerte den Steuerbordgang und stieß die Sitze H, I und K mit drei weiteren Fluggästen durch die Außenhaut der Maschine in die Stratosphäre hinaus.

Was vor der Phoenix, hinter ihr und im Umkreis von etwa einem Meter lag, wurde durch die ultraschnelle Desintegration des Flugzeugrumpfes pulverisiert. Sitze und Passagiere wurden bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Durch den Aufprall und die damit verbundene Verzögerung begann die Phoenix, kurz nach der Flugzeugmitte instabil zu werden. Ihr Leitwerk bäumte sich auf, traf die Steuerbordseite der Maschine und schnitt beim Verlassen des Rumpfes ein fast zweieinhalb Meter hohes und knapp zwei Meter breites Loch in die Außenhaut. Die Rakete stürzte torkelnd ins Freie und riß eine Wolke aus Fleisch und Metallteilen mit. Aber ihre Bewegungsenergie war fast erschöpft: Die Phoenix flog nur noch ein kurzes Stück weit, bevor sie sich überschlagend 19 Kilometer tief in den Pazifik fiel.

Zuerst hörte John Berry nur ein undeutliches Geräusch, als sei ein Stapel Blechrollen zusammengestürzt. Er spürte einen leichten Stoß. Bevor er den Kopf heben konnte, hörte er ein tosendes Rauschen, als habe jemand in der fahrenden U-Bahn ein Fenster geöffnet. Er richtete sich ruckartig auf und wartete, bis sein Verstand alle Sinneseindrücke verarbeitet hatte. Die Maschine flog weiterhin ruhig, das Wasser lief, das Licht brannte, und das Rauschen war leiser geworden. Alles wirkte normal, aber irgend etwas – sein Fliegerinstinkt – sagte ihm, daß er in einem todgeweihten Flugzeug flog.

Draußen in der Kabine strömte die unter Druck stehende Luft zischend durch die gähnenden Löcher im Rumpf der Straton 797 ab. Alle kleinen, nicht befestigten Gegenstände an Bord – Gläser, Tabletts, Hüte, Zeitungen, Aktenkoffer – wurden augenblicklich mitgerissen und verklemmten sich hinter festmontierten Gegenständen oder wurden ins Freie gesaugt.

Die Fluggäste saßen lange Sekunden unbeweglich da, ohne zu begreifen, was eben passiert war. Ihnen fehlte jeglicher Vergleichsmaßstab. Die normalen Reaktionen wie Schreie, beschleunigter Herzschlag, Adrenalinstoß, Gegenwehr oder Flucht fehlten völlig. Sie reagierten auf das Tosen der ausströmenden Luft lediglich mit Schweigen. Die entweichende Luft vergrößerte ihre Bewegungsenergie wie eine anschwellende Flutwelle.

Ein Baby wurde aus den Armen seiner fassungslosen Mutter gerissen und über die Köpfe von Passagieren hinweg durch das Steuerbordloch ins Nichts hinausgeschleudert.

Dann kreischte irgend jemand gellend.

Drei alleinreisende Kinder, ein Junge und zwei Mädchen, die in Reihe 13 die Sitze H, I und K hatten, waren nicht angeschnallt. Sie wurden von dem tosenden Sturm erfaßt und an Steuerbord aus der Maschine gesaugt.

Jetzt schrien alle, weil die Anblicke und Geräusche um sie herum allmählich bis in ihr Bewußtsein vordrangen.

Eine Sechzehnjährige, deren Sitz D in Reihe 18 durch den Einschlag der Rakete losgerissen worden war, klammerte sich verzweifelt an die Sitzschienen, während der noch immer angeschnallte Sitz an ihr zerrte. Dann riß der Anschnallgurt, und der Sitz schoß den Gang hinunter. Sie konnte sich nicht länger festhalten und wurde von unsichtbaren Riesenkräften hinterhergezerrt. Ihr langes blondes Haar stand wie eine Windfahne von ihrem Kopf ab, und ihre Kleidungsstücke wurden ihr vom Leib gerissen. Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet, als sie gegen die unsichtbaren Kräfte ankämpfte, die sie mitreißen wollten. Sie grub ihre Fingernägel in den Teppichboden, während die tosenden Luftmassen sie auf das Loch in der Backbordseite zu zogen.

Ihre Schreie erreichten nicht einmal die Fluggäste, die zu beiden Seiten des Backbordganges saßen. Das Heulen der entweichenden Luft war so schmerzhaft laut, daß die angeschnallten Menschen es körperlich wahrnahmen. Die Ereignisse in der Kabine glichen einer grauenerregenden Pantomime.

Einige der Bolzen, von denen beschädigte Sitze noch auf den Schienen gehalten wurden, gaben nach. Mehrere Sitzgruppen rissen sich los, rammten andere Sitzreihen und türmten sich über ihnen auf. Eine Vierergruppe mit noch angeschnallten Fluggästen verstopfte das kleinere Loch an Backbord und verstärkte dadurch den Sog auf der Steuerbordseite, wo die Phoenix beim Austritt ein größeres Loch gerissen hatte. Dort schienen sich ein halbes Dutzend losgerissener Sitzgruppen wie nervöse Fallschirmspringer vor dem Sprung zusammenzudrängen. Ein gegen sie krachender einzelner Sitz brachte die ineinander verkeilten Gruppen in Bewegung: Sie schossen nacheinander ins Leere hinaus, während die angeschnallten Passagiere sich festzuhalten versuchten.

John Berry, der nicht wissen konnte, was draußen passiert war, drückte die Klinke der Toilettentür nach unten und wollte die Tür aufziehen. Sie schien zu klemmen. Er zog mit aller Kraft daran, aber die Glasfasertür gab keinen Millimeter nach, obwohl er sah, daß sie entriegelt war. Berry machte einen erneuten Versuch. Auch diesmal blieb die Tür zu. Das verwirrte und ängstigte ihn. Er drückte mehrmals auf den Klingelknopf und wartete auf Hilfe.

Während die unter höherem Druck stehende Kabinenluft aus der Touristenklasse, der Ersten Klasse und dem Salon auf dem Oberdeck entwich, wurden die kleinen Räume, aus denen sie nicht so leicht entweichen konnte, noch verhältnismäßig gut mit Luft versorgt. Zu diesen Räumen gehörten vor allem die fünf Toiletten, deren Türen sich nach innen öffneten. Sie wurden durch die nach wie vor arbeitende Klimaanlage belüftet, und obwohl ein Teil der Luft durch die nicht luftdicht schließenden Türen entwich, war die Gesamtbilanz positiv. Die fünf Glasfasertüren standen unter einem Innendruck von etwa 1,8 Tonnen, der sie eisern geschlossen hielt.

Aus dem Salon auf dem Oberdeck wurden Gläser und Flaschen die Wendeltreppe hinab in die Erste Klasse gesaugt; Bücher, Zeitschriften und Zeitungen wurden Passagieren aus den Händen gerissen und verschwanden in einem tobenden Mahlstrom, der alle losen Gegenstände aus dem Salon anzog.

Die Fluggäste, die im Salon geblieben waren, als das Schild »Bitte anschnallen« aufgeleuchtet war, beobachteten entsetzt und fasziniert zugleich, wie alles Bewegliche in den Wirbel auf der Wendeltreppe gezogen wurde. Eddie Hogan, der Pianist, hatte »Autumn Leaves« gespielt, als der plötzlich einsetzende starke Sog ihn von seiner fest angeschraubten Bank riß. Die Klavierbank war mit einem speziellen Sicherheitsgurt ausgestattet, aber Hogan hatte darauf verzichtet, ihn anzulegen. Er wurde mit dem Kopf voraus die Wendeltreppe hinuntergesogen, flog quer durch die Hauptkabine und verschwand durch das große Steuerbordloch.

Ein in der Nähe des Klaviers sitzender Blinder bat mit klagender Stimme, jemand solle ihm doch sagen, was passiert sei. Sein Körper spannte den Sitzgurt, und er hatte alle Mühe, die Leine seines Blindenhundes festzuhalten. Der Setter schien mit fast übernatürlicher Kraft von ihm wegzustreben. »Shannon!« rief er laut. »Hör auf, Shannon!« Die Hündin winselte und versuchte, sich im Teppichboden festzukrallen. Dann riß die Leine, und der Blindenhund wurde in die Erste Klasse hinabgeschleudert, wo er wie leblos unter einem leeren Sitz liegenblieb.

Die etwa ein Dutzend im Salon angeschnallten Fluggäste sahen entsetzt, daß das Klavier und die Sitzbank in ihren Halterungen schwankten, als der Mahlstrom sie zu verschlingen drohte. Dann wurden die Menschen auf dem Oberdeck fast gleichzeitig hysterisch.

In der unter dem Salon liegenden Ersten Klasse trommelten die von dem Luftstrom mitgerissenen Gegenstände gegen die Köpfe und schützend erhobenen Hände und Arme der Sitzenden. Die fast kompakte Materialwolke rauschte durch den Vorhang in die Touristenklasse hinaus und folgte den unzähligen anderen Gegenständen, die bereits ins Vakuum hinausgeflogen waren, als lasse sich diese Leere auffüllen, erfüllen, wenn ihr nur genügend Menschen und Dinge geopfert würden.

In der Touristenklasse brüllte ein großer, stämmiger Mann, der in einer der hinteren Reihen angeschnallt war, gegen das tosende Rauschen der entweichenden Luft an. Er wütete gegen den Sturm, die mitgerissenen Gegenstände und das Schicksal, das ihn zu seinem ersten Flug in diese Maschine gesetzt hatte. Plötzlich öffnete er sein Gurtschloß und sprang auf. Er flog mit ausgestreckten Armen und Beinen über sitzende Passagiere hinweg und streifte dabei ihre Köpfe. An Steuerbord knallte sein massiger Körper gegen die messerscharfe Kante der aufgerissenen Duraluminbeplankung, die ihm den Hals aufschlitzte und den linken Arm abriß, als er aus dem Flugzeug hinauskatapultiert wurde.

In den Toiletten, deren Türen aufgesprungen waren, spritzte aus allen Hähnen Wasser in die unter niedrigerem Druck stehende Umgebung. Die Abwasser- und Fäkalientanks im Inneren der Maschine entleerten sich, und ihr Inhalt kam durch die Siphone und WCs herauf.

In den Bordküchen platzten die Wasserhähne und überfluteten die kleinen Spülbecken. Geschirr- und Kühlschränke sprangen auf, so daß nun auch Bestecke, Geschirr und Fertiggerichte durch die Gänge und Kabinen flogen.

Die außen angeschlagene Cockpittür hielt einen Augenblick lang stand. Ihr Schloß und die Aluminiumscharniere waren stabil, aber der Druckunterschied zwischen Cockpit und Kabine war zu groß, so daß die Tür schließlich zum Salon hin aufplatzte.

Captain Stuart hörte die Tür aufspringen. Gleichzeitig wurden alle beweglichen Gegenstände im Cockpit – Karten, Bleistifte, Kaffeetassen, Mützen und Jacken – hochgerissen und durch die offene Tür in den Salon hinausgesaugt, wo sie über die Treppe nach unten verschwanden. Stuart spürte, daß er gegen die Rükkenlehne seines Sitzes gedrückt wurde. Seine Arme flogen in die Höhe, wobei ihm die Armbanduhr vom Handgelenk gerissen wurde. Er hatte Mühe, seine Hände nach unten zu bringen, und wartete dann, bis der Luftstrom abgeebbt war. Der Captain versuchte zu rekonstruieren, was in den letzten Sekunden geschehen war. Er erinnerte sich an den leichten Schlag, den er gespürt hatte, aber er wußte nicht, was ihn bewirkt hatte. Stuart wußte nur, daß der Autopilot noch funktionierte und die Maschine nicht steuerlos war. Er sah zu McVary hinüber und drehte sich halb nach Fessler um. »Was ist passiert?« rief er heiser.

McVary starrte schweigend seine Instrumente an.

Fessler sah sich nach der offenen Tür um und gab keine Antwort.

»Sinken!« kommandierte Stuart und riß die Leistungshebel aller vier Triebwerke zurück. Dann schaltete er den Autopiloten aus und drückte die Steuersäule nach vorn. Der Bug des Verkehrsflugzeuges senkte sich steil nach unten, aber wegen ihrer hohen Horizontalgeschwindigkeit sank die Straton 797 nur langsam. Stuart beobachtete den Höhenmesser, während die Maschine sank. 58 000 Fuß. Seit dem Einschlag waren 50 Sekunden vergangen.

Stuarts Blick glitt über seine Instrumente. Sie zeigten normale Werte an, mit denen sich der gewaltige Druckabfall in der Kabine nicht erklären ließ. Konnte sich eine der Türen geöffnet haben? Nein, die Kontrolleuchten zeigten, daß alle geschlossen waren. War ein Fenster defekt? Nein, dafür war der Druckabfall zu plötzlich. Und was hatte den Schlag bewirkt? Eine Bombe? Es muß eine Bombe gewesen sein, dachte er. Was ist dort hinten passiert?

Der Captain starrte den Kabinendruck-Höhenmesser an, dessen Zeiger sich wie rasend drehten. Der Kabinendruck, der bisher dem Druck in 10 000 Fuß Höhe entsprochen hatte, stand bereits auf 19 000 Fuß. Verlieren Druck. Druck halten. Sie verloren die künstliche Atmosphäre, die ihnen das Leben in 62 000 Fuß Höhe erst ermöglichte; sie büßten sie durch irgendein großes Loch im Rumpf ein.

Alan Stuart verglich die Anzeigen der beiden Höhenmesser. Der Funkhöhenmesser zeigte ihm, daß die Straton erst auf 55 000 Fuß gesunken war. Der Kabinenhöhenmesser zeigte 30 000 Fuß, dann 35 000 Fuß an. Stuart schätzte, daß die künstlich erzeugte Atmosphäre entwichen sein würde, wenn ihre Maschine 50 000 Fuß erreichte. Dann würden beide Höhenmesser den gleichen Wert anzeigen: Die Stratosphäre würde in der Kabine sein.

Stuart merkte, daß ihm schwindelig wurde, schaltete instinktiv den Autopiloten wieder ein und wählte die höchste zulässige Sinkgeschwindigkeit. Dann lehnte er sich zurück. Er hatte quälende Kopfschmerzen. Wegen des starken Druckabfalls begannen seine Stirn- und Kiefernhöhlen zu schmerzen. Dann kam Nasenbluten dazu. Ein Blutstrom ergoß sich über sein weißes Hemd. Seine Lungen enthielten fast keine Luft mehr. Er fühlte sich ausgehöhlt. Er hatte kalte Hände und Füße und wußte nicht, ob daran der Blutverlust oder der Verlust an Kabinenwärme schuld war.

Die vier Triebwerke der Straton 797 saugten die dünne Außenluft an, komprimierten sie und pumpten sie in den beschädigten Flugzeugrumpf. Als die Maschine sank, wurde die Luft etwas dichter, so daß die Belüftung etwas besser funktionierte. Aber Stuart ahnte … nein, er wußte, daß dies ein hoffnungsloser Kampf war, weil die Atemluft schneller entwich, als sie ersetzt werden konnte. Das Ganze glich einer Rechenaufgabe, aber er hatte jetzt so starke Kopfschmerzen, daß er sich nicht darauf konzentrieren konnte. Er konnte nur noch an seine Kopfschmerzen denken.

Captain Stuart sah langsam zu McVary hinüber. Der Kopilot hatte seine Sauerstoffmaske aufgesetzt und setzte auf der internationalen Notfrequenz eine Mayday-Meldung ab. Stuart schüttelte den Kopf. »Zwecklos«, flüsterte er vor sich hin, griff aber trotzdem nach seiner Sauerstoffmaske, setzte sie auf und zog die Riemen an. Er drehte sich kurz nach Fessler um. Der Flugingenieur war an seinem Arbeitsplatz zusammengesackt. Er blutete aus Mund, Ohren und Nase.

McVary sprach weiter auf der Notfrequenz, obwohl er nicht mehr zusammenhängend denken und reden konnte. Er holte unter seiner Sauerstoffmaske tief Luft. Dann hatte er Blut im Mund und mußte schlucken, um weitersprechen zu können.

Dan McVary war sich darüber im klaren, daß die Sauerstoffmaske allein nicht genügte. Ohne den entsprechenden Druck, der den Sauerstoff durch seine Lungen ins Blut zwang, war sie sogar fast wertlos. Der Sauerstoffzylinder hinter Fesslers Arbeitsplatz hätte ebensogut in San Francisco stehen können, so wenig nützte er ihnen. Nur ein Druckanzug, wie McVary ihn als Militärpilot getragen hatte, hätte ihn retten können. Aber er wußte, daß er nicht mehr genug Zeit gehabt hätte, einen Druckanzug anzulegen.

McVary, der als junger Mann 46mal durch das wütende Flakfeuer zwischen Haiphong und Hanoi geflogen war, ohne einen einzigen Kratzer davonzutragen, hatte plötzlich mehr Angst als bei irgendeinem dieser Einsätze. Wie war das passiert? In modernen Verkehrsmaschinen durfte es keinen plötzlichen Druckabfall geben. Technische Wunderwerke … für alle Notfälle vorgesorgt … nur ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände … Er hatte dröhnende Kopfschmerzen und spürte eine Kälte in seinem Inneren, die ihn erschreckte. Dan McVary wußte, daß er starb.

Vor Stuarts Augen verschwamm alles. Er senkte den Kopf, um die Digitaluhr abzulesen. Seitdem er den Schlag gespürt hatte, war über eine Minute vergangen. Die Straton befand sich jetzt in einem steilen Sinkflug, der von dem Autopiloten kontrolliert wurde. Er sah, daß die Sinkgeschwindigkeit 12 000 Fuß pro Minute betrug. Sie passierten die 53 000-Fuß-Marke. Der Kabinendruck war bei 45 000 Fuß angelangt. Das bedeutete, daß sie nicht rechtzeitig niedrigere Höhen erreichen würden, in denen die Sauerstoffmasken ihnen das Leben retten konnten. Er schüttelte den Kopf. Sie waren alle so gut wie tot.

Stuart überlegte, ob er sich über die Bordsprechanlage an die Passagiere wenden sollte. Aber er konnte sich nicht dazu aufraffen. Er bezweifelte, daß sie ihm zuhören oder das Gesagte begreifen würden. Flugzeuge sanken nicht langsam wie Ozeanriesen; in ihnen gab es keine Zeit für dramatische Reden oder tapfere Abschiede. Nach einigen schrecklichen Sekunden oder Minuten kam der Tod.

In der Touristenkabine hatten die Windgeräusche und das Tosen der entweichenden Luft erheblich nachgelassen, weil der Druckunterschied zwischen innen und außen geringer geworden war. Die Menschen konnten sich jetzt wieder verstehen, aber nur wenige Fluggäste sprachen miteinander. Die meisten Passagiere hatten die automatisch freigegebenen, von der Dekke herabhängenden Sauerstoffmasken aufgesetzt, atmeten tief und waren verwirrt, weil das vertraute Gefühl, gut durchgeatmet zu haben, völlig fehlte.

Kälte drang in die Kabine, verstärkte die Schockwirkung und verschlimmerte die Folgen des Sauerstoffmangels. Unter der Kabinendecke sammelte sich Wasserdampf an, weil die an Bord vorhandene Feuchtigkeit durch den Druck- und Temperaturrückgang kondensierte. Die Fluggäste starrten diese sich bildenden Wolken an, ohne zu wissen, woraus sie bestanden und was sie bedeuteten.

»Feuer!« rief jemand. Einige Leute schrien auf, aber die meisten blieben stumm und fanden sich mit dieser neuen Abweichung von der Norm ab, weil sie zu benommen und desorientiert waren, um darauf zu reagieren. Die Wolke zog wie aufkommender Nebel durch die Kabine und bedeckte die schweigend dasitzenden Menschen mit einem amorphen grauen Schleier. Die Kabinenbeleuchtung verschwamm dahinter zu geheimnisvollen Lichtpunkten. An den Wänden und Fenstern bildeten sich weiße Eiskristalle. In der Nähe des Steuerbordlochs herrschte kurz eine Art Schneetreiben, bis die Feuchtigkeit sich verflüchtigt hatte.

Als das Tosen der entweichenden Luft verebbte, wurden die Triebwerksgeräusche der Straton 797 und das Rauschen der an den gähnenden Löchern abreißenden Luftströmung immer lauter. Diese neuen Geräusche erfüllten die Touristenkabine und übertönten das leise Stöhnen der Verletzten.

Zahlreiche Fluggäste waren tot oder lagen im Sterben, und die übrigen standen unter Schockwirkung. Aber das Schlimmste schien überstanden zu sein. Die Maschine flog noch, ohne in einen unkontrollierten Absturz übergegangen zu sein. Eine seltsame Ruhe, eine angenehme Trägheit, die an die Wirkung eines Beruhigungsmittels erinnerte, bemächtigte sich der Passagiere, als die ersten Wirkungen des Sauerstoffmangels eintraten. Die Kopfschmerzen waren noch da, aber sie schienen abzuklingen.

Captain Stuart ließ den Kopf bis auf die Instrumente sinken. Im Cockpit schien es dunkel geworden zu sein, aber er erkannte, daß die Instrumentenbeleuchtung funktionierte. Stuart konzentrierte sich auf die beiden Höhenmesser. Die Maschine befand sich in 51 000 Fuß und sank weiter. Der Kabinendruck entsprach ebenfalls 51 000 Fuß und sank gleich schnell. Die Druckdifferenz war Null. Außen war innen. Innen war außen.

Der Autopilot steuerte das Flugzeug mit höchstzulässiger Sinkgeschwindigkeit in die dichteren Luftschichten bei 30 000 Fuß, wo ihre Sauerstoffmasken funktionieren würden. Trotzdem war abzusehen, daß der Sauerstoffmangel schon zuvor fatale Konsequenzen haben würde. Stuart wußte, daß daran nicht zu rütteln war. Die Zahlen – Geschwindigkeit, Höhe, Sinkgeschwindigkeit und Druckabfall – sprachen eine deutliche Sprache. Wenn das verdammte Loch kleiner gewesen wäre …

Überall in der Maschine starben zuerst die Alten, dann die Kranken. Lungen fielen zusammen, Herzen hörten auf zu schlagen, geschwächte Arterien platzten, Blut trat aus allen Körperöffnungen. Innere Blutungen in Schädeln und Körper-höhlen bewirkten schmerzhafte Tode. In Körperhöhlen bildeten sich unter Überdruck stehende Luftansammlungen, und die davon Betroffenen zerkratzten sich bei dem Versuch, an diese Stellen heranzukommen, Gesicht und Körper.

Junge und Alte, Gesunde und Kranke litten unter Hyperventilation, Schwindelanfällen, Sehstörungen und Brechreiz. Manche erstickten, weil ihre Muskeln, durch den Sauerstoffmangel bedingt, nicht mehr auf den Brechreiz reagierten. Die Haut der Menschen verfärbte sich bläulich. Sie verloren die Kontrolle über ihre Körperfunktionen, und wenn sie für normale Sinneswahrnehmungen empfänglich gewesen wären, hätten sie gemerkt, daß es in der Kabine stank. Mehr und mehr Passagiere hatten es bereits aufgegeben, aus den Sauerstoffmasken atmen zu wollen, aber viele Fluggäste hielten sie sich noch immer vors Gesicht und verfluchten im stillen das Rettungssystem, das keinen Sauerstoff zu liefern schien. Aber der Sauerstoff war da. Die Moleküle strömten aus den Masken an den Gesichtern der unter Sauerstoffmangel Leidenden vorbei und verflüchtigten sich in der unter niedrigem Druck stehenden Atmosphäre.

Captain Stuart war kaum mehr bei Bewußtsein. Er drehte mühsam den Kopf nach rechts. McVary saß noch aufrecht da und starrte geradeaus. Er schien Stuarts Blick zu spüren, denn er bewegte sich ruckartig und sah ihn mit seltsamem Gesichtsausdruck an. Stuart blickte nach hinten. Fessler lag noch immer in einer Blutlache auf seinem Instrumententisch. Die Blutung schien inzwischen zum Stehen gekommen zu sein.

Stuarts Finger waren taub; seine Arme und Beine fühlten sich bleischwer an. Sein Gehirn schien sich vom Körper gelöst zu haben und frei im Raum zu schweben.

Seine Gehirnzellen starben an Sauerstoffmangel, aber ein einziger Gedanke strahlte in der Dunkelheit des Cockpits wie einLeuchtturm in finsterer Nacht. Seitdem Stuart Überschallflugzeuge flog, hatte er sich Gedanken über einen schlagartigen Druckabfall in Reiseflughöhe gemacht. Er wußte, daß er dann den Autopiloten ausschalten und die Maschine in den Sturzflug bringen mußte. Lieber sterben, als durch ein Wunder heil herunterkommen und taubstumm, blind, gelähmt, schwachsinnig weiterleben. Stuart dachte an seine Familie. Nein, lieber Gott, nur das nicht!

Der Captain tastete nach dem Knopf am Steuerhorn, mit dem sich der Autopilot ausschalten ließ. Nein, das genügte nicht. McVary konnte ihn wieder einschalten. Stuart tastete weiter und fand den Schalter, den er eigentlich suchte: den Hauptschalter des Autopiloten, den es auf McVarys Seite nicht gab. Er schob die Schutzhaube zurück und spürte den kleinen Kippschalter zwischen den Fingern.

Er zögerte. Sein Überlebenstrieb war stärker als sein aussetzender Verstand. Er mußte rasch handeln. Rasch! Aber was? Seine Finger rutschten von dem schwergängigen Schalter ab. Der Captain lehnte sich zurück und starrte nach vorn. Er runzelte die Stirn. Er hatte Kopfschmerzen. Irgend etwas beunruhigte ihn. Kaffee. Brasilien. Er sollte Kaffee aus Brasilien holen. Alan Stuart lächelte. Über sein Kinn lief ein dünner Speichelfaden.

Der Autopilot steuerte die Straton 797 weiterhin präzise durch den vorprogrammierten Notabstieg. Sein Magnetspeicher und seine Elektronik spürten nichts von dem Sauerstoffmangel, unter dem die Menschen an Bord litten. Der Autopilot würde die Maschine auf 11 000 Fuß hinunterbringen, wo die Luft wärmer und sauerstoffreicher war, und den Kurs nach Tokio beibehalten. Das alles konnte er mühelos. Aber er konnte die Straton nicht landen.

John Berry spürte die Wirkung der verdünnten Luft. Er hatte begonnen, zu hastig zu atmen. Jetzt hatte er stechende Kopfschmerzen und fühlte sich schwindelig. Er stützte sich auf den Waschtisch, bis er sich einigermaßen erholt hatte.

Er richtete sich wieder auf und rüttelte erneut an der Tür. Sie gab noch immer nicht nach. Er fühlte sich zu schwach, um einen energischen Versuch zu machen. Sein Blick fiel auf seine abgenommene Armbanduhr. 11.04. Seit dem leichten Schlag waren erst zwei Minuten vergangen. Sie kamen ihm wie eine halbe Ewigkeit vor.

Berry bearbeitete die Tür mit beiden Fäusten. »Aufmachen! Macht die verdammte Tür auf! Ich sitze hier fest!« Er legte ein Ohr an die Tür. In der Kabine waren seltsame Geräusche zu hören. Er klopfte weiter, mußte erschöpft eine Pause einlegen und nahm sich vor, einen weiteren Anlauf zu nehmen, sobald er wieder zu Kräften gekommen war. John Berry wußte, daß die Rettungsinseln für ihn unerreichbar waren, falls die Maschine im Meer notwasserte. Er würde ertrinken, falls das Flugzeug sank. Er nahm seinen schmerzenden Kopf zwischen die Hände und mußte sich plötzlich übergeben. Dann richtete er sich auf und atmete mehrmals tief durch, aber das Schwindelgefühl überrollte ihn wie eine gewaltige Woge. Als er sich Gesicht und Hände waschen wollte, fiel ihm ein, daß der Wasserhahn ausgelaufen war. Warum?

In der Toilette schien es stetig dunkler zu werden, und er fühlte sich schwächer. Er sackte zusammen, empfand eine seltsame Euphorie und hatte die Gewißheit, daß der Tod nicht allzu schlimm sein würde. Das hatte er eigentlich nie geglaubt. Bruchstückhafte Erinnerungen zogen vor seinem geistigen Auge vorbei. Er erinnerte sich an seine Kindheit, dachte an seine Kinder und hatte Jennifer vor sich, wie sie früher gewesen war. Dann wurde es ihm schwarz vor den Augen.

Die Klimaanlage versorgte die Toilette gleichmäßig mit unter Druck stehender, temperierter Luft. Sie entwich zum größten Teil durch die Türspalte, aber der Innendruck blieb trotzdem so hoch, daß die Tür sich nicht öffnen ließ. Und der Druckverlust ging so langsam vor sich, daß die Verhältnisse in dem kleinen Raum im schlimmsten Fall einer Flughöhe von 31 000 Fuß entsprachen.

John Berry lag auf dem Fußboden zusammengesackt und atmete unregelmäßig. Fünf Minuten in einer Höhe von 31 000 Fuß hätten sein Gehirn unheilbar geschädigt. Aber der Autopilot brachte die Straton 797 rasch in tiefere Schichten.

Um 11.08 Uhr, sechs Minuten nach dem Einschlag der Phoenix-Rakete, erreichte die Verkehrsmaschine eine Höhe von 18 000 Fuß.

Der Autopilot registrierte diesen Wert und begann mit dem Abfangen aus dem Notabstieg. Die Sturzflugbremsen wurden eingefahren; dann brachte der Autopilot die vier Triebwerke langsam und gleichmäßig auf höhere Umdrehungen.

Im Cockpit hockten drei Gestalten zusammengesunken und angeschnallt auf ihren Sitzen. Die beiden Steuerhörner bewegten sich im Gleichtakt, die vier Leistungshebel wurden nach vorn geschoben, und die Ruder machten ständig leichte Steuerbewegungen. Die Straton 797 flog unbeirrbar präzise. Aber sie war kein Geisterschiff, kein Fliegender Holländer, sondern ein modernes Flugzeug, dessen Autopilot die ihm erteilten Befehle ausführte. Zumindest vorläufig war alles in bester Ordnung.

Als der Autopilot die Nähe der gewünschten Höhe registrierte, ließ er die riesige Maschine in 11 000 Fuß bei einer treibstoffsparenden Geschwindigkeit von 340 Knoten in den Horizontalflug übergehen. Die Klimaanlage hatte sich automatisch ausgeschaltet, als das Flugzeug tiefere Luftschichten erreichte. Frische Meeresluft strömte in die Kabinen des Trans-United-Fluges 52.

Einige Minuten nach dem Abfangen erwachten die ersten Passagiere aus ihrem unnatürlichen Schlaf.