12

 

Edward Johnson starrte die Nachricht von Flug 52 an.

VON FLUG 52: WIR WOLLEN UNSEREN KURS NICHT ÄNDERN.

HAWAII IST EIN ZU KLEINES ZIEL. BEHALTEN GEGENWÄRTIGEN

KURS VON 120 GRAD BEI. ERBITTEN GENAUEN KURS UND

ENTFERNUNG/FLUGZEIT NACH SAN FRANCISCO.

BERRY

»Scheiße!« Johnson zog eine Zigarre aus der Brusttasche seines Hemdes und biß das Ende ab. »Der Kerl ist zu gerissen.« Er warf die Zigarre verärgert auf den Fußboden, ohne sie angezündet zu haben.

Metz beobachtete ihn aufmerksam. Die Idee, die Straton 797 nach Hawaii fliegen zu lassen, hatte ihm von Anfang an nicht gefallen, und er war jetzt fast erleichtert, daß sie gescheitert war. »Du mußt irgendwas tun, Ed. Du mußt ihm Anweisungen geben, die ihn abstürzen lassen, damit wir hier verschwinden können, bevor …«

»Halt’s Maul, Wayne. Ich weiß selbst, was ich zu tun habe.« Johnson hatte beinahe den Verdacht, daß Berry sein Spiel durchschaute. »Ich darf ihn nicht drängen. Dazu ist er zu schlau.«

»Was willst du ihm antworten?«

»Was bleibt mir übrig, als ihm die gewünschten Informationen zu geben?«

»Mann, dadurch helfen wir ihnen doch!«

»Ich muß ihn zunächst beschwichtigen.«

Johnson trat an die Pazifikkarte.

Er hielt ein Lineal in der Hand, mit dem er die Entfernung nach San Francisco abmaß. »Mit diesem neuen Kurs sind sie auch nicht besser dran. Vielleicht eher etwas schlechter. Aber ich kann keinen ganz absurden Kurs durchgeben. Dieser Berry

ist …« »Ja, ich weiß. Er ist zu gerissen.« »Ich wollte sagen, daß er vielleicht mißtrauisch geworden

ist.«

Metz schlug mit der flachen Hand auf das Data-Link-Gerät. »Du traust dem Kerl zuviel zu, Ed! Er ist bloß ein kleiner Sonntagsflieger, der in dem größten und kompliziertesten Flugzeug sitzt, das je gebaut worden ist – und das zwei große Löcher im Rumpf hat und voller Hirngeschädigter steckt. Mann, wie soll er gegen das alles ankommen?« Er machte eine Pause, bevor er halblaut hinzufügte: »Ein kleiner Stoß in die falsche Richtung muß genügen, um Berry zu Fall zu bringen.«

Johnson ignorierte ihn. Er setzte sich, um die Antwort zu schreiben.

AN FLUG 52: WIR SIND HIER, UM IHNEN ZU HELFEN, UND WERDEN UNS IN MANCHEN DINGEN IHREM URTEIL BEUGEN, WENN SIE SICH GENAUESTENS AN UNSERE TECHNISCHEN ANWEISUNGEN HALTEN. ZU IHRER ANFRAGE: STEUERKURS NACH SAN FRANCISCO 131 GRAD. ENTFERNUNG 1760 NAUTISCHE MEILEN. VORAUSSICHTLICHE FLUGZEIT FÜNF STUNDEN ZEHN MINUTEN BEI JETZIGER GESCHWINDIGKEIT. VERANLASSEN BEGLEITUNG DURCH MILITÄRFLUGZEUGE. TREFFEN VORAUSSICHTLICH IN ETWA ZWEI STUNDEN.

SAN FRANCISCO

Metz sah zu der Wanduhr hinüber. Sie zeigte 14.02 Uhr an.

Johnson nickte ihm beruhigend zu. »Das ist schon in Ordnung, Wayne. Auf dem Flugsicherungsradar würde die Maschine erst gegen achtzehn Uhr erscheinen. Wir haben noch viel Zeit, bevor die Straton geortet wird.«

»Und was ist mit dem Militär?« Johnson lächelte sarkastisch. »Wenn du die SAR-Leitstelle nicht anrufst, Wayne, verspre

che ich dir, daß ich’s auch nicht tue.«

»Ist sie nicht schon von der Flugsicherung verständigt worden?« fragte Metz.

»Natürlich! Die halbe Luftwaffe und die halbe Marine suchen bereits nach der Straton. Aber sie vermuten sie auf einem anderen Kurs – und der Luftraum über dem Pazifik ist verdammt groß.« Johnson trat an den Telekopierer, der die Wetterkarten druckte. »Außerdem dürfte die Suche durch eine heranziehende Schlechtwetterfront erschwert werden.«

Metz schüttelte ungeduldig den Kopf. »Bei unserem Glück finden sie die Straton wahrscheinlich innerhalb der nächsten zehn Minuten.«

»Bei unserem Glück? Mr. Berry kann sich heute auch nicht gerade als Glückspilz fühlen. Ich möchte wetten, daß er sich wünscht, er hätte die Maschine verpaßt. Jedenfalls ist mir unser Glück lieber als seines!« Der Vizepräsident machte eine Pause. »Selbst wenn ein Schiff oder Flugzeug die Straton entdeckt, kann niemand etwas für Berry tun. Das können nur wir, weil nur wir Verbindung mit ihm haben – und das weiß wiederum niemand außer uns.«

»Gut, aber was wollen wir unternehmen? Was können wir tun, damit die Maschine endlich abstürzt?«

Das Telefon klingelte. Johnson nahm den Hörer ab. »Johnson«, meldete er sich. »Ja, Sir. Wir bemühen uns noch immer, wieder Verbindung mit der Maschine zu bekommen. Nein, Sir, ich glaube, daß ich hier eher gebraucht werde.« Er hörte kurz zu, beantwortete mehrere Fragen und sagte schließlich: »Falls Sie weitere Auskünfte brauchen, bin ich hier zu erreichen. Danke für den Anruf, Sir.« Johnson legte auf und sah zu Metz hinüber. »Das war unser hochverehrter Präsident. Er und die anderen sind im Konferenzraum. Mit etwas Glück bleiben sie dort drüben, wo’s eine Bar und eine Klimaanlage gibt. Dieser Raum gefällt ihnen nicht.«

»Mir eigentlich auch nicht.« Metz starrte nachdenklich das Telefon an. »Ich habe auch einen Boss, der sich wahrscheinlich fragt, was hier vorgeht. Wenn ich das schon wüßte, würde ich ihn anrufen.«

»Am besten rufst du ihn an, bevor er irgendwas in den Nachrichten hört oder einen Anruf von unserem Präsidenten bekommt. Das haben Präsidenten so an sich. Sie rufen Leute an und wollen wissen, was los ist. Sie interessieren sich wirklich für alles. Wenn euer Präsident wie unserer ist, wird er bestimmt schon ungeduldig.«

Der Versicherungsmann schüttelte den Kopf. »Nein, ich warte noch.« Er sah zu Johnson hinüber. »Gut, welche Anweisungen willst du Berry geben?«

Johnson blätterte in dem Betriebshandbuch. »Du weißt doch, wie’s mit schlechten Ratschlägen ist? Der erste ist entschuldbar, der zweite verdächtig und der dritte bereits offen feindselig. Das bedeutet, daß ich noch einen Versuch freihabe.« Er runzelte die Stirn, während er weitersuchte.

»Du darfst ihn nicht überschätzen, Ed«, wandte Metz ein. »Wenn wir ihn zum Absturz bringen wollen, müssen wir eben etwas riskieren!«

Johnson blätterte weiter. »Als ich ihm vorhin den neuen Kurs genannt habe, habe ich unwillkürlich die Luft angehalten«, stellte er fest. »Weißt du auch, warum? Weil es absolut keine Möglichkeit gibt, von hier aus seine genaue Position festzustellen – und weil ich nicht wissen konnte, ob er sich darüber im klaren sein würde. Ich habe darauf gesetzt, daß Berry keine Ahnung von den Verhältnissen über dem Pazifik hat, wo es keine Radarunterstützung gibt. Und ich habe mich darauf verlassen, daß Miss Crandall sich nie genug für die Arbeit der Piloten interessiert hat, um besser als er informiert zu sein. Du brauchst mir also nichts von Risiken zu erzählen, die wir eingehen sollen!«

Metz wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Mein Gott, ich hab’ nie geahnt, wie kompliziert die Sache werden würde.«

»Unwissenheit kann ein Segen sein, Wayne«, erwiderte der Vizepräsident sarkastisch. »Aber wenn du so unwissend bist, daß du dir einbildest, wir könnten jetzt rufen ›Das Spiel ist aus!‹ und heimgehen und vergessen, was wir zu tun versucht haben, muß ich dich leider enttäuschen. Seitdem ich diesen neuen Kurs durchgegeben habe, können wir nicht mehr zurück. Sollte er nämlich heil landen, läßt sich der angebliche Ausfall des Data-Link irgendwie erklären – aber für diesen neuen Kurs gibt es keine plausible Erklärung.«

Metz ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Falls sie zurückkommen …, falls sie heil landen …, können wir einfach sagen, hier liege ein Mißverständnis vor. Der Sauerstoffmangel hat sie …«

Johnson blätterte eine Seite zurück, begann zu lesen und hob dann den Kopf. »Richtig, das könnten wir behaupten, Wayne. Aber siehst du den ausgedruckten Text in der Maschine? Einmal darfst du raten, wo die Gegenstücke dazu sind. Aber nur einmal!«

»Ach, Scheiße!«

»Ganz recht. Data-Link-Geräte funktionieren nicht hundertprozentig zuverlässig, aber sie leiden nicht unter Sauerstoffmangel, und falls der Drucker im Cockpit der Straton angestellt ist, haben sie genügend Beweismaterial für eine Anklage wegen versuchten Mordes.«

Metz sank sichtlich in sich zusammen. »Mein Gott, warum hast du mir das alles verschwiegen?«

»Warum? Weil ich weiß, daß du ein Waschlappen bist! Du hast bereitwillig mitgemacht, solange du glauben konntest, mir würde eine einfache technische Lösung einfallen, wie man die Straton ins Meer stürzen lassen könnte. Hättest du von Anfang an alle Probleme gekannt, wärst du wahrscheinlich gleich zu deinem Psychiater gelaufen.«

Der Versicherungsmann stand langsam auf. »Jetzt geht’s um mehr als unsere Karrieren. Wenn …«

»Allerdings! Es geht um unser oder ihr Leben, Wayne. Wenn sie heil landen, kriegen wir mindestens zwanzig Jahre. Kannst du dir vorstellen, wie das unsere Beförderungschancen beeinträchtigen würde?« Johnson warf einen Blick in das Betriebshandbuch, bevor er sich wieder an Metz wandte. »Anstatt dort drüben zu stehen und zu bibbern, solltest du lieber ganz ruhig ans Data-Link gehen und die letzten Texte von der Rolle reißen.«

Metz trat an das Gerät. Seine Hände zitterten, und er hatte wieder Schweißperlen auf der Stirn. Er warf einen Blick ins Dispatcherbüro. Gelegentlich sah einer der Männer zu ihnen hinüber.

Johnson stand auf und ging zur Tür.

»Los, Wayne! Mit einer raschen Bewegung aus der Maschine in deine Tasche. Alle beobachten jetzt mich.« Seine Hand lag auf der Klinke. »Los!«

Metz riß das Papier ab und stopfte es hastig in die Hosentasche.

Johnson schien sich die Sache anders überlegt zu haben: Er ließ die Klinke los und ging an seinen Platz zurück. »Gut gemacht, Wayne. Bei unmittelbar bevorstehender Gefangennahme ißt du das Beweismittel am besten auf.«

Der Versicherungsmann blieb vor ihm stehen. »Dein Humor gefällt mir allmählich nicht mehr, Ed.«

Johnson zuckte mit den Schultern. »Und mir gefällt dein Mangel an Humor nicht. Das ist das erste Anzeichen einer geistigen Störung – die Unfähigkeit, die Dinge von der besseren Seite zu sehen.«

Metz hatte das Gefühl, die Situation entgleite seiner Kontrolle. Alles in diesem Raum – auch Ed Johnson – kam ihm so fremdartig vor. Er konnte Menschen beeinflussen und durch sie ihre Technologie, ihre Fabriken, ihre Maschinen steuern. Aber die Maschinen selbst ließen sich nicht manipulieren. Der menschliche Faktor war eigentlich weniger unberechenbar als der technische: Computer und Triebwerke, die funktionierten, wenn sie hätten stillstehen sollen, und stillstanden, wenn sie funktionieren sollten. »Ich habe das Gefühl, daß die Straton landen wird, wenn wir nicht dafür sorgen, daß sie abstürzt.«

Der Vizepräsident nickte grinsend. »Eine späte, aber richtige Erkenntnis. Das Flugzeug und der Pilot sind soweit in Ordnung. Wenn Berry die Nerven behält, kann er auf irgendeinem Flughafen oder sonstwo landen, und du kannst dich darauf verlassen, daß dabei er selbst, die ausgedruckten Data-Link-Mitteilungen oder der Flugschreiber der Straton heil bleiben.«

»Das dürfen wir nicht zulassen!«

»Richtig, das müssen wir verhindern.« Johnson tippte auf das vor ihm aufgeschlagene Betriebshandbuch. »Hier drin steht etwas, das ihn erledigt – schnell erledigt. Und ich bin dieser Sache auf der Spur.«

Die Nachmittagssonne glitzerte auf der ruhigen See, die der Flugzeugträger Chester W. Nimitz gleichmäßig durchpflügte. Ein mäßiger Wind, der durch die 18 Knoten Fahrt der Nimitz entstand, wehte über das leere Flugdeck. Unter Deck wurden nachmittags gemächlich Wartungs- und Routinearbeiten vorgenommen.

Commander James Sloan und Vizeadmiral a. D. Randolf Hennings saßen schweigend im Raum E-334. Beide hatten seit einigen Minuten nichts mehr gesagt; beide hingen ihren eigenen Gedanken nach. Für Sloan lagen das Problem und die Lösung auf der Hand.

Aus Hennings’ Sicht stellte sich das Problem erheblich komplizierter dar. Sloan trug einen starren, kompromißlosen Gesichtsausdruck zur Schau. Hennings’ Gesichtsausdruck verriet seinen Gewissenskonflikt.

Sloan ergriff schließlich das Wort. »Die Situation ist unverändert«, stellte er fest. »Wir haben nur den Fehler gemacht, darauf zu warten, daß die Straton von selbst abstürzen würde.

Aber es hat keinen Zweck, diese Diskussion endlos lange fortzusetzen. Sie müssen versuchen, die Sache als taktisches Problem zu sehen, Admiral.«

Hennings war abgespannt und hatte Kopfschmerzen. »Hören Sie auf, mir Kriegsanalogien vorzusetzen, Commander. Das zieht nicht mehr.« Hennings hatte nach Matos’ Meldung, die Verkehrsmaschine habe eine Kurve geflogen, darauf gehofft, daß Sloan einsehen würde, daß sie nicht weiter versuchen durften, das Flugzeug zu vernichten. Die Vorstellung, Kapitän z. S. Diehl zu beichten, was sie getan hatten, war geradezu erleichternd. Aber er hätte wissen müssen, daß Sloan nicht so schnell aufgeben würde. Für Sloan bedeutete es keinen großen Unterschied, ob sie ein Flugzeug abschossen, das nach ihrer Überzeugung nur noch Tote an Bord hatte, oder eines abschossen, in dem es offenbar noch Leben gab. »Und behaupten Sie nicht immer wieder, die Situation sei unverändert! Ganz im Gegenteil: Jetzt hat sich alles geändert.«

»Richtig, alles hat sich verschlimmert. Ich möchte nochmals betonen, Admiral, daß ich nicht ins Gefängnis will. Mein ganzes Leben liegt noch vor mir. Sie werden in Portsmouth wahrscheinlich als VIP behandelt – mit eigenem Häuschen oder wie Admirale sonst untergebracht werden –, aber ich … Da fällt mir übrigens ein, daß Sie in diesem Jahrhundert der erste amerikanische Admiral sein werden, der vors Kriegsgericht kommt, nicht wahr? Oder vielleicht werden Sie als Pensionär entwürdigenderweise von einem Zivilgericht verurteilt.«

Hennings bemühte sich, die Aneinanderreihung kleiner Kompromisse zu begreifen, die ihn so weit erniedrigt hatten, daß er sich von einem Mann wie Sloan derartige Unverschämtheiten anhören mußte. Er wurde entweder senil oder hatte einen moralischen Webfehler, von dem er bisher nichts gewußt hatte. Jedenfalls war James Sloan nicht gerissen genug, um ihn in die Tasche zu stecken. »Sie haben eine ziemlich hohe Meinung von sich selbst, nicht wahr?« fragte er den Commander. »Aber wenn Sie so intelligent wären, wie Sie glauben, säßen wir nicht in der Patsche.«

»Ich habe nichts dagegen, mich zu exponieren, wenn dadurch etwas zu gewinnen ist. Aber mich stört, daß Sie mir dauernd ins Gehege kommen. Das alles wäre längst erledigt, wenn Sie nicht gezögert und wir uns Matos’ Gewäsch über Beschädigungen und Ermüdungsrisse nicht so lange angehört hätten.«

Hennings nickte. Das stimmte allerdings. Sloan hatte die letzte Stunde damit verbracht, ihm auseinanderzusetzen, warum Peter Matos die Straton abschießen sollte. Und er hatte in diesem Zeitraum dazu geraten, auf eine Meldung von Matos zu warten, daß die Straton von selbst abgestürzt sei. Der Leutnant hatte bestätigt, daß das Verkehrsflugzeug trotz seiner Beschädigungen noch immer einwandfrei flog; es hatte lediglich einen Kurswechsel von 120 auf 131 Grad vorgenommen. Außerdem hatte Matos gemeldet, daß Menschen aus der Straton gesprungen oder gefallen waren. Das alles war unverständlich. »Warum dieser Kurswechsel? Weshalb fallen Menschen aus einer ruhig in der Luft liegenden Maschine. An Bord ist offenbar doch kein Brand ausgebrochen. Andererseits springen die Leute bestimmt nicht freiwillig. Das wäre unsinnig. Was geht dort oben vor, verdammt noch mal?«

Sloan wußte selbst nicht, was er von diesem Kurswechsel halten sollte. Für einen Rückflug nach San Francisco wäre der erste Kurs günstiger gewesen. Der neue Kurs konnte bewirken, daß die Straton fast parallel zur Westküste flog. Der Commander sah zu Hennings hinüber. »Wahrscheinlich hat der Pilot die Orientierung verloren. Unter Umständen funktionieren seine Navigationsinstrumente nicht richtig. Und was die anderen Leute betrifft …« Sloan machte eine nachdenkliche Pause. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß sie wahrscheinlich hirngeschädigt sind.« Er stellte sich zum erstenmal die Zustände an Bord des Verkehrsflugzeugs vor. »Die Piloten können ebenfalls hirngeschädigt sein. Vielleicht haben sie deshalb den Kurs geändert.« Sloan sah Hennings in die Augen. »Sie können über bewohntem Gebiet abstürzen. Stellen Sie sich das vor!«

Aber Hennings hatte nicht mehr die Kraft, sich etwas vorzustellen und darüber zu diskutieren. Sein einziges Argument hatte auf seinem eigenen Verständnis der moralischen und ethischen Aspekte dieser Angelegenheit beruht. Gegen dieses dünne, offenbar bedeutungslose Argument hatte Sloan ein Dutzend wichtiger Gründe, die für die Vernichtung der Straton und der Menschen an Bord sprachen, ins Treffen geführt.

»Allmählich wird’s Zeit«, stellte Sloan so beiläufig fest, als seien sie zum Tennis im Offiziersklub verabredet. »Matos hat nicht mehr viel Treibstoff.«

Hennings trat einen Schritt näher an ihn heran. »Und wenn ich nein sage?«

Sloan zuckte mit den Schultern. »Dann gehe ich zu Diehl und schildere ihm die Situation aus meiner Sicht.«

»Sie bluffen nicht sonderlich gut.«

Der Commander grinste. »Na ja, Ihre Zustimmung ist ohnehin nicht weiter wichtig. Sie haben bereits ein halbes Dutzend strafbarer Handlungen verübt, für die Sie vors Kriegsgericht gehören. Halten Sie sich aus dieser Sache raus, dann gebe ich Matos den Befehl, die Straton abzuschießen. Von allein stürzt sie bestimmt nicht ab!« Sloan griff nach dem Mikrophon, ohne Hennings aus den Augen zu lassen. Er wollte auf den Sprechknopf drücken, zögerte dann aber doch. Letzten Endes war es viel besser, wenn der Vizeadmiral mitverantwortlich blieb. Während Sloan noch überlegte, klingelte eines der Telefone vor ihm. Er legte das Mikrophon weg und griff ungeduldig nach dem Hörer. »Commander Sloan«, knurrte er. »Ja? … Okay, wiederholen Sie die Meldung. Lesen Sie sie mir vor.«

»Wer ist das?« flüsterte Hennings besorgt.

Sloan ignorierte ihn. »Okay, ich verstehe. Es handelt sich also ausdrücklich um ein bestimmtes Suchgebiet innerhalb der von Ihnen genannten Grenzen?«

Hennings war davon überzeugt, daß es um die Straton ging, aber er konnte sich nicht vorstellen, was dieser Anruf bedeutete.

Sloan schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich bin noch beschäftigt – mit dieser Sondererprobung. Nein, der Versuch ist noch nicht abgeschlossen, aber das braucht Sie nicht zu kümmern. Lassen Sie Oberleutnant Rowles die Suchaktion organisieren. Mindestens acht Maschinen pro Schicht. Start in Einstundenabständen. Sie sollen das Suchgebiet von Norden nach Süden abkämmen.« Der Commander warf einen Blick auf die Uhr. »Rowles soll die erste Gruppe in 15 Minuten in die Luft bringen.« Er legte den Hörer auf und wandte sich an Hennings. »Eine Aufforderung aus San Francisco, eine Such- und Rettungsaktion einzuleiten.«

»Handelt es sich um die Straton?«

»Um den Trans-United-Flug 52. Eine Straton 797 auf dem Flug von San Francisco nach Tokio. Falls die Stratons der Trans-United nicht einen Unglückstag haben, muß das unsere Maschine sein.«

»Aber ich dachte, wir würden alles hören, was die Straton sendet?« wandte Hennings ein.

Der Commander zögerte. Er durfte Hennings nicht einfach alles erzählen. »Die Meldung ist über ein Data-Link-Gerät eingegangen – eine Art Fernschreiber. Die einzige Gegenstation steht im Dispatcherbüro der Trans-United Airlines. Der Pilot ist offenbar dem Tode nahe gewesen. Hirngeschädigt. Er ist umgekehrt und hat noch einen Kurswechsel vorgenommen, bevor die Verbindung abgerissen ist. San Francisco vermutet, daß er gestorben oder ohnmächtig geworden ist – und daß die Straton abgestürzt ist.«

»Das heißt also, daß sie nicht wissen, daß sie noch …«

»Richtig, das weiß niemand«, unterbrach Sloan ihn. »Erfreulich ist außerdem, daß in den Meldungen der Straton eine Bombe erwähnt worden ist. Nun glauben alle, an Bord sei eine Bombe versteckt gewesen. Können Sie sich das vorstellen, Admiral? Ein führerloses Flugzeug voll Toter und Sterbender, aber mit genug Treibstoff, um Kalifornien zu erreichen. Selbst wenn das nicht unsere Schuld wäre, hätten wir praktisch die Pflicht, es zum Absturz zu bringen.«

»Wie bald können Ihre Flugzeuge dort eintreffen?«

»Ziemlich bald.« Sloan war aufgefordert worden, ein Gebiet abzusuchen, das Hunderte von Kilometern von der tatsächlichen Position der Straton 797 entfernt war. Bis die Flugzeuge ihren Suchstreifen abgeflogen hatten, war die Verkehrsmaschine wieder Hunderte von Kilometern weiter. »Sogar sehr bald.« Der Commander starrte Hennings an. »Sie sind mitverantwortlich, wenn ich den Befehl gebe, die Straton abzuschießen. Schweigen bedeutet Zustimmung. Sie sind kein bißchen besser als ich. Aber wenn Sie lieber schweigen und die Schmutzarbeit mir überlassen wollen …«

Hennings begriff plötzlich, weshalb Sloan darauf bestand, seine Zustimmung zu einer Entscheidung zu erhalten, die er auch ohne ihn treffen konnte. Dem Commander ging es um einen persönlichen Triumph über Hennings und alles, was Hennings verkörperte. Alle altmodischen Wertvorstellungen von Ehre, Tapferkeit und Integrität. Sloan versprach sich irgend etwas davon, wenn er Hennings demütigen konnte.

Der Vizeadmiral sah sich im Raum E-334 um. Sterile graue Metallwände, ein Gewirr von Kabelsträngen, zahllose Meßinstrumente und Bildschirme, endlose Reihen von Schaltern, eine nahezu lautlos arbeitende Klimaanlage. Die Welt war jetzt voll von solchen Räumen – zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Kleine Elektronikräume mit einer geradezu unmenschlichen Atmosphäre. Eines Tages würde das Schicksal der Menschheit in einem dieser Räume entschieden werden. Hennings war froh, daß er das nicht mehr erleben würde. Er betrachtete Sloan. Ein Mann mit Zukunft, der in dieser Umgebung zu leben wußte. »Ja, natürlich. Geben Sie Matos den Befehl, die Straton abzuschießen.«

Sloan zögerte einen Augenblick. Dann griff er rasch nach seinem Mikrophon.

»Sorgen Sie dafür, daß er versteht, was er zu tun hat und warum er’s tun soll, Commander.«

Sloan sah zu Hennings hinüber. »Danke, ich weiß, was ich zu tun habe. Vorher haben wir ihn bereits soweit gehabt.« Aber er wußte, daß Matos sich ebensogut zu einer Befehlsverweigerung entschließen konnte. »Navy drei-vier-sieben, hier Homeplate, kommen.« Der Commander nickte Hennings zu. »Sie wollen, daß ich ihm reinen Wein einschenke, nicht wahr? Genau das tue ich jetzt!«

»Homeplate, hier Navy drei-vier-sieben, kommen«, antwortete Matos. Seine Stimme klang heiser, angestrengt und vielleicht sogar etwas ängstlich.

Sloan hörte, daß der junge Offizier nervös war. Das war ein guter Ausgangspunkt. »Peter, hier Commander Sloan. Ich habe Ihnen vor einiger Zeit die Frage gestellt, die ich jetzt beantwortet haben möchte. Weshalb habe ich Ihnen befohlen, außer Sichtweite des Cockpits der Straton zu bleiben?«

Matos antwortete nicht sofort. »Ich soll außer Sichtweite des Cockpits bleiben, weil dort ein Pilot sitzen könnte«, sagte er schließlich zögernd. »Wenn er mich sähe, würde er unter Umständen verstehen, wodurch sein Flugzeug beschädigt worden ist, und über Funk Meldung erstatten, falls eines seiner Funkgeräte noch intakt wäre. Oder er könnte seine Aussage nach der Landung machen.«

»Richtig. Und wir haben inzwischen neue Informationen von der Flugsicherung in San Francisco erhalten. Dort glaubt man, die Maschine habe eine Bombe an Bord gehabt. Bitte weiter, Peter.«

»Der Unfall ist unsere … meine Schuld gewesen. Ich habe eine Chance, ihn zu vertuschen, indem ich die Straton abschieße.«

»Zum Besten der Marine, zum Besten Amerikas und zu Ihrem eigenem Besten.«

»Ja.«

»Die Menschen an Bord sind tot oder hirngeschädigt. Sie haben Kurs auf Kalifornien – wie ein Marschflugkörper mit genug Zerstörungskraft, um zwanzig Wohnblocks auf einmal zu pulverisieren.«

»Ja, ich verstehe.«

»Alle Schiffe und Flugzeuge in Ihrer Nähe steuern jetzt die Straton an. Auch einige unserer Maschinen. Falls Sie gesichtet werden, sind wir alle erledigt. Deshalb müssen Sie innerhalb von zehn Minuten Ihre Phoenix-Rakete ins Cockpit der Straton schießen, wie wir es vorhin besprochen haben.«

»Verstanden.«

Der Leutnant machte eine Pause.

»Ich habe nicht mehr viel Treibstoff.«

»Um so rascher müssen Sie schießen! Danach fliegen Sie in Richtung Küste weiter, und ich schicke Ihnen ein Tankflugzeug entgegen. Haben Sie verstanden?«

»Verstanden«, bestätigte Matos.

»Ende.« Sloan stellte seine Countdown-Uhr auf zehn Minuten ein, drehte sich mit seinem Stuhl um und sah zu Hennings hinüber. Der Alte lehnte blaß und angegriffen an der Wand neben dem Bullauge. »Fühlen Sie sich nicht gut, Admiral?«

»Danke, es geht schon.«

Der Commander nickte. »Sie glauben doch hoffentlich nicht, daß mir das leichter fällt als Ihnen?«

Hennings wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er hielt den Kopf gesenkt. »Doch, das vermute ich sehr.«

Sloan starrte ihn an. Er befürchtete, der Alte könnte einen Herzanfall erleiden. Dann richtete Hennings sich auf. »Ich gehe an Deck«, sagte er heiser. »Ich brauche frische Luft.«

Sloan wollte nicht, daß Hennings diesen Raum verließ. In E334 stand er unter einem Bann, der durch Sonnenschein, andere Gesichter und andere Stimmen gebrochen werden konnte. »Ich möchte, daß Sie noch zehn Minuten bleiben, Admiral.«

Hennings nickte. »Ja, natürlich. Ich bleibe bis zum bitteren Ende.« Er zog den Tarnvorhang auf, öffnete das Bullauge und holte tief Luft. Dann wurde er zum erstenmal seit über 40 Jahren seekrank und mußte sich übergeben.

Sloan beobachtete ihn aus den Augenwinkeln heraus. Hennings war ein sehr schwaches Glied in einer dreigliedrigen Kette. Matos war stärker, aber auch er konnte zerbrechen. Da das Problem mit der Straton jetzt so gut wie gelöst war, dachte Sloan mehr über Matos und Hennings nach. Was er mit Leutnant Peter Matos vorhatte, stand schon so gut wie fest.

Der Commander trat ans Ende des Schaltpultes, wo ein halbes Dutzend farbig gekennzeichneter Bordtelefone nebeneinander installiert waren. Er nahm den grünen Hörer ab, streckte die Hand aus und schaltete es aus, bevor sich jemand meldete. »Operations? Hier ist Commander Sloan. Navy drei-viersieben – eine F-18 mit Leutnant Matos – hat Schwierigkeiten mit dem Treibstoff. Ich möchte, daß ein Tanker ihm vom nächsten Landstützpunkt aus entgegenfliegt.« Sloan diktierte Matos’ gegenwärtige Position in den ausgeschalteten Apparat. »Danke.« Er legte auf, griff nach dem blauen Hörer und schaltete auch dieses Telefon aus. »Rowles? Sloan. Bereiten Sie die Piloten der Suchmaschinen darauf vor, daß sie unter Umständen auch nach Drei-vier-sieben suchen müssen … Ja, sein Treibstoff wird knapp, aber ich schicke ihm einen Tanker entgegen, der ihn erreichen müßte, bevor die Lage kritisch wird. Ich wollte Sie nur rechtzeitig informieren … Okay, wird gemacht.« Er legte auf und schob ein Schreibbrett über die Ein/Aus-Schalter, bevor er sich nach Hennings umdrehte.

Randolf Hennings stellte ein schwierigeres Problem dar. Solange der Alte mit seinen aufgestauten Schuldgefühlen lebte und atmete und sprach, würde James Sloan nie mehr ruhig schlafen können und nie mehr wissen, ob die Aufforderung, zu Kapitän z. S. Diehl zu kommen, seine Verhaftung ankündigte. Das durfte James Sloan nicht zulassen. Um keinen Preis.

Die Aussicht aus dem Cockpit der Straton 797 war spektakulär. Berry starrte die schwarze, brodelnde Wolkenwand in der Ferne wie hypnotisiert an. Sie hatte sich zuerst als vager Dunst am Horizont bemerkbar gemacht. Je näher sie der Wand kamen, desto gefährlicher und drohender wirkte sie. Berry hatte ein flaues Gefühl im Magen.

Er beugte sich nach vorn und suchte den Horizont ab. Die Gewitterfront erstreckte sich rechts und links so weit das Auge reichte wie eine massive Wand zwischen Himmel und Meer. Sie verdeckte den Horizont vor ihnen und ragte so hoch auf, daß Berry wußte, daß die Straton sie nicht überfliegen konnte.

Sharon berührte seinen Arm. »Eine so schlimme Front habe ich schon lange nicht mehr gesehen«, flüsterte sie besorgt.

Berry hatte noch nie eine so schlimme Gewitterfront erlebt. Die einzigen Vorteile auf ihrer Seite waren das gute Flugwetter und das Tageslicht gewesen, auf die er sich bisher verlassen hatte. »Bist du schon mal durch eine Gewitterfront geflogen?«

»Ein paarmal. Und du?«

»Noch nie. Nicht mit einem Verkehrsflugzeug.«

»Mit deiner Skymaster?«

»Nein.« Mit der Skymaster wäre er einfach umgekehrt und hätte einen Ausweichflugplatz angeflogen. Aber hier draußen gab es keine Ausweichplätze.

Crandall warf einen Blick auf den Wetterradarschirm in der Mitte des Instrumentenbrettes. »Siehst du eine Lücke zwischen den Wolken?«

Berry starrte den Radarschirm an. Ein dünner grauer Strich bewegte sich wie ein Zeiger einmal in der Minute über den Schirm und ließ ein Muster aus Farbflecken zurück. »Tut mir leid, ich weiß nicht, wie man das Ding bedient und das Bild deutet.« Er warf einen Blick auf die Gewitterfront und sah dann wieder auf den Radarschirm. Die bunten Flecken sollten das darstellen, was er durch die Windschutzscheibe sah, aber Berry war außerstande, das Radarbild zu deuten. »Ich habe Artikel über Wetterradar gelesen, aber ich weiß nicht, wie man das Gerät bedient.«

Crandall hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich danach um. Linda hockte ans Schaltpult des Flugingenieurs gelehnt auf dem Boden, hatte ihren Kopf auf die hochgezogenen Knie gelegt und schien zu schlafen. Sharon starrte die Tür an. Ein ganzer Arm hatte sich bis zur Schulter durch den Türspalt gezwängt, und die Hand tastete die Cockpittür auf der Innenseite ab. Die Hand berührte die Nylonstrumpfhose und zog daran, so daß die Tür sich etwas weiter öffnen ließ. Nun zwängte sich die ganze Schulter durch den Spalt. Crandall sah die blauen Schulterstücke des Kopiloten, dessen Gesicht jetzt hinter dem Türspalt zu erkennen war. »John.«

Berry drehte sich um. »Um Himmels willen!« Er stand zögernd auf, trat an die Tür und überzeugte sich davon, daß der Knoten hielt. Dann packte er den Arm und versuchte, ihn durch den Türspalt zurückzuschieben, aber die Hand griff nach seinem Hemd. Berry wich zurück. Dieser nach ihm greifende Arm hatte etwas Groteskes an sich. Er sah sich um und entdeckte ein Zündholzbriefchen auf dem Arbeitsplatz des Flugingenieurs. Berry riß ein Streichholz an, zögerte und berührte dann damit McVarys Hand. Der Kopilot stieß einen lauten Schrei aus und riß den Arm zurück. Berry begegnete Sharons Blick, aus dem jedoch kein Tadel, sondern nur Verständnis sprach.

Er kniete neben Linda nieder, die aufgeschreckt war. »Am besten versuchst du, weiterzuschlafen.«

Sie schloß die Augen. »Ich bin so durstig …«

Berry tätschelte ihre Wange. »Bald. Denk einfach nicht daran.« Er stand auf und ging an seinen Platz zurück.

Sharon zeigte auf das Radargerät. »Gehören alle diese Knöpfe dazu?«

Berry warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sie hatten sich im Cockpit stillschweigend darauf geeinigt, nicht über die anderen zu reden. Er nickte. »Ja – Antennenneigung, Reichweite, Helligkeit, Modus … Und hier steht sogar ›Löschgeschwindigkeit‹. Davon hab’ ich noch nie gehört!«

Crandall sah nach vorn, wo die dunkle Wetterwand vor ihnen aufragte. Sie war näher herangerückt, so daß die dunkelgrauen, fast schwarzen Wolkenformationen, die starke Turbulenzen ankündigten, deutlicher zu erkennen waren. »Können wir ohne Radar um die Front herumfliegen?«

Er schüttelte den Kopf. »Solche Gewitterfronten können Hunderte von Kilometern lang sein. Ich bezweifle, daß wir genug Treibstoff für einen Umweg haben.«

»Hawaii?« Sie wollte nicht wieder davon anfangen, aber es erschien ihr zu wichtig, um ungesagt zu bleiben.

»Nein. Hawaii kommt aus den bekannten Gründen nicht in Frage – und außerdem reicht unser Treibstoff nicht mehr bis dorthin. Wir können nur geradeaus nach Kalifornien weiterfliegen.«

Sharon warf einen Blick auf die Treibstoffanzeige. Danach waren die Tanks zu weniger als einem Drittel voll.

Berry drehte an den Knöpfen des Wetterradars herum. Hätte er das Radarbild deuten können, wäre vielleicht eine schwache Stelle in dem Wolkenwall vor ihnen zu finden gewesen.

Crandall dachte an andere Gewitter, die sie mit anderen Maschinen durchflogen hatte. Die Straton 797 flog normalerweise über dem Wetter – das war einer der Vorteile ihrer Flughöhe. »Können wir nicht drüberfliegen?«

Er starrte die gewaltige Wolkenwand an. »Nicht mit dieser Maschine. Nicht mit zwei großen Löchern in der Druckkabine.« Berry warf einen nachdenklichen Blick auf die neben seinem Sitz hängende Sauerstoffmaske. Sie würde genügen, falls sie nicht wesentlich höher als 30 000 Fuß stiegen. War das hoch genug, um diese Gewitterfront zu überfliegen? Schwer zu sagen, aber er bezweifelte es. Außerdem waren die Sauerstofftanks vermutlich leer, und er wußte nicht, ob es an Bord einen Reservetank gab.

Sharon erriet, was er dachte. »Vielleicht gibt’s einen unbenutzten Tank, auf den wir umschalten könnten.«

»Möglich«, bestätigte Berry. »Aber hältst du’s für richtig, den Leuten hinter uns eine zweite sauerstoffarme Periode zuzumuten? Müssen wir nicht irgendwo eine Grenze ziehen?«

»Nein, wenn wir dadurch unser Leben retten können.«

»Die anderen sind nicht tot, aber wir wissen, daß sie sich nie mehr erholen werden, aber selbst unter diesen Umständen … Außerdem müßte ich kreisen, um genügend Höhe zu gewinnen und diese Front zu übersteigen. Ich habe nicht viel Lust, meine fliegerischen Fähigkeiten auf diese Weise unter Beweis zu stellen. Außerdem würden wir dabei Unmengen Treibstoff verbrauchen.«

»Das heißt also praktisch, daß uns nichts anderes übrigbleibt, als die Front zu durchfliegen?«

»Nicht unbedingt«, widersprach er. »Es gibt andere Möglichkeiten, die auf den ersten Blick attraktiver sind, aber ich denke an die kalifornische Küste.«

»Ich auch!« Crandall zögerte, bevor sie fragte: »Können die Löcher im Rumpf … kann die Maschine …?«

»Ich glaube nicht, daß sie in der Luft zerbricht.« Aber er wußte nicht, wie sehr der Rumpf geschwächt war. Es gab genügend Fälle, in denen lufttüchtige Flugzeuge in starken Turbulenzen zerbrochen waren.

»Die Tragflächen müssen die größte Belastung aushalten. Sie scheinen zum Glück unbeschädigt zu sein.«

Crandall nickte. Sie fand John Berrys Stimme und seine ganze Art beruhigend. Er gehörte nicht zu den vielen Piloten, bei denen selbst schlechte Nachrichten lediglich wie eine Routinemeldung klangen. Aber sie spürte, daß ihn irgend etwas anderes bedrückte. »Was die Straton aushält, halte ich auch aus«, versicherte sie ihm.

Berry beschloß, ihr reinen Wein einzuschenken. Schließlich ging es auch um ihr Leben, und sie hatte ein Recht darauf, im voraus zu erfahren, was passieren würde. »Hör zu, Sharon, hier geht’s nicht in erster Linie um das Flugzeug. Falls die Turbulenz zu stark wird, was angesichts der Gewitterfront fast zu erwarten ist, kann der Autopilot sich ausschalten. Dann müßte ich diese Maschine mit Handsteuerung fliegen. Großer Gott, unter solchen Umständen hätte eine erfahrene Cockpitbesatzung in einem unbeschädigten Flugzeug alle Hände voll zu tun! Ich müßte tausend Dinge gleichzeitig tun … und dabei habe ich diese Maschine noch nicht mal bei gutem Wetter geflogen. Ich könnte die Kontrolle verlieren … die Straton könnte ins Trudeln kommen …« Berry hätte am liebsten die Flucht ergriffen; er wollte um jeden Preis von der schwarzen Wand fort, die bedrohlich näher rückte – selbst wenn das eine Notwasserung mit der Straton bedeutete. Er wandte sich an Sharon. »Willst du lieber abdrehen? Das bedeutet allerdings, daß wir aufs Meer niedergehen müßten.«

Sie wog die Alternativen gegeneinander ab. Vor der Front abdrehen und genau wissen, daß sie sich mit jeder Minute Flugzeit weiter von der kalifornischen Küste entfernten. Dann eine Notwasserung im Pazifik. Und falls sie die überlebten, würden sie im Meer treiben – vielleicht von Dutzenden von Passagieren umgeben … Crandall starrte auf die Gewitterfront. Irgendwo hinter dieser schwarzen Wand schien die Sonne, lag die Küste Amerikas. Dorthin wollten sie; dorthin würden sie fliegen! Die Gewißheit, daß dieser Flug auf die eine oder andere Weise bald zu Ende sein würde, war eigenartig beruhigend. »Ich bin dafür, daß wir unseren jetzigen Kurs beibehalten.«

John Berry nickte. Auch er hatte das Bedürfnis, die Front zu durchfliegen. Er dachte zum erstenmal seit über einer Stunde wieder an seine Frau und seine Kinder. Dann dachte er an seinen Chef und seine Arbeit. Dabei wurde ihm klar, daß ihm nichts Schlimmeres zustoßen konnte, als hier zu überleben und dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Aber er hoffte zuversichtlich, daß die Bewährungsprobe, die ihm bevorstand, reinigend und stärkend wirken würde.

»Ich schlage vor, daß wir San Francisco verständigen«, fuhr Crandall fort. »Vielleicht bekommen wir von dort brauchbare Ratschläge.«

»Gut, meinetwegen.« Berry erkannte, daß er das Data-Link in letzter Zeit unbewußt gemieden hatte. Anstatt eine lebenswichtige Verbindung zur Außenwelt zu sein, war das Gerät zu einem störenden Faktor in seinem Mikrokosmos geworden. Er beugte sich nach vorn und schrieb eine Anfrage.

VON FLUG 52: WIR FLIEGEN AUF EINE GEWITTERFRONT ZU. KANN WETTERRADAR NICHT BEDIENEN ODER DEUTEN. SIND DER MEINUNG, DASS WIR UNSEREN GEGENWÄRTIGEN KURS BEIBEHALTEN SOLLTEN. KÖNNEN WIR IRGENDWELCHE VORBEREITUNGEN TREFFEN?

Er wollte auf den Sendeknopf drücken, ergänzte den Text jedoch um drei weitere Zeilen.

LÄSST SICH VON IHNEN AUS BEURTEILEN, DASS WIR DIESE

FRONT UMFLIEGEN KÖNNEN, OHNE ZUVIEL TREIBSTOFF ZU

VERBRAUCHEN?

BERRY

Nachdem er auf den Sendeknopf gedrückt hatte, sah er wieder nach vorn. Dünne graue Wolkenschleier zogen an der Straton 797 vorbei; im Cockpit war es etwas dunkler geworden. »Noch schätzungsweise sechzig bis achtzig Kilometer bis zur eigentlichen Front«, stellte Berry fest. »Das sind sechs bis acht Minuten Flugzeit.«

Crandall spürte, daß ihre bisherige Gelassenheit sich in Nervosität verwandelte. Sie wandte sich an Berry. »Fällt dir noch irgendwas ein, das du in dieser Situation mit der Skymaster tun würdest?«

»Ja.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Umkehren und so schnell wie möglich abhauen.« Das Flugzeug bockte leicht. Berry sah sich nach Linda um. Sie war wach und hockte neben dem Platz des Flugingenieurs auf dem Boden. Er nickte Sharon zu. »Am besten setzt du sie auf den Beobachterplatz und schnallst sie dort an.«

Sharon nickte. Sie stand auf und ging nach hinten. »Komm, Linda, auf dem Sitz hast du’s bequemer.« Sie zog die Kleine hoch, führte sie zu dem Platz hinter Berry und legte ihr den Gurt an. »So, jetzt kann dir nichts mehr passieren …«

»Danke. Fliegen wir durch schlechtes Wetter?«

»Ja, aber das dauert nicht lange. Du brauchst keine Angst zu haben, wenn’s dunkel wird und wenn der Regen gegen die Windschutzscheibe trommelt. Und die Maschine bockt wahrscheinlich sehr. Aber Mr. Berry … John steuert uns sicher durch. Du fürchtest dich doch nicht vor Blitzen?«

»Nein, jetzt nicht mehr. Früher hab’ ich Angst vor ihnen gehabt.«

»Vor Blitzen braucht man sich nicht zu fürchten.« Sharon nickte der Kleinen zu, ging wieder nach vorn und schnallte sich ebenfalls an.

Sie saßen zu dritt schweigend im Cockpit, während die Straton auf die vor der eigentlichen Gewitterfront nach ihr greifenden grauen Wolkenstreifen zuflog. Ein plötzlicher Stoß erschütterte das Flugzeug, und Berry hörte einen langgezogenen Aufschrei aus dem Salon hinter sich. Die armen Teufel! Viele von ihnen würden verletzt werden, falls es sehr schlimm wurde. Aber er konnte nichts für sie tun. Das Klingelzeichen ertönte.

AN FLUG 52: ANGESICHTS IHRER TREIBSTOFFRESERVE UND DES AUSFALLS DER DRUCKBELÜFTUNG SCHEINT DER FRONTDURCHFLUG UNVERMEIDBAR. BEHALTEN SIE BISHERIGEN KURS BEI. WICHTIG BEI TURBULENZ IST SCHWERPUNKTVERLAGERUNG DURCH UMPUMPEN VON TREIBSTOFF ZWISCHEN TANKS. ERWARTEN SIE WEITERE ANWEISUNGEN. MELDEN SIE BEREITSCHAFT.

SAN FRANCISCO

Berry schrieb wieder.

TURBULENZ SETZT EIN. SOLL ICH KREISEN, UM TURBULENZ ZU VERMEIDEN, BIS UMPUMPEN BEENDET?

Die Antwort kam rasch.

NEGATIV. BEHALTEN SIE BISHERIGEN KURS BEI. UMPUMPEN DAUERT NUR ZWEI BIS DREI MINUTEN. ALLE SCHALTER AM PLATZ DES FLUGINGENIEURS.

»Verdammter Mist!« Berry schnallte sich los und stand auf. »Sharon, liest du mir die Anweisungen vor, wie sie reinkommen?« Er setzte sich auf Carl Fesslers Platz und schnallte sich wieder an.

»Es geht los, John. Fertig?« »Fertig!« »›In der Mitte … des Schaltpults des Flugingenieurs … fin

den Sie vier Schalter … mit der Aufschrift … Niederdruck-

Treibstoffventileinstellung. Bestätigen Sie.‹« »Ja, ich hab’ sie gefunden.« Crandall tippte rasch eine Bestätigung. »Okay, es geht weiter!

›Stellen Sie die Schalter auf … aus.‹« Berry sah zu ihr hinüber. »Alle vier?« »So steht’s hier.« Berry starrte die Schalter an. Irgend etwas war hier nicht in

Ordnung. Sein Instinkt warnte ihn davor, diese Anweisung überstürzt auszuführen. Er erinnerte sich an eine Mahnung aus einem Fliegermagazin: Wichtige Schalter einzeln betätigen! Er streckte zögernd die rechte Hand nach dem ersten Schalter aus, brachte ihn in Mittelstellung und drückte ihn dann nach unten. Er wartete einige Sekunden lang.

»Fertig?«

Berry sah sich im Cockpit um und suchte das Schaltpult des Flugingenieurs ab. Anscheinend passierte nichts Außergewöhnliches.

»Fertig?« wiederholte Sharon.

»Augenblick! Das ist nur der erste gewesen.«

Crandall drehte sich nach ihm um. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

»Nein, ich bin nur vorsichtig.«

Sie zeigte auf den Bildschirm. »San Francisco verlangt eine Bestätigung.«

»Sie sollen gefälligst warten, bis ich fertig bin!« Berry betätigte nacheinander die Schalter zwei, drei und vier. Obwohl er ganz still auf seinem Platz saß, spürte er nichts, was auf eine Schwerpunktverlagerung durch Umpumpen des Treibstoffs hingewiesen hätte. »Fertig. Noch was?«

Sharon tippte eine Bestätigung und las die nächsten Anweisungen vor, wie sie hereinkamen. »›Letzter Schritt … ein abgedeckter Schalter … mit der Aufschrift … Notstrom für Treibstoffpumpen … Schalter umlegen … dann wird der Treibstoff … automatisch umgepumpt … Das dauert noch … zwei bis drei Minuten.‹«

Berry fand den Schalter. Er war nicht nur mit einer Schutzhaube abgedeckt, sondern diese Haube war zusätzlich durch einen dünnen Draht mit Plombe gesichert. Der Schalter wurde offenbar nicht oft benützt. »Stimmt das wirklich?«

»Ich wiederhole: ›Ein abgedeckter Schalter mit der Aufschrift Notstrom für Treibstoffpumpen. Schalter umlegen.‹« Sie machte eine Pause. »John, beeil dich bitte! Die Front ist gleich da!«

In Berrys Unterbewußtsein blitzte eine Tausendstelsekunde lang eine Warnung wie eine unterschwellige Werbebotschaft auf einem Fernsehschirm auf. Er sah sie nicht wirklich, obwohl er ihren Inhalt erfaßte, und glaubte nicht, was sie zu besagen schien. Hätte er diese Warnung geglaubt, hätte er sich damit eingestanden, daß er es hier mit einem Problem zu tun hatte, das er unmöglich bewältigen konnte. John Berry riß mit einem Ruck den Sicherungshebel ab und klappte die Schutzhaube hoch.

Er betätigte den Notstromschalter.

Innerhalb einer Mikrosekunde erreichte das elektrische Signal die Treibstoffpumpen der vier Düsentriebwerke der Straton

797. Noch bevor Berry die Hand von dem Schalter genommen hatte, begannen die Pumpen bereits, die Treibstoffzufuhr zu verringern.