18

 

»Dreiundzwanzig Seemeilen«, las Sharon Crandall von der Entfernungsanzeige ab.

Berry hielt das Steuerhorn mit beiden Händen umklammert. Er starrte die Treibstoffanzeigen an. Sie waren nur mehr nadelbreit von ihrer Nullstellung entfernt. Zwei gelbrote Warnleuchten signalisierten, daß die Tanks nur noch sehr wenig Treibstoff enthielten – vermutlich zum erstenmal seit der Zulassung dieser Maschine.

»John, haben wir genug Treibstoff, um den Flughafen zu erreichen?«

Beschwichtigungsversuche waren jetzt nicht mehr angebracht. Die Triebwerke konnten ausfallen, bevor er den nächsten Atemzug getan hatte. »Schwer zu sagen«, antwortete Berry wahrheitsgemäß. »Bei so wenig Treibstoff sind die Anzeigen nicht mehr genau genug.« Er sah die Nadeln fast den Nullstrich berühren. Theoretisch waren die Tanks also leer, aber praktisch konnten die Triebwerke noch bis zu zehn Minuten lang arbeiten. Der Brennschluß ließ sich nicht vorhersagen, bis der nachlassende Schub sich so erschreckend wie über dem Pazifik bemerkbar machte, als er sich an die über Data-Link eingegangenen Anweisungen gehalten und die Straton beinahe ins Wasser gesetzt hätte. Er spürte, daß seine Magennerven und Gesäßmuskeln sich verkrampften.

»22 Seemeilen. Weiter auf Kurs.« Crandall machte eine Pause. »Wir schaffen’s, John!«

Berry erwiderte ihr Lächeln. »Wie spät ist es jetzt?«

»18.21 Uhr.«

Er starrte auf die geschlossene, tiefliegende Nebeldecke hinab, die sich nach allen Richtungen erstreckte. Vereinzelte Nebelfetzen stiegen auf und nahmen ihm sekundenlang die Sicht. »Verdammt noch mal, wenn wir 22 Meilen vom Flughafen entfernt sind, können wir nicht weiter als zehn Meilen bis zur Golden Gate-Brücke haben. Wenn dieser Nebel nicht wäre, müßten wir jetzt die Brücke oder San Francisco sehen können.«

»Wir sehen sie bestimmt bald.«

»Hoffentlich sehen wir bald was! Wir sind in knapp fünf Minuten am Flughafen und queren wahrscheinlich die An- oder Abflugsektoren. Linda, du paßt auf, ob du ein anderes Flugzeug siehst, verstanden?«

»Okay.«

Berry wandte sich an Sharon. »Wir können nur hoffen, daß sie uns auf dem Radarschirm haben und alle anderen Maschinen umdirigieren.«

»Das tun sie bestimmt.« Sie war eigenartig ruhig und gelassen, was zum Teil auf ihre Müdigkeit und zum Teil auf das Bewußtsein zurückzuführen war, daß in fünf Minuten alles – so oder so – zu Ende sein würde.

»He, was ist das?« rief Linda Farley.

Crandall und Berry drehten sich nach ihr um und blickten dann in die Richtung, in die sie zeigte.

Berry starrte aus dem linken Seitenfenster. Hinter dem Tragflächenende ragte eine geisterhafte graue Masse aus den Nebelschwaden. Ein Berg, dessen Gipfel mindestens 500 Meter über ihrer augenblicklichen Flughöhe lag! »Sharon, siehst du den?«

»Ja, ich sehe ihn.«

»Erkennst du ihn auch?«

»Ich weiß nicht recht. Augenblick … vielleicht komme ich darauf.« Sie beugte sich weiter nach links. »Ja, das ist der Mount Tamalpais!«

»Okay, zeig mir die Karte.« Berry studierte die Flugsicherungskarte. »Der Berg liegt nördlich der Golden Gate-Brücke?«

»Ja. Die Brücke muß vor uns liegen. Links voraus.«

»Okay.« Er rang sich ein Lächeln ab, als er sich nach Linda umdrehte. »Du bekommst den Champagner … den Preis. Wir

kaufen dir etwas Hübsches, wenn wir gelandet sind.«

Sie nickte ernst.

Er sah wieder nach vorn und flog eine flache, weite Linkskurve. »Ich möchte ziemlich genau über die Brücke hinweg anfliegen. Wir müssen über der Bucht bleiben.« Er war sich darüber im klaren, daß sie in dieser Höhe weder San Francisco noch das bergige Marin County überqueren konnten. In 900 Fuß Flughöhe befand er sich unterhalb der Gipfel des Küstengebirges – und unterhalb der höchsten Stockwerke der neuesten Wolkenkratzer von San Francisco. Deshalb mußte er dem Verlauf der Bucht folgen, als fahre er auf einem Schiff in den Hafen ein. »Sharon und Linda, achtet auf die Brücke! Vielleicht sehen wir die Brückentürme.«

»Ich passe auf«, versicherte Crandall ihm.

Berry holte weiter nach links, nach Osten aus, suchte die Bucht, der sie folgen mußten, und bemühte sich, den Nebel unter ihnen mit den Augen zu durchdringen. Dabei fiel ihm ein, daß die Gegner einer Rückkehr der beschädigten Straton 797 bestimmt damit argumentiert hatten, er werde die Stadt gefährden. Aber gerade das wollte er um jeden Preis vermeiden. Er würde ohne Rücksicht auf sich oder andere bis zuletzt über Wasser bleiben. »Sharon, wenn wir nicht bald die Bucht sehen, gehe ich aufs Wasser nieder. Wir dürfen nicht riskieren, gegen einen Hügel oder ein Gebäude zu prallen.«

»Kannst du nicht etwas steigen?«

»Das kostet zuviel Treibstoff und etliche Meilen Flugstrecke. Beides können wir uns nicht leisten.« Berry starrte nach vorn in den Nebel. Die bisher geschlossene Nebeldecke war jetzt an einigen Stellen aufgerissen und gab den Blick aufs Meer frei. Er sah, daß der Nebel auf dem Wasser auflag. Eine Notwasserung im Blindflug bedeutete eine sichere Katastrophe. Er bildete sich ein, die Maschine sacke plötzlich ein Stück weit durch. »Hast du das gespürt?«

»Was denn?«

Berry blieb sekundenlang bewegungslos sitzen. »Nichts.« Da, schon wieder! Oder bildete er sich das nur ein? Aus dieser Höhe segelte die Straton mit stehenden Triebwerken bestenfalls 30 Sekunden lang – und diesmal konnte er sie nicht wieder anlassen. Ein so kurzer Gleitflug konnte bedeuten, daß sie gegen die Golden Gate-Brücke knallten oder in die Stadt stürzten, aber die Bucht jenseits der Stadt war damit nicht zu erreichen. »Wir müssen ins Wasser runter. So können wir nicht weiterfliegen.«

»Noch nicht, John. Bitte!«

»Verdammt noch mal, Sharon, vielleicht fliege ich geradewegs in einen Berg oder gegen einen Wolkenkratzer. Wir haben kein Recht, über die Stadt zu fliegen. Ich will notwassern, solange ich noch weiß, daß wir das Meer unter uns haben. Der Flughafen muß uns auf dem Radarschirm haben. Dann wissen sie, wo sie uns suchen müssen.«

Crandall erwiderte seinen Blick. »Nein, flieg weiter«, forderte sie ihn mit fester Stimme auf. »Ich weiß, daß die Bucht genau vor uns liegt.«

Berry starrte sie verwundert an. Ihr Tonfall und ihre Haltung ließen ihn vermuten, sie habe diese Information aus einer ihm nicht zugänglichen Quelle bezogen. »Sharon …« Er stellte sich vor, wie die Straton im Nebel abstürzte, wie der Nebel sich teilte und wie die Straßen von San Francisco sichtbar wurden, auf die das riesige Verkehrsflugzeit unaufhaltsam zustürzte. Berry schüttelte den Kopf, um diese Vorstellung zu verdrängen. »Ich muß jetzt runtergehen«, sagte er eindringlich.

»Nein!« Sharon wandte sich ab und starrte nach vorn, als sei die Diskussion damit beendet.

Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln heraus. Obwohl er sie erst seit sieben Stunden kannte, hatte er das Gefühl, sie mindestens so gut wie Jennifer zu kennen. Sharon Crandall hatte ihm ihr rückhaltloses Vertrauen geschenkt, aber jetzt entzog sie es ihm, weil sie ihrem Instinkt mehr traute, und er merkte, daß es ihr damit ernst war. Nun war er an der Reihe: Nun mußte er ihr das gleiche Vertrauen schenken, obwohl er als Techniker nichts von Instinkten hielt, sondern sich eher auf Wahrscheinlichkeiten und Meßwerte verließ. »Okay, noch ein bißchen länger«, stimmte er zu.

Die Straton flog weiter. Das blendendweiße Nebelmeer unter ihnen verlieh der ganzen Szene etwas Irreales. Für Berry hatte Flug 52 längst aufgehört, ein wirklicher Flug zu sein, und der Nebel schien diese Illusion nur vollkommen zu machen.

Crandall sah gelassen nach vorn, wo die Nebelschwaden heller zu werden schienen. Auf ihrem Gesicht stand ein seltsames Lächeln, als sie die rechte Hand hob und in Flugrichtung deutete.

Berry kniff die Augen zusammen. Er setzte sich auf, als er einen roten Schimmer wahrnahm. Das Rot verschwand für kurze Zeit, um sofort wieder sichtbar zu werden. Genau vor ihm – aber in über zehn Kilometer Entfernung – ragten die Doppel-türme der Golden Gate-Brücke majestätisch aus der weißen Nebeldecke.

Sharon drehte sich mit Tränen in den Augen nach Berry und dem Mädchen um. »Willkommen daheim«, sagte sie, wie sie es sonst immer tat, wenn sie auf dem Rückflug aus dem Ausland die Landung in San Francisco ankündigte.

Berry nickte heftig. Er mußte einmal schlucken, bevor er sprechen konnte. »Ja, willkommen daheim.« Er beobachtete, wie die Brückentürme rasch größer wurden, als die Straton 797 mit zehn Kilometern in der Minute auf sie zuflog.

»Sieh dir das an!« rief Sharon aus. »Hinter der Brücke hört der Nebel auf!«

Er sah, daß sie recht hatte. Die Nebeldecke endete wie abgeschnitten am Golden Gate, als sei die Brücke ein unübersteigbarer Wall. Die ganze Bucht lag bis nach Berkeley und Oakland auf dem anderen Ufer nebelfrei vor ihnen.

»Ich hab’ dir doch gesagt, daß wir dem Nebel zuvorkommen würden, John!« rief Sharon lachend aus. »Sieh mal nach rechts.«

Berry warf einen Blick aus dem rechten Seitenfenster. Aus dem Nebel ragten schemenhaft die Wolkenkratzertürme von San Francisco auf. Die Abendsonne vergoldete das obere Drittel des Gebäudes der Bank of America und die Transamerica-Pyramide. Berry fühlte sich an El Dorado erinnert, aber dies war keine imaginäre Stadt, und er merkte, daß sein Wirklichkeitssinn allmählich wieder zurückkehrte. Die Gebäude wurden rasch größer, weil die Straton mit 340 Knoten auf sie zuflog. Berry steuerte nach links und achtete darauf, daß der Bug genau zwischen den beiden Brückenpfeilern blieb – wie ein Rudergänger, der ein Schiff in die Bucht steuerte.

Das Verkehrsflugzeug überflog die mächtigen Doppeltürme der Golden Gate-Brücke in kaum 50 Meter Höhe. Berry erkannte die Insel Alcatraz unter ihnen. Er legte die Straton 797 in eine leichte Rechtskurve und folgte der Bucht nach Süden in Richtung Flughafen, den sie in weniger als drei Minuten erreichen mußten. Selbst wenn die Triebwerke jetzt ausfielen, würde er noch weniger bebautes Gelände erreichen können. »Okay«, sagte er nüchtern, »wir sind im Landeanflug, Sharon, weißt du noch, was du zu tun hast?«

»Ich bin bereit, John.«

Berry spürte zwischen ihnen die enge Bindung, wie sie zwischen Pilot und Kopilot, Steuermann und Rudergänger, Beobachter und Kanonier existieren muß, wenn sie überleben wollen.

Der Himmel war klar, und aus dem rechten Seitenfenster war ganz San Francisco auf den Hügeln der Halbinsel zu überblikken.

Flug 52 wirkte im abendlichen Stoßverkehr als unerwarteter Eindringling. Am Fisherman’s Wharf kam der Verkehr zum Stehen, und Fußgänger machten sich gegenseitig auf das riesige Flugzeug in so geringer Höhe über der Bucht aufmerksam. Auf Nob Hill und Telegraph Hill sahen Verkehrsteilnehmer die Maschine in Augenhöhe vorbeiziehen. Viele der Augenzeugen entdeckten das von der tiefstehenden Sonne beleuchtete Loch im Rumpf der Straton. Aber auch die anderen, die davon nichts gesehen hatten, ahnten instinktiv, daß die Trans-United-Maschine sich in einer Notlage befand.

Berry erkannte die silbrige Brücke zwischen San Francisco und Oakland Bay quer zu ihrer Flugrichtung. Er wußte, daß diese Brücke das letzte Hindernis vor einer erfolgreichen Notwasserung in der Bucht war. Er hielt den Atem an, bis er sicher wußte, daß die Straton selbst bei einem plötzlichen Triebwerksausfall im Gleitflug über die Brücke hinwegkommen würde.

Als sie die Brücke überflogen, gestattete er sich einen kurzen Blick auf den San Francisco International Airport, der reichlich 20 Kilometer vor ihnen auf einer sandigen Landzunge in die Bucht hinausragte. »Dort vorn ist er!« Berry wußte, daß es allmählich Zeit wurde, die Landeklappen auszufahren, wenn er auf dem Flughafen landen wollte. Aber die Klappen erhöhten den Luftwiderstand und damit den Treibstoffverbrauch. Er wollte so nahe wie möglich an den Flughafen herankommen, bevor er sich für eine Notwasserung oder eine Notlandung entschied – oder bevor ihm diese Entscheidung durch den Triebwerksausfall abgenommen wurde. Deshalb ließ er die Straton mit 340 Knoten weiterfliegen.

Crandall starrte den rasch näher kommenden Flughafen besorgt an. Sie wußte instinktiv, daß sie zu schnell waren. »Das ist zu schnell, John. Viel zu schnell!«

Er bemühte sich, Ruhe zu bewahren. Es gab soviel zu tun – und die Maschine würde bestenfalls noch einige Minuten in der Luft bleiben. Von jetzt an würde jedes Manöver ein Kompromiß zwischen dem Richtigen und dem Notwendigen sein, wobei es galt, das ganz Falsche zu vermeiden. »Nein, nein, das ist schon richtig. Ich will erst Strecke machen. Bremsen können wir später.« Er warf einen Blick auf die Treibstoffanzeigen. Ihre Nadeln standen ganz links.

John Berry erinnerte sich an seinen ersten Alleinflug mit einer Cessna 140, mit der er nicht sonderlich gut zurechtgekommen war. Nachdem sein Fluglehrer ausgestiegen war, hatte Berry unter verschiedenen Vorwänden Landeanflüge geübt, bis er aus Treibstoffmangel landen mußte, wenn er nicht abstürzen wollte. Diesmal gibt’s keine Ausreden. Diesmal muß die erste Landung klappen. Berry spürte, daß ihm der Schweiß ausbrach, und umklammerte das Steuerhorn mit beiden Händen.

Da Berry angestrengt nach rechts vorn starrte, nahm er nicht wahr, was nur wenige Kilometer links von ihm vorbeizog. Am Ostufer der Bucht lag der Marineflieger-Stützpunkt Alameda, und etwas weiter im Süden erstreckte sich der riesige Flughafen Oakland. Beide Plätze wären ein, zwei Minuten näher gewesen, aber John Berry war physisch und psychisch auf den San Francisco International Airport fixiert. Dort war er gestartet; dort wollte er wieder landen. Er konnte nur hoffen, daß dort Feuerlösch-und Rettungsfahrzeuge bereitstehen würden. »Okay, keine Wasserung«, sagte er. »Wir landen auf dem Flughafen. Landeklappen ausfahren.«

Sharon reagierte nicht gleich. Sie war von dem Anblick des vor ihr in die Bucht hinausragenden Flughafens wie hypnotisiert. In Gedanken befand sie sich bereits auf festem Boden in Sicherheit. Die Erkenntnis, daß sie sich noch in einigen hundert Metern Höhe und mehrere Kilometer von der Landebahn entfernt befanden, war ein kleiner Schock für sie.

»Runter mit den Klappen, verdammt noch mal! Landeklappen!«

Sie streckte mechanisch die linke Hand aus, wie sie es in den letzten drei Stunden dutzendfach geübt hatte, und faßte nach dem Hebel für die Landeklappen.

»Laß ihn in der ersten Stellung einrasten. Schnell!«

Crandall betätigte den Hebel und fuhr die Landeklappen aus.

Berry fühlte, daß die Maschine langsamer wurde, und verfolgte die Geschwindigkeitsabnahme auf seinen Instrumenten: 225 Knoten, Höhe 700 Fuß. Rechts sah er den Candlestick Park unter der Tragflächenspitze vorbeiziehen. »Noch sieben, acht Kilometer. Gleich haben wir’s geschafft. Landeklappen weiter ausfahren. Los, gleich jetzt!«

Sharon ließ den Hebel in der nächsten Stellung einrasten. Das Flugzeug verlor rasch an Geschwindigkeit und stieg vorn hoch. Der Anstellwinkel der Straton vergrößerte sich scheinbar bedrohlich.

»John!« rief Sharon erschrocken.

Linda stieß einen lauten Schrei aus.

»Ruhig! Das ist normal. Das ist ganz normal. Ich habe die Maschine unter Kontrolle. Wir müssen eben ziemlich steil runtergehen. Nur noch ein paar Minuten, dann haben wir’s geschafft. Wir sind bald unten.« Das riesige Verkehrsflugzeug war schwieriger zu beherrschen, als Berry sich vorgestellt hatte. Es unterschied sich weltenweit von der Skymaster – und trotzdem galten für beide Maschinen die gleichen aerodynamischen Gesetze. Die Straton ist die Skymaster, sagte er sich nachdrücklich. Nichts ist anders.

Plötzlich begann das Steuerhorn in seinen Händen zu zittern,während die Überziehwarnanlage losblökte. »Verdammt noch mal!« Berry hatte die Geschwindigkeit der Straton zu sehr verringert. »Leistung, Sharon, mehr Leistung.« Er hielt das Steuerhorn krampfhaft fest, weil er wußte, daß die Maschine ins Trudeln geraten konnte, wenn er jetzt losließ.

Crandall streckte die linke Hand nach den vier Leistungshebeln aus und schob sie einige Zentimeter weiter nach vorn. »Leistung!«

»Nicht zuviel. Vorsicht, wir haben nicht mehr viel Treibstoff.« Berry drückte den Bug der Straton nach unten, damit die Maschine schneller wurde. Der Hornton der Überziehwarnanlage verstummte. Die Maschine zitterte nicht mehr, sondern flog ruhig weiter. Aber Berry sah, daß ihre Flughöhe kaum noch für ein zweites Manöver dieser Art ausreichte. Trotzdem mußte er jeden Liter Treibstoff rationieren und Schub gegen Höhe, Flughöhe gegen Geschwindigkeit und Geschwindigkeit gegen Auftrieb und Luftwiderstand ausbalancieren. Der Flughafen kam schnell näher. Berry griff nach den Leistungshebeln und zog sie etwas zurück. »Okay, wir landen, wir landen. Sharon, volle Klappen.«

Crandall ließ den Hebel in der letzten Stellung einrasten. »Volle Klappen!«

Im nächsten Augenblick tutete ein weiteres akustisches Warnsignal los.

Berry suchte das Instrumentenbrett ab. »Was, zum Teufel, ist jetzt wieder …?« Dann wurde ihm klar, daß er die Landeklappen voll ausgefahren hatte, ohne gleichzeitig das Fahrwerk zu entriegeln. Das hatte das Warnsignal ausgelöst. Eine freundschaftliche Mahnung für Piloten, die wie er zu viele andere Probleme hatten, um sich um Kleinigkeiten wie das Fahrwerk zu kümmern. »Scheiße! Das Fahrwerk ist nicht ausgefahren. Runter damit!«

Sharon wußte, daß sie daran hätte denken müssen. Das hatte zu ihrer Schnellausbildung gehört. Sie drückte den großen Hebel vor ihr nach unten. »Fahrwerk ausgefahren.«

Der Flugplatz lag jetzt vor dem Bug der Straton, und Berry wußte, daß es für einen Landungsversuch auf der kürzeren Landebahn vor ihnen zu spät war. Er steuerte die Maschine in einer Linkskurve über die Bucht hinaus.

»John! Der Flughafen …«

»Hat keinen Zweck. Ich muß zur Landung ausholen.« Das Warnsignal tutete weiter, und er fragte sich, ob das Fahrwerk defekt sei. Die aus drei Lämpchen bestehende Fahrwerkanzeige vor ihm blieb dunkel. »Okay, das Fahrwerk ist blockiert. Dann gehen wir eben in der Bucht runter.« Dann verstummte der Warnton, während gleichzeitig drei grüne Kontrollanzeigen aufleuchteten. »Jetzt ist das Fahrwerk unten! Okay, haltet euch gut fest. Wir landen!« Berry flog eine Rechtskurve, aber sobald der Flughafen wieder in Sicht kam, merkte er, daß er zu weit ausgeholt hatte. Reiß dich zusammen, Berry. Sieh zu, daß du das wieder ausbügelst.

»John, wir sind zu weit nach links geraten.«

»Ja, ich weiß. Immer mit der Ruhe. Das läßt sich korrigieren.« Er arbeitete mit Seiten- und Querruder, bis die Straton sich wieder in der Verlängerung der Landebahnmittellinie befand. »Alles okay, wir kommen prima hin.« Berry traute sich einen guten Landeanflug zu. Aber wirklich gefährlich waren die letzten Sekunden vor dem Aufsetzen – der Übergang zwischen Fliegen und Rollen, bei dem die Schwerkraft wieder an die Stelle des Auftriebs trat.

Berry sah den Flughafen als rechtwinkliges Kreuz aus doppelten Start- und Landebahnen, die in die Bucht hinausreichten, vor sich. Er konnte das Abfertigungsgebäude und die dort zu den einzelnen Nebenterminals ausstrahlenden Übergänge ausmachen. Er beobachtete hektische Aktivität auf dem Flughafengelände und wußte, daß sie erwartet wurden. Vor ihm erstreckten sich jetzt zwei Parallellandebahnen. Berry hatte erwartet, daß sie mit Löschschaum bedeckt sein würden, aber dann fiel ihm ein, daß das heutzutage bei Notlandungen nicht mehr als ratsam galt. Die in die Bucht hinausführende weiße Anflugbefeuerung blinkte, um ihm zu zeigen, daß er die linke Landebahn benützen sollte. »Okay, verstanden. Ich weiß, was ihr meint.«

Die in die Landebahn eingelassene Mittellinien- und Aufsetzzonenbefeuerung war eingeschaltet, und die grünen Schwellenfeuer waren selbst bei Tageslicht gut zu erkennen. Für Berry stand außer Zweifel, welche Landebahn er benützen sollte. Zweifelhaft war nur, ob ihm eine gute Landung gelingen würde. Er konnte lediglich versprechen, daß dabei niemand auf dem Boden zu Schaden kommen würde.

Die Straton 797 sank im Endanflug auf die Landebahn zu, so daß Berry nach einigen kleineren Korrekturen nichts anderes zu tun hatte, als den Bug auf die Landebahnmittellinie auszurichten. »Okay, wir sind bald unten.« Er konnte sich nicht vorstellen, weshalb die Triebwerke noch immer arbeiteten. Ein Blick auf den Höhenmesser: 300 Fuß – und der Flughafen lag etwa 30 Fuß über dem Meeresspiegel. Noch 270 Fuß bis zum Aufsetzen. Berry sah nach vorn. Ungefähr drei Kilometer bis zur Landebahnschwelle. Die Straton flog langsam, aber nicht langsam genug, um in einen überzogenen Flugzustand zu geraten. Berry hielt das Steuerhorn mit der linken Hand fest und nahm mit der rechten die Leistungshebel leicht zurück. »Okay, gleich ist’s soweit. Wir landen! Sharon, Linda, haltet euch gut fest. Festhalten! Ich setze so weich wie möglich auf. Sharon, liest du mir die Geschwindigkeit vor?«

Crandall sah auf den Geschwindigkeitsmesser. »160 Knoten.«

»Danke.« Berry wußte, daß er es schaffen würde, wenn der Treibstoff noch 50 oder 60 Sekunden reichte. Wenn er selbst noch eine Minute lang durchhielt. Er holte tief Luft. Vor ihm blitzten die Lampen der bis in die Bucht hinausgebauten Anflugbefeuerung auf und lenkten seinen Blick auf die Landebahnmittellinie. Eine erstklassige Befeuerung. Ein erstklassiger Flughafen. »Geschwindigkeit?«

»150 Knoten.«

Berry hielt das Steuerhorn fest und spürte, wie das riesige Flugzeug durch sein Eigengewicht langsam zur Erde sank.

Er hörte ein Geräusch hinter sich, als habe jemand die angeknackste Glasfasertür gewaltsam aufgebrochen. Berry starrte weiter nach vorn auf die Landebahn, aber er wußte, was dieses Geräusch bedeutete.

Sharon Crandall drehte sich um und sah die Strumpfhose mit dem noch daran festgeknoteten Schloß auf dem Boden liegen. Sie hob den Kopf. »Nein! Nein!«