5
Jack Ferro saß an seinem langen, funktional modernen Schreibtisch in der Mitte des hell beleuchteten, fensterlosen Raumes. Er warf einen Blick auf die Wanduhr – 11.37 Uhr – und sah dann zu seinem Assistenten Dennis Evans hinüber, der an einem kleineren Schreibtisch saß und lustlos in einem Stapel Papiere blätterte. »Ich gehe in fünf Minuten zum Essen, Dennis.«
Evans nickte. »Okay.«
Im Dispatcherbüro der Trans-United Airlines auf dem San Francisco International Airport herrschte die übliche Mittags-flaute. Die Morgenmaschinen waren längst unterwegs, und es war noch zu früh, die Flugpläne der Nachmittagsmaschinen aufzustellen. Die sechs Dispatcher lasen Zeitung, ihre Assistenten bemühten sich, beschäftigt zu wirken, und ihre jüngeren Mitarbeiter folgten ihrem Beispiel.
Ferro reckte sich gähnend. Nach 28 Jahren bei Trans-United hatte er erreicht, was er sich stets gewünscht hatte: Dienst von neun bis 17 Uhr am Pazifiktisch. Aber seitdem er beides hatte, langweilte er sich und hatte beinahe Sehnsucht nach der Nachtschicht und dem hektischeren Südamerikanisch …
Der Dispatcher legte seine Sport Illustrated weg und warf einen Blick auf die Liste mit den Flügen, die er zu überwachen hatte. Um diese Zeit war er lediglich für vier zuständig: Flug 243 aus Honolulu, 101 aus Melbourne, 377 nach Tahiti und 52 nach Tokio.
Das Wetter auf den Pazifikrouten war gut, und alle vier Maschinen hatten reichliche Treibstoffreserven. Nicht viel zu tun. An solchen Tagen schien die Zeit noch langsamer als sonst zu verstreichen.
Ferro schob seine Papiere zusammen, um sie Evans hinüberzubringen. Dabei fiel ihm auf, daß in einer Spalte eine Eintragung fehlte.
»Dennis«, fragte er seinen Assistenten, »hast du die neueste Meldung von Flug 52 vergessen?«
»Augenblick!« Der junge Mann stand auf, trat an die Theke, auf der ein ganzer Stapel Meldungen lag, und blätterte sie durch. Beim zweitenmal blätterte er etwas langsamer. Dann hob er den Kopf und rief: »Ich hab’ keine gekriegt. Sie ist überfällig. Soll ich sie anfordern?«
Das Wort »überfällig« gefiel Ferro nicht. In ihrem Beruf bedeutete überfällig etwas ganz anderes als verspätet. Er sah auf die Wanduhr. Der Treibstoff- und Positionsbericht hatte erst wenige Minuten Verspätung. Aber Ferro widerstrebte es, Evans etwas zu übergeben, das nicht ganz in Ordnung war. Vor 20 Jahren hatte er einmal eine Eintragung offengelassen und war zum Abendessen gegangen. Bei seiner Rückkehr hatte sein Büro einem Bienenstock geglichen, weil eine ihrer neuen Boeing 707 über dem Golf von Mexiko abgestürzt war. Damals hatte er die wahre Bedeutung des Euphemismus »überfällig« begriffen.
Ferro starrte die leere Spalte an. Sie gefiel ihm nicht, aber er war keineswegs übermäßig besorgt. »Hmmm … wir haben noch Zeit.« Er warf einen Blick auf die Besatzungsliste des Fluges 52. An erster Stelle stand Captain Alan Stuart. Ferro kannte ihn nur als Stimme am Telefon oder am Funkgerät; trotzdem hatte er das Gefühl, den Mann als zuverlässig und gewissenhaft zu kennen. Die übrigen Namen sagten ihm nichts, aber von Stuart wußte Ferro, daß er auf Ordnung sah. Er war davon überzeugt, daß der Captain das Versehen bald bemerken und die fehlende Meldung absetzen würde. Dispatcher, die Piloten belästigten – vor allem gewissenhafte Männer wie Stuart –, machten sich rasch unbeliebt, und Jack Ferro hatte nicht die Absicht, es sich mit den Piloten zu verderben. Das überließ er lieber Evans, der jetzt zum drittenmal die Meldungen durchblätterte.
»Wir bekommen bestimmt bald eine Meldung«, sagte Ferro beschwichtigend. »Und falls nicht …« Er überlegte. Die Anforderung sollte möglichst nicht von allen anderen Maschinen mitgehört werden. Sein Blick fiel auf die durch Glaswände abgetrennte Kabine mit dem Data-Link-Gerät.
»Wenn du bis zwölf Uhr nichts von ihnen hörst, tippst du eine Anforderung ins Data-Link.«
Evans nickte wortlos. Die Verständigung über Funk wäre einfacher gewesen, aber Ferro kam es stets auf Diskretion und Höflichkeit an. Wenn ein Captain dort oben schlief, konnte man ihn ruhig durch einen Funkspruch aufwecken! Evans schob die Meldungen beiseite und ging auf seinen Platz zurück.
Ferro starrte die leere Spalte erneut an und deckte sie dann mit einem Blatt zu. »Über dem Pazifik herrscht wunderbares Flugwetter!« rief er zu Evans hinüber. »Sie trinken Kaffee und denken an nichts Böses.«
Evans murmelte etwas vor sich hin, während er auf einem anderen Berichtsbogen Eintragungen machte.
Jack Ferro beobachtete die Uhr. Er konzentrierte sich auf den kreisenden Sekundenzeiger. Diese Warterei war nicht ungewohnt, aber sie machte ihn trotzdem nervös. Wie daheim, wenn seine Frau oder seine halbwüchsigen Kinder überfällig waren. Wenn sie sich verspätet hatten. Dann rückte die Uhr nicht langsam, sondern schnell vor, ließ die Minuten verfliegen und machte die Verspätung noch größer. Und brachte einen dazu, sich alles mögliche einzubilden.
John Berry saß auf dem Platz des Captains der Straton 797 in hellem Sonnenschein. Er hielt das Handmikrophon an die Lippen, drückte erneut den Sprechknopf und sprach laut. »Verstehen Sie mich? Wer versteht mich?« Er hatte dicke Schweißperlen auf der Stirn, und seine Kehle war wie ausgedörrt.
Mit der rechten Hand schaltete er auf eine andere Frequenz um und wieder zurück. »Mayday. Wer versteht Mayday? An alle: Mayday. Kommen.« Er lehnte sich zurück und horchte angestrengt. Aber er hörte nur das gleichmäßige Summen der Lautsprecher.
Berry sank in den Sitz zurück. Er wußte nicht mehr weiter. Als Privatpilot kannte er sich mit Funkgeräten aus, und die Geräte der Straton 797 schienen sich nur unwesentlich von denen der Skymaster zu unterscheiden. Trotzdem mußte etwas in ihnen anders sein. Offenbar gehörte irgendein Trick dazu, sie wirklich zum Senden zu bringen. Aber welcher? Und warum? Weshalb sollten diese Funkgeräte anders arbeiten. »Verdammt noch mal!« murmelte Berry vor sich hin.
Er fragte sich, wie er diese Maschine fliegen können sollte, wenn er nicht einmal mit den Funkgeräten zurechtkam?
Der Drang, mit irgend jemand zu sprechen, war übermächtig geworden. Berry ging es nicht mehr nur darum, die Katastrophe zu melden und Hilfe anzufordern, sondern er hatte das starke Bedürfnis, eine menschliche Stimme zu hören – nur um ihrer selbst willen. Aber je länger die Funkstille dauerte, desto hoffnungsloser wurde ihre Lage, und Berry schwankte zwischen Hysterie und Verzweiflung hin und her. Seine Hände zitterten so heftig, daß er das Mikrophon nicht mehr halten konnte. Berry lehnte sich zurück, holte tief Luft und bemühte sich, ruhiger zu werden.
Er betrachtete die Instrumente. Alles sah gut aus, aber da es ihm nicht gelungen war, die Funkgeräte richtig zu bedienen, zweifelte er auch an seiner Fähigkeit, Standardinstrumente abzulesen. Und die Straton 797 war hauptsächlich mit den gewohnten Bordinstrumenten ausgerüstet, die Berry kannte. Aber die angezeigten Werte – Höhe, Geschwindigkeit, Treibstoffvorrat, Betriebstemperaturen waren ausnahmslos vervielfacht. Er bemühte sich, das Problem dadurch in den Griff zu bekommen, daß er sich vorstellte, in der Skymaster zu sitzen.
Berry kontrollierte die Treibstoffanzeige. Knapp halbvoll. Allerdings konnte er nicht beurteilen, was das in dieser Höhe und bei dieser Geschwindigkeit bedeutete. Aber das würde sich aus der Verbrauchsentwicklung ergeben. Er starrte die Steuerhörner und Ruderpedale an, die kaum wahrnehmbare Ausschläge machten. Die Maschine lag ruhig in der Luft.
Dann fiel ihm etwas auf: In der Nähe seines linken Knies war die rote Schutzhaube eines Schalters zurückgeklappt. Berry las darauf AUTOPILOT-HAUPTSCHALTER und sah, daß der Schalter auf EIN stand. Er ahnte, was passiert war. Der Captain mußte die Nerven oder das Bewußtsein verloren haben, bevor er diesen letzten Handgriff hatte tun können. Berry nickte. Das war irgendwie logisch. Aber für ihn gab es keinen so einfachen Ausweg. Noch nicht. Er beugte sich nach vorn und ließ die Schutzhaube wieder einrasten.
Er stellte fest, daß er von einem gesunden Zorn gegen das Schicksal im allgemeinen und den Tod im besonderen beherrscht wurde. Vielleicht nur deshalb, weil er seiner Frau noch erzählen wollte, was er wirklich von ihr dachte. Er wollte nichts unerledigt liegenlassen. Berry griff wieder nach dem Mikrophon. »Mayday! Mayday, ihr Dreckskerle! Antwortet auf Mayday!«
John Berry wechselte die Frequenzen, auf denen er sprach, und benützte abwechselnd die interne Frequenz der Fluggesellschaft, auf der der Captain zuletzt gesprochen hatte, und die beiden internationalen Notfrequenzen. Er war sich darüber im klaren, daß er sich auf diesen beiden Frequenzen auf den eigentlichen Notruf beschränken mußte. Die eigentlichen Erklärungen hatten Zeit bis später. »Mayday! Mayday! Mayday! Mayday! Mayday!« Aber er hoffte vergebens auf Antwort.
Aus Verzweiflung begann er schließlich, auf den vier Funkgeräten im Cockpit willkürlich Frequenzen einzustellen. »Mayday, Mayday, Mayday, Mayday.«
Er schaltete auf die interne Frequenz der Fluggesellschaft zurück. »Hier Trans-United Flug …« Welche Nummer hatten sie? Welchen Unterschied machte das schon? Berry versuchte, sich an die Nummer auf seinem Bordpaß zu erinnern, aber sie fiel ihm nicht ein. »Hier ist die nach Tokio fliegende Straton 797 der Trans-United Airlines. Mayday. Verstehen Sie Mayday? Trans-United Operations, hier ist die nach Tokio fliegende Straton 797, an Bord ist ein Unfall passiert. Verstehen Sie mich?« Er wartete. Nichts.
Berry sah die Signalleuchten der Funkgeräte blinken, solange er auf den Mikrophonknopf drückte. Auch der Nebenton in den Cockpitlautsprechern zeigte ihm, daß die Funkgeräte funktionierten. Aber sie sendeten aus irgendeinem Grund nicht. Er vermutete, daß etwas – vielleicht die Antenne – beschädigt war. Bisher hatte er gehofft, den Piloten sei es vielleicht noch gelungen, einen Notruf zu senden, aber damit rechnete er jetzt nicht mehr. Daß die Funkgeräte nicht sendeten, war nicht seine Schuld – das hatte er eigentlich gleich gewußt. Sie sendeten einfach nicht, weil sie defekt waren. So einfach war die Sache. Bisher war kein Notruf gesendet worden; auch in Zukunft würde keiner gesendet werden.
Der Funkgeräteausfall bedeutete praktisch, daß Berry keine Chance hatte, die Maschine heimzufliegen. Für ihn war das beinahe eine gewisse Erleichterung. Ihm hatte es vor dem Gedanken gegraut, dieses riesige Flugzeug steuern und landen zu müssen. Aber er wollte leben. Berry legte das Mikrophon aus der Hand und starrte nach draußen. Seine Probleme auf der Erde erschienen ihm von höherer Warte in der richtigen Perspektive. Falls er jemals nach New York zurückkam, konnte und wollte er vieles in seinem Leben ändern. Aber das stellte bestimmt jeder fest, der den Tod vor Augen hatte. Nur noch eine Chance! Trotzdem änderte sich in den meisten Fällen nichts, wenn man das Glück hatte, diese zweite Chance zu erhalten. Aber Berry wollte sich nicht kampflos ergeben. Das hatte er in den vergangenen zehn Jahren zu oft getan. Darüber würde er später nachdenken müssen. Falls er Gelegenheit dazu hatte.
Er drehte sich um und sah durch die offene Cockpittür in den Salon hinaus. Linda Farley hockte in einem Sessel und weinte leise vor sich hin. Berry stand auf, um zu ihr hinauszugehen. Der Captain und sein Kopilot lagen in der Nähe des Klaviers, wohin die beiden sie geschleppt hatten. Der tote Flugingenieur lag an der Rückwand des Salons unter einer Decke, die nur seine Füße sehen ließ.
Berry beobachtete die Stewardess, auf deren Namensschild Terri O’Neil stand. Sie saß auf dem kleinen Sofa und schwatzte Unverständliches vor sich hin. Ihr Gesicht war mit Blut und Speichel verschmiert. Im Augenblick wirkte sie harmlos, aber er wußte, daß er auf sie achten mußte, falls sie gewalttätig zu werden drohte. Er würde sie aus dem Cockpit fernhalten müssen, weil sie dort ernstlich Schaden anrichten konnte.
Die alte Frau kümmerte sich nicht mehr um ihren toten Ehemann; sie hockte jetzt hinter einem der Sessel, sah über die Rückenlehne und gab glucksende Laute von sich. Der Tote lag noch immer über dem Beistelltischchen, aber seine Haltung schien sich verändert zu haben. Berry fragte sich, ob etwa die Leichenstarre bereits einsetzte.
Die fünf Passagiere auf der hufeisenförmigen Couch waren weiterhin bewußtlos. Die hübsche junge Frau in der Mitte stöhnte jedoch vernehmlich. Berry schloß die Augen und drückte die Fingerspitzen beider Hände gegen seine Schläfen. Er hatte weiterhin Kopfschmerzen und fühlte sich benommen.
Er öffnete die Augen und betrachtete die Szene erneut. Bisher hatte er gehofft, die Geistesverwirrung dieser Menschen werde sich bessern, lasse sich bis zu einem gewissen Grad rückgängig machen. Aber daran glaubte er jetzt nicht mehr. Seine Welt war jetzt eindeutig in »wir« und »die anderen« unterteilt.
Berry ging auf Linda zu, blieb neben ihr stehen und legte ihr eine Hand auf die Schultern. Seine Tochter war im gleichen Alter gewesen, als die zunehmende Entfremdung zwischen ihnen begonnen hatte. Aber das war auf der Erde gewesen. Hier oben genoß man als Erwachsener alle alten Privilegien. »Du mußt mir jetzt helfen. Linda.«
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, zog geräuschvoll hoch und nickte.
John Berry ging hinter die Bar, fand eine Dose Coca-Cola und riß sie auf. Aus dem Scherbenhaufen unter der Theke angelte er eine kleine Schnapsflasche. Johnny Walker Red Label. Er schraubte sie auf und kippte den Inhalt, der einem normalen Drink entsprach, bevor er Linda die Dose brachte. »Hier.«
Sie trank daraus. »Vielen Dank.«
Er kniete neben McVary nieder und schob seine Lider hoch. Die Pupillen waren etwas geweitet. Die Atmung war flach, aber regelmäßig. Berry sah zu Linda auf. »Hat er sich in der Zwischenzeit bewegt?«
Linda Farley nickte. »Er hat kurz die Augen geöffnet. Er hat auch etwas gesagt, aber ich hab’s nicht verstanden.« Sie deutete auf Stuart. »Der hat sich überhaupt nicht gerührt.«
Berry beugte sich über den Captain, der unregelmäßig atmete. Er stellte fest, daß Stuarts Pupillen auffällig geweitet waren und daß sein Puls kaum mehr zu fühlen war. Der Mann lag offenbar im Sterben.
Berry richtete sich auf und betrachtete McVary nachdenklich. Falls der Kopilot wieder zu Bewußtsein kam und bei klarem Verstand war, hatten sie vielleicht noch eine Chance. Das Flugzeug war steuerbar. Es brauchte nur einen Piloten. Berry traute sich diese Aufgabe zu, wenn jemand ihm die nötigen Anweisungen gab – vom Boden aus über Funk oder durch diesen Kopiloten. Falls keine Hilfe kam, würde er bei vollem Bewußtsein das unvermeidliche Ende abwarten müssen. Er war nahe daran, die anderen zu beneiden.
»Pst, ich hab’ was gehört!« flüsterte Linda.
Berry schrak zusammen, hielt den Atem an und horchte angestrengt.
»Auf der Treppe«, erklärte sie ihm leise.
Er nickte. Die Wendeltreppe, die aus der Ersten Klasse heraufführte, knarrte hörbar. Berry sah sich um. »Hast du irgendeine Waffe gefunden?«
»Tut mir leid, daran hab’ ich nicht mehr gedacht.«
Die Schritte auf der Treppe waren jetzt deutlich zu hören. Sie kamen langsam, zögernd näher. Berry hatte den Eindruck, dort komme ein einzelner Mensch die Treppe herauf, aber das konnte täuschen.
Er machte einen raschen Rundgang durch den Salon und hielt nach einer Verteidigungswaffe Ausschau. Die Barhocker waren festgeschraubt, die Flaschen mit Spirituosen waren winzig, und das Messer für die Zitronen und Limonen fehlte. Berry fluchte halblaut vor sich hin. Fast alle beweglichen Gegenstände waren über die Wendeltreppe nach unten gesaugt worden. Er suchte verzweifelt nach einem Aktenkoffer, einem Schirm oder dem weißen Stock des Blinden, aber er wußte, daß er nichts finden würde. Die Schritte wurden immer lauter.
Linda kreischte.
Berry sah zur Treppe hinüber und erkannte den Kopf eines Mannes. »Los, geh nach vorn ins Cockpit!« rief er dem Mädchen zu. »Beeil dich!«
Dann lief er zu dem toten Flugingenieur hinüber, kniete neben ihm nieder und zog Carl Fessler den Gürtel aus der Hose. Er wickelte ihn sich um die rechte Faust, die nach dem Kinnhaken von vorhin noch immer schmerzte. Die massive Gürtelschnalle ließ er frei herabhängen.
Berry richtete sich auf, lief zur Treppe und sah einen großen, kräftigen Mann, der zu ihm aufblickte. »Halt!«
Der andere blieb stehen.
Als Berry merkte, daß der andere sich nur nach vorn fallen zu lassen brauchte, um seine Knöchel zu erreichen, machte er hastig einen Schritt rückwärts. »Zurück!« Er hob die Hand mit dem Gürtel.
Der Mann zögerte.
Berry wußte, daß er an diesem Platz jeden daran hindern konnte, gegen seinen Willen die Treppe heraufzukommen. Aber er konnte nicht ewig hier stehenbleiben. Er überlegte, ob er dem Mann ins Gesicht treten sollte. »Verschwinde!«
Der andere wich eine Stufe weit zurück. Er starrte Berry verständnislos an. Dann öffnete er den Mund, setzte zweimal an und fragte schließlich: »Wer sind Sie?«
John Berry kam näher und starrte ihn prüfend an. Der Mann hatte sich offenbar übergeben, aber sein Gesichtsausdruck wirkte vernünftig. Sein Blick war verständig. Er hatte keine Blutflecken auf seinem weißen Hemd und sabberte nicht unkontrollierbar.
»Wer sind Sie?«
»Harold Stein.«
»Woher sind Sie?«
»Was?«
»Sagen Sie mir Ihre Heimatadresse.«
Der Mann wich noch eine Stufe zurück. »Wo ist der Pilot? Ich bin auf der Toilette gewesen, als …«
»Antworten Sie, verdammt noch mal! Sagen Sie mir Ihre Heimatadresse!«
»Chatham Drive, Bronxville.«
»Welcher Tag ist heute?«
»Dienstag. Nein, Mittwoch. Hören Sie, wer sind Sie? Großer Gott, Mann, ist Ihnen nicht klar, was unten passiert ist? Wo ist der Pilot?«
Berry holte tief Luft und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Sie waren also zu dritt! »Mit Ihnen ist alles in Ordnung?« fragte er heiser.
»Ja, soviel ich weiß.« Stein begriff allmählich, was passiert war. »Die Leute dort unten …«
»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Berry ihn. »Kommen Sie herauf, Mr. Stein.«
Harold Stein zögerte.
Berry trat zurück. Er wickelte den Gürtel von seiner Hand und steckte ihn in die Hosentasche. »Kommen Sie. Schnell!« Er sah sich über die Schulter nach den drei Männern und zwei Frauen auf der hufeisenförmigen Couch um. Einige von ihnen bewegten sich jetzt. »Beeilen Sie sich!«
Stein kam in den Salon herauf. »Um Himmels willen, was ist eigentlich …«
»Später!« unterbrach Berry ihn. »Sie sind nicht zufällig Pilot?«
»Nein, natürlich nicht. Ich bin Redakteur.«
John Berry hatte geglaubt, ihn könne nichts mehr erschüttern, aber nach dieser Antwort sank sein Herz noch tiefer. Er warf Stein einen prüfenden Blick zu. Um die vierzig. Muskulös und sportlich. Intelligentes Gesicht. Er konnte ihm bestimmt irgendwie helfen.
Stein starrte die Cockpittür an. »He, was ist mit dem Piloten, verdammt noch mal?«
Berry zeigte mit dem Daumen über die Schulter.
Der andere zuckte zusammen, als er die Uniformierten auf dem Fußboden erkannte. »Großer Gott, was …«
»Sie sehen selbst, was mit ihnen los ist, Mr. Stein. Die können wir abschreiben. Reden wir lieber davon, wie wir überleben können.«
»Überleben«, wiederholte Stein tonlos. Er hatte geahnt, daß etwas Schlimmes passiert war, aber er war der Überzeugung gewesen, die Piloten seien noch auf ihren Plätzen. Er starrte die Steuerhörner an, die sich kaum merklich bewegten. »Aber wer …?«
»Der Autopilot«, antwortete John Berry.
»Was ist passiert?«
Berry zuckte mit den Schultern. »Ich tippe auf eine Bombenexplosion.« Aber die beiden Löcher sahen nicht wie das Ergebnis einer solchen Detonation aus, und er hatte auch keine gehört. »Haben Sie etwas gehört oder gesehen?«
Stein schüttelte den Kopf.
Die beiden Männer standen verlegen in der Mitte des Salons und wußten nicht recht, was sie als nächstes tun sollten. Ausmaß und Geschwindigkeit der Katastrophe hatten sie aus dem Gleichgewicht gebracht, und sie brauchten diese Pause, um die Orientierung zurückzugewinnen. Stein fragte schließlich: »Nur wir zwei?«
Berry sah zum Cockpit hinüber. »Du kannst rauskommen!«
Linda kam aus dem Cockpit und stellte sich neben Berry, der ihr schützend einen Arm um die Schultern legte. Er spürte, daß sie zitterte. »Das hier ist Mr. Stein«, erklärte er ihr. »Er wird uns helfen.«
Stein lächelte geistesabwesend. Er sah sich noch immer im Salon um.
»Ich bin John Berry.« Er streckte ihm die Hand entgegen.
Stein griff wortlos danach.
Berry sah lächelnd auf das Mädchen herab. »Das hier ist Linda Farley.«
Es war surreal, aber zugleich beruhigend, auf hergebrachte Formen zu achten. Das war das einzige, was sie noch tun konnten. Normales, zivilisiertes Benehmen würde hoffentlich rationales Denken und Handeln nach sich ziehen. »Ich schlage vor, daß wir uns hinsetzen.« Berry fühlte sich in Salon und Cockpit beinahe als Hausherr. Er zeigte auf eine unbesetzte Couch in der Nähe der Cockpittür. »Brauchen Sie einen Drink, Mr. Stein?«
»Harold. Ja, bitte.«
Berry trat an die Bar, fand zwei Canadian Clubs und eine weitere Colabüchse und brachte die Getränke mit zur Couch. Er schraubte seine kleine Flasche auf und trank. Die Szene um ihn herum hatte ihn noch vor zehn Minuten schwer erschüttert, aber inzwischen war sein Überlebenstrieb stärker: Er ignorierte die Verwüstungen, die Toten und die Sterbenden als irrelevant und konzentrierte sich auf die Probleme, die zu lösen waren, wenn sie überleben wollten.
Harold Stein trank seinen Whisky und beobachtete dabei die anderen. Die beiden Uniformierten, von denen sich nur einer gelegentlich bewegte, lagen neben dem Klavier. Ein dritter, halb zugedeckter Uniformierter lag an der Rückwand des Salons. Die Bar in der entgegengesetzten Ecke war nur mehr ein Trümmerhaufen. Vor sich hatte Stein eine zweite hufeisenförmige Couch mit drei Männern und zwei Frauen, die alle noch angeschnallt waren. Sie bewegten sich von Zeit zu Zeit krampfhaft und präsentierten ihm dabei immer groteskere Tableaus. Stein wandte sich ab und betrachtete die Sesselreihe an der linken Wand. Ein Mann mit schwarzer Brille saß wie erstarrt da, während seine Hände nach der neben ihm hängenden Sauerstoffmaske zu greifen schienen. Auch der alte Mann, der quer über einem der niedrigen Tischchen lag, schien tot zu sein. Eine alte Frau kauerte hinter einem Sessel, sah gelegentlich dahinter hervor und wimmerte leise. Eine junge Stewardess, die ebenfalls bei Bewußtsein war, lag zwischen den Sesseln auf dem Teppichboden zusammengerollt und weinte. Der hochflorige blaue Teppich war mit Kleidungsstücken und Einrichtungsgegenständen übersät.
»Entsetzlich!« brachte Stein hervor, als er wieder zu Berry hinübersah.
»Ruhig, ganz ruhig!« ermahnte Berry ihn. »Diese Leute stören uns nicht, es sei denn, sie würden … unbeherrschbar.«
»Ja. Okay.« Er schien zu überlegen. »Wär’s nicht besser, wenn wir … ihnen helfen würden … nach unten zu kommen?«
Berry nickte. »Ja. Sie sind beunruhigend, aber ich weiß nicht, ob es richtig ist, sie nach unten zu bringen. Ich … außerdem wäre das keine leichte Arbeit. Am besten lassen wir sie vorerst in Ruhe.«
»Gut, einverstanden.«
John Berry beugte sich nach vorn. »Wo sind Sie gewesen, als die … Luft entwichen ist?«
»Das wissen Sie doch, auf der Toilette.«
Linda stellte ihr Coca-Cola ab. »Ich auch, Mr. Berry.«
»Stimmt!« bestätigte er. »Ich bin ebenfalls auf der Toilette gewesen. Dort hat sich der Druck besser gehalten. Seid ihr beide ohnmächtig geworden?«
Sie nickten wortlos.
»Okay. Aber jetzt fehlt uns nichts mehr. Wer keine Sauerstoffmaske aufgesetzt hat, ist tot. Die anderen sind entweder auch tot oder … nun ja … hirngeschädigt.«
Stein beugte sich nach vorn. »Hirngeschädigt?« wiederholte er halblaut.
»Ja, natürlich. So sieht’s doch aus, nicht wahr?«
»Ja, Sie haben … Sie haben recht. Ich … meine Frau … meine beiden Kinder …« Stein verbarg sein Gesicht in den Händen.
Berry war irgendwie nicht auf die Idee gekommen, der andere könnte in Begleitung gereist sein. Er selbst machte seine Reisen seit so vielen Jahren allein, daß er sich gar keinen anderen Zustand vorstellen konnte. Auch zu Hause brauchte er meistens nur an sich selbst zu denken. Alles war so rasch passiert, daß er keine Zeit gehabt hatte, an das Offenkundige zu denken – nicht einmal im Zusammenhang mit Linda Farley, die bestimmt nicht allein gereist war.
»Entschuldigung, Harold, daran habe ich nicht gedacht …« Er merkte, daß Stein ihm nicht mehr richtig zuhörte und daß Linda nahe daran war, erneut in Tränen auszubrechen. »Hören Sie, ich weiß als Pilot aus Erfahrung, daß die Auswirkungen eines … eines Sauerstoffmangels vorübergehend sind. Ich habe nicht wirklich hirngeschädigt gemeint. Das ist der falsche Ausdruck gewesen. Ich traue mir zu, diese Maschine zu landen, und sobald die anderen medizinisch versorgt werden, erholen sie sich bestimmt wieder. Und jetzt müssen Sie mir helfen, damit ich uns alle heimfliegen kann. Okay?« Er wandte sich an Linda, die leise vor sich hin weinte.
»Wer ist mit dir geflogen?« fragte er die Kleine. »Bist du in Begleitung gewesen?«
Linda Farley fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ja, ich bin mit meiner Mutter geflogen. Wir haben … ich habe sie vorhin schon gesucht. Aber es ist alles so schnell gegangen, daß …«
»Ja, ich weiß. Du findest sie bestimmt wieder. Wo habt ihr denn gesessen?« Berry bereute diese Frage sofort wieder. Aber sie ließ sich nicht mehr zurücknehmen.
»In der Mitte«, antwortete Linda. »Wo jetzt das Loch ist, glaube ich.« Sie hatte wieder Tränen in den Augen, als sie erfaßte, was das bedeutete.
Berry wandte sich ab und starrte das großformatige Bild an der Rückwand des Salons in der Nähe des Klaviers an, eine Reproduktion eines Dali-Gemäldes. Eine bizarre Ansammlung geschmolzener, zerfließender Uhren in einer surrealistischen Landschaft. Ein passenderes Bild für diesen Raum war kaum vorstellbar. Berry senkte den Kopf und studierte die weiße Plastikoberfläche des niedrigen Tischchens vor seinem Platz. Er brauchte nur an sich selbst und sein eigenes Überleben denken. Dafür war er seinem Schicksal dankbar. Falls sie gerettet wurden, würde er der einzige sein, der ohne persönlichen Verlust aus dieser Prüfung hervorgegangen war. Er empfand sogar ein gewisses Schuldbewußtsein bei dem Gedanken, daß dieses Erlebnis für ihn eine Wende zum Besseren bedeuten könnte. Aber an Bord waren etwa 350 Passagiere und Besatzungsmitglieder gewesen, von denen die meisten bereits tot waren oder im Sterben lagen. Ein verdammt hoher Preis für Berrys persönliche Wiederauferstehung – falls er tatsächlich überlebte.
Er sah zu Stein hinüber, der wie vor den Kopf geschlagen wirkte. Stein litt offenbar unter dem Bewußtsein, daß seine Frau und seine Kinder zu den Hirngeschädigten gehörten und keine 30 Meter von ihm entfernt saßen, ohne daß er ihnen helfen konnte. Berry fragte sich, wie er einer ähnlichen Belastung standgehalten hätte. Er stellte sich einen Augenblick lang Jennifer und die Kinder vor. Aber unter den gegenwärtigen Umständen spielten so viele andere Dinge mit, daß er seine Emotionen nicht eindeutig klassifizieren konnte.
Berry versuchte, sich über seine gegensätzlichen Empfindungen klar zu werden. So oft er daran dachte, aufzugeben und abzuwarten, bis die Straton 797 wegen Treibstoffmangels abstürzte, so oft stellte er sich auch vor, wie er die riesige Verkehrsmaschine perfekt landete. Er sah zu Harold Stein und der Kleinen hinüber. Dann dachte er an die anderen Fluggäste und kam unwillkürlich auf das Wort Euthanasie …
John Berry wußte, daß das gleichmäßige Rauschen der Triebwerke ihm ein falsches Sicherheitsgefühl vermittelte: Es erzeugte eine Lethargie, von der er sich nur schwer freimachen konnte, solange keine unmittelbare Gefahr zu drohen schien. Aber jede Minute, die ungenutzt verstrich, war eine Minute weniger Flugzeit. Er fragte sich, ob angesichts des hohen Treibstoffverbrauchs in geringeren Höhen überhaupt genügend Treibstoff für eine Landung in den Tanks war. Aber vielleicht konnten sie auch im Pazifik notwassern. Hatte die Straton 797 wie seine Skymaster einen Notsender im Heck? Und funktionierte er noch? Falls er vorhanden war und funktionierte, würde irgendwann ein Schiff kommen. Aber Berry wußte nicht, ob es ihnen gelingen würde, die Maschine zu dritt zu verlassen, bevor sie sank. Und wie stand es mit den behinderten Fluggästen? Und wie lange würden sie mit ihren Schwimmwesten im Meer treiben müssen, falls einige von ihnen sich retten konnten? Er dachte an Sonnenstich, Durst, Stürme und Haie. Aber wenn sie nicht bald etwas unternahmen, waren sie alle so gut wie tot. Ein gnädiges Schicksal hatte ihnen diese Chance gegeben, sich zu retten: ihm, Stein und dem Mädchen. Berry stand ruckartig auf.
»Okay, das Wichtigste zuerst«, sagte er. »Wir müssen feststellen, ob es andere gibt, die nicht von der Dekompression betroffen sind. Mr. Stein … Harold …, Sie gehen nach unten und sehen sich nach solchen Leuten um.«
Stein sah zur Wendeltreppe hinüber. Der Gedanke, sich zu 300 behinderten und wahrscheinlich gefährlichen Passagieren hinunterzuwagen, war wenig verlockend. Er blieb sitzen.
Berry hatte eine andere Idee. »Okay, bleiben Sie hier.« Er ging ins Cockpit, griff nach dem Mikrophon der Bordsprechanlage und drückte auf den Sprechknopf. »Hallo, hier spricht … der Captain.« Er hörte seine Stimme aus dem Kabinenlautsprecher kommen. »Falls jemand an Bord ist, der … der …« Verdammt noch mal! »Wer nicht unter den Folgen der Dekompression leidet, sich fit fühlt und noch klar denken kann, kommt bitte in den Salon der Ersten Klasse.« Er wiederholte seine Durchsage und ging dann zu den anderen zurück.
Stein und Berry standen an der Wendeltreppe, sahen nach unten und horchten angestrengt. Einige der Passagiere waren durch die Lautsprecherstimme aus ihrer Lethargie aufgeschreckt worden und gaben seltsame Geräusche von sich. Irgendwo aus dem Hintergrund der Kabine kam ein schrilles Lachen. Stein fuhr zusammen und hielt sich die Ohren zu. Sie warteten, aber niemand kam.
Berry wandte sich an Stein und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das allein ist noch kein Beweis, fürchte ich. Jemand kann irgendwo festsitzen oder vor Angst wie gelähmt sein. Sie müssen selbst nachsehen.«
»Ich will aber nicht in die Kabine runter«, protestierte der andere leise.
Berry biß sich auf die Unterlippe. Er war sich darüber im klaren, daß Harold Stein seine Zeit und sein Mitgefühl wie ein Schwamm aufsaugen würde, falls er das zuließ. Das war ein verständliches Bedürfnis. Aber John Berry konnte ihm keine Zeit opfern und ihn auch nicht bemitleiden. »Was Sie wollen, ist mir scheißegal, Stein! Ich will nicht sterben. Die Kleine auch nicht. Was wir wollen, genügt nicht mehr. Jetzt geht’s darum, was wir müssen. Ich muß wissen, ob uns irgend jemand in dieser gottverdammten Mühle helfen kann. Wir brauchen einen Arzt oder ein Besatzungsmitglied. Vielleicht finden wir einen weiteren Piloten.«
Er wandte sich ab und zeigte ins leere Cockpit. Sein Zorn war echt gewesen, aber er war inzwischen bereits wieder verflogen.
Beim Anblick des leeren Cockpits lief Berry ein kalter Schauer über den Rücken. Er bemühte sich, Stein nichts davon merken zu lassen. »Hier, nehmen Sie den Gürtel mit. Suchen Sie andere Waffen zusammen. Vielleicht brauchen wir sie noch. Linda, du bleibst im Salon und kümmerst dich um diese Leute – besonders um den Kopiloten dort drüben. Verstanden?«
»Wird gemacht«, versprach sie ihm tapfer.
»Falls jemand … sich komisch benimmt, kommst du zu mir. Ich bin im Cockpit. Okay? Linda? Harold?«
Stein nickte widerstrebend. Er glaubte halb, daß seine Angehörigen sich wieder erholen würden, und war fast davon überzeugt, daß Berry die Maschine fliegen konnte. »Ich hole meine Familie hier herauf. Ich möchte sie in meiner Nähe haben. Sie erholt sich bestimmt bald, wie Sie gesagt haben.«
Berry schüttelte den Kopf. »Sie ist vorläufig gut aufgehoben, wo sie im Augenblick sitzt. Vielleicht können wir sie später raufholen.«
»Aber …«
»Darüber können wir später reden. Gehen Sie jetzt bitte. Ich muß mich um andere Dinge im Cockpit kümmern.«
Stein warf einen Blick ins leere Cockpit. »Die Funkgeräte? Wollen Sie versuchen, mit …?«
»Ja. Gehen Sie bitte nach unten. Das Cockpit können Sie mir überlassen.«
Harold Stein erhob sich langsam und wickelte sich den Ledergürtel um die rechte Hand. »Glauben Sie, daß sie sehr … gefährlich sind?«
Berry sah sich im Salon um. »Nicht gefährlicher als diese Leute hier.« Er machte eine Pause. So unvorbereitet durfte er Stein nicht nach unten gehen lassen. »Nehmen Sie sich trotzdem in acht, Harold. Die Reaktionen auf den Sauerstoffmangel sind unterschiedlich … Seien Sie also vorsichtig! Und noch etwas: Zu jeder Stewardessenstation gehört ein Bordtelefon. Von dort aus müßten Sie mit mir sprechen können.«
»Okay.«
John Berry wandte sich ruckartig ab und ging ins Cockpit zurück.
Stein beobachtete, wie er sich auf den Platz des Captains setzte. Er sah zu Linda hinüber, rang sich ein Lächeln ab und stieg langsam die Treppe hinunter.
Berry hatte das Bedürfnis, den Autopiloten abzuschalten und das Steuer selbst zu übernehmen. Nur ein paar Sekunden lang, um ein Gefühl für die riesige Maschine zu bekommen. Um sein Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Er starrte den Schalter am Steuerhorn an und streckte die Hand danach aus. Wahrscheinlich konnte er das große Flugzeug sogar steuern. Aber er war sich darüber im klaren, daß er es nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte, falls er dabei einen Fehler machte. Andererseits wußte er, daß er die Maschine würde fliegen müssen, sobald der Treibstoffvorrat zur Neige ging. Dann hatten sie nichts mehr zu verlieren, wenn er notzuwassern versuchte. Warum sollte er das nicht vorher üben? Seine Finger berührten den Schalter. Nein! Später. Er nahm die Hand vom Steuerhorn.
Er dachte an die bevorstehende Notwasserung. Wahrscheinlich war es besser, nach Süden zurückzufliegen, bevor sie die wärmeren Gewässer des mittleren Pazifiks verließen. Berry suchte die Konsole zwischen den Pilotensitzen ab und entdeckte den schwarzen Kurvenkontrollknopf des Autopiloten. Er legte die Hand darauf, holte tief Luft und drehte den Knopf eineinhalb Zentimeter nach rechts.
Die rechte Tragfläche der Straton 797 sank langsam nach unten; gleichzeitig hob sich die linke, und das Flugzeug flog eine weite Kurve. Berry spürte ein vertrautes Gefühl im Hosenboden. Bei dieser Wendegeschwindigkeit würde es lange dauern, bis die Maschine sich auf Gegenkurs befand, aber Berry wollte in Wirklichkeit noch nicht umkehren. Er mußte sich erst einen Plan zurechtlegen. Ein Blick auf die Treibstoffanzeige bewies ihm, daß er noch viel Zeit hatte. Das Wasser unter ihnen war bestimmt warm genug für eine Notwasserung und würde noch länger warm bleiben.
Berry wußte jetzt, daß der Autopilot Kurven mit jeder gewünschten Wendegeschwindigkeit fliegen würde. Mehr wollte er vorläufig nicht ausprobieren. Er drehte den Knopf in die Mittelstellung zurück und merkte, daß die Straton 797 wieder in den Geradeausflug überging. Der Kompaß zeigte, daß der Steuerkurs jetzt 330 Grad betrug. Berry drehte den Knopf nach links, ging wieder auf 325 Grad und ließ die Maschine auf dem bisherigen Kurs weiterfliegen.
Er lehnte sich zurück. Seine Hände zitterten, und sein Herz schlug bis zum Hals. Er brauchte eine halbe Minute, um sich einigermaßen zu beruhigen.
Er überlegte, ob er es nochmals mit den Funkgeräten versuchen sollte. Aber sie würden doch nicht funktionieren. Außerdem wäre ein weiterer Mißerfolg psychologisch ungünstig gewesen, und Berry wollte nicht erst von ihnen abhängig werden. Der Teufel soll die Funkgeräte holen! Falls Berry die Straton fliegen wollte, mußte er allein damit zurechtkommen, falls Harold Stein nicht zufällig mit einem Berufspiloten zurückkam. Aber darauf setzte Berry wenig Hoffnung.
Stein stand am Fuß der Wendeltreppe und sah nach hinten in den langgestreckten Flugzeugrumpf. Er spürte, daß die Maschine sich zur Seite neigte, und fürchtete, sie werde abstürzen. Aber sie kehrte wieder in die Waagrechte zurück. Berry flog sie offenbar. Stein atmete auf und wartete, bis seine Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse in der Hauptkabine gewöhnt hatten.
Da die leichten Trennwände zwischen den Abteilungen herausgerissen waren, konnte Stein jetzt sehen, wie riesig die Straton 797 tatsächlich war. Eine Sitzreihe nach der anderen wie in einem Kino. In dem schräg durch die Kabinenfenster einfallenden Sonnenlicht sah er Staubpartikel tanzen. Eine hellere Lichtbarriere zeigte, wo sich die beiden Löcher im Rumpf befanden, und die daran vorbeiströmende Luft orgelte unheimlich, aber viel weniger laut, als Stein erwartet hatte. Ihm fiel auf, daß in der Kabine ein angenehmer Luftzug wehte, der den hier unten herrschenden Gestank halbwegs erträglich machte. Luftdruck und -sog schienen sich nahezu im Gleichgewicht zu befinden.
Die meisten Passagiere hockten unbeweglich auf ihren Plätzen, als hätten auch sie eine Art inneren Gleichgewichtszustand erreicht. Ihre anfängliche Aktivität hatte nachgelassen, und sie saßen jetzt mit geschlossenen Augen und blassen, aufgedunsenen Gesichtern da. Viele von ihnen waren mit Blut und Erbrochenem beschmutzt. Nur etwa ein Dutzend Fluggäste stießen noch Laute aus, und im Hintergrund der Kabine war ein schrilles Lachen zu hören. Einige wenige Männer und Frauen bewegten sich wie in Trance durch die Gänge. Stein hatte das Gefühl, in eine Mischung zwischen Irrenhaus und Schlachthof geraten zu sein. Wie konnte Gott das zulassen? fragte er sich. Und warum bin ich verschont geblieben? Oder bilde ich mir das nur ein?
Er betrachtete die Gesichter der in seiner Nähe Sitzenden. Keines ließ auch nur die geringste Hoffnung auf Besserung erkennen. Stein holte tief Luft und wagte sich ein paar Schritte weit in den Gang vor. Er zwang sich dazu, einen Blick auf die vier Mittelsitze zu werfen, die er mit seiner Familie eingenommen hatte. Susan und Debbie, die beiden Mädchen, lächelten blöde. Seine Frau schien ihre Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen. Er rief ihren Namen. »Miriam! Miriam!« Sie sah nicht auf, aber viele andere hoben den Kopf.
Stein merkte, daß sein Rufen sie aktiv gemacht hatte. Er blieb unbeweglich stehen, ohne seine Frau und seine Töchter aus den Augen zu lassen. Dann trat er schluchzend zurück, bis er die Sanitärzelle mit den Toiletten der Ersten Klasse hinter sich spürte. Er fürchtete, ohnmächtig zu werden, und atmete mehrmals tief durch, bis ihm wieder besser war. Für ihn stand jetzt fest, daß er unmöglich die ganze Kabine absuchen konnte. Er wollte nur fünf Minuten warten, bevor er nach oben zurückkehrte. Und er würde seine Familie mitnehmen.
Er nahm ein eigenartiges Summen wahr und spürte, daß die Wand, an der er lehnte, leicht vibrierte. Die Vibrationen wurden stärker, und Stein hörte jetzt das typische Arbeitsgeräusch eines kleinen Elektromotors. Dann fiel ihm ein, daß neben den Toiletten ein Aufzug eingebaut war, der ins Unterdeck führte. Er ging rasch auf die andere Seite der Sanitärzelle und blieb vor der schmalen Schiebetür stehen. Der Motor hörte zu summen auf. Stein trat einen Schritt zurück, als die Tür aufglitt.
Vor ihm standen zwei Frauen. Stewardessen. Eine groß und brünett, die andere eine Japanerin. Sie hatten in der engen Kabine kaum Platz. Stein sah, daß sie ihn erschrocken ansahen. Ihre Augen waren rot und wäßrig, und an ihren blauen Uniformen waren Spuren von Erbrochenem zu sehen.
»Können Sie … können Sie mich verstehen?« fragte er stokkend.
»Wer sind Sie?« fragte die brünette Stewardess. »Was ist passiert? Wir sind unten in der Bordküche ohnmächtig geworden. Ist alles in Ordnung?«
Stein wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er nickte hastig. »Ja. Ja, Ihnen fehlt nichts. Bei Ihnen ist alles in Ordnung.«
»Was ist passiert?« wiederholte die Brünette.
»Ein Unfall. Das Flugzeug hat zwei große Löcher. Der Druck ist schlagartig abgefallen. Einige von uns sind auf den Toiletten gewesen. Dort hat sich der Druck gehalten. Auf dem Unterdeck offenbar auch.«
»Ist eine Tür aufgegangen?« fragte die Japanerin.
»Nein. Anscheinend ist eine Bombe detoniert.«
»Um Himmels willen!«
Sharon Crandall trat aus dem Aufzug. Sie drängte sich an Stein vorbei, bis die die ganze Kabine überblicken konnte. »Großer Gott! Barbara! Barbara!«
Barbara Yoshiro war mit wenigen Schritten neben Crandall. Auch sie erfaßte die Situation auf den ersten Blick. Sie schrie gellend auf und brach bewußtlos in Steins Armen zusammen.
Sharon Crandall bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, zwang sich dazu, tief durchzuatmen, und wandte sich dann an Stein. »Und die Piloten? Was ist mit den Piloten?«
»Tot. Na ja … bewußtlos. Aber oben ist ein Passagier, der Pilot ist. Kommen Sie, wir müssen hier weg! Sie sind hirngeschädigt, verdammt noch mal! Sauerstoffmangel. Sie werden leicht gewalttätig. Los, kommen Sie endlich!«
Etwa ein Dutzend Fluggäste kamen in den breiten Gängen auf sie zu. Einige weitere Passagiere in unmittelbarer Nähe wollten aufstehen, wurden aber durch ihre Sitzgurte zurückgehalten. Andere schienen jedoch noch vage Erinnerungen zu haben: Sie öffneten ihre Gurtschlösser und standen auf. Einige von ihnen schlossen sich den nach vorn Gehenden an. In Steins Nähe erhob sich ein großer athletischer Mann.
»Beeilen Sie sich doch!« drängte Stein die Brünette. »Gehen Sie voraus!«
Crandall nickte und stieg rasch die Wendeltreppe hinauf. Stein schleppte Yoshiro zur Treppe. Vor ihm stand plötzlich ein Fluggast auf und versperrte ihm den Weg. Stein versetzte ihm mit ausgestreckter Hand einen Stoß, und der Mann taumelte wie ein schlecht funktionierender Kreisel zur Seite.
Stein, der die ohnmächtige Stewardess zu schleppen hatte, kam auf der Treppe nur langsam voran. Irgend jemand war hinter ihm. Eine Hand griff nach seinem Knöchel. Er trat danach und beschleunigte sein Tempo so sehr, daß er Crandall auf der obersten Stufe beinahe umgerannt hätte. »Verdammt, das war knapp!« Er legte Yoshiro auf den Teppich und beugte sich übers Geländer. Ein halbes Dutzend grotesker Gesichter starrte ihm entgegen. Er bildete sich ein, im Hintergrund seine Frau zu sehen, aber das ließ sich nicht sicher feststellen. »Verschwindet!« rief Stein keuchend. »Habt ihr nicht gehört? Ihr sollt verschwinden!«
Sharon Crandall sah sich im Salon um. »Mein Gott, das ist ja schrecklich!«
Stein blieb an der Treppe stehen und wickelte sich den Ledergürtel erneut um die rechte Faust. »Ich bleibe hier. Sie gehen ins Cockpit.«
Berry erschien an der Tür zum Salon. »Hierher!« forderte er Crandall auf.
Aber sie hatte nur Augen für die auf dem Boden sitzende Stewardess. »Terri!« Sie lief zu ihrer Freundin und kniete neben ihr nieder. »Was hast du? Terri?«
Terri O’Neil riß die Augen auf und sah in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Das war eine unwillkürliche Reaktion auf einen akustischen Reiz. Ihr rationales Denkvermögen war durch die dünne Luft in 62 000 Fuß ausradiert worden. Der Anblick von Sharon Crandalls Gesicht bedeutete ihr nichts. Die Erinnerung an Hunderte von gemeinsamen Flugstunden war aus ihrem Gehirn verdunstet wie kochendes Wasser aus einem Teekessel.
»Terri!« Sharon rüttelte ihre Freundin an der Schulter.
»Zwecklos!« rief Berry, der inzwischen wieder Platz genommen hatte. »Kommen Sie lieber hierher!«
Sharon warf einen Blick ins Cockpit und sah einen Mann auf dem Platz des Captains sitzen. Seine Stimme klang entfernt bekannt. Aber sie war zu verwirrt, um klar denken zu können. Sie ignorierte Berry und ging an der Treppe vorbei zu den neben dem Klavier liegenden Piloten hinüber. Weder Stuart noch McVary reagierte, als Crandall ihre Namen rief und sie wachzurütteln versuchte.
Stein beobachtete, wie ein Mann langsam die Wendeltreppe heraufkam. Ein zweiter Mann und eine Frau folgten ihm. Wenig später waren es sechs oder sieben Menschen, die unbehol
fen die Treppe hinaufstiegen. »Zurück! Bleibt unten!«
»Aaaaah!«
Stein hielt sich am Geländer fest und trat nach dem Kopf des ersten Mannes.
Der Mann ging in die Knie, fiel nach hinten und riß die anderen mit, die nun die Wendeltreppe hinabpolterten.
Linda Farley kniete neben Crandall nieder. »Die beiden sind sehr krank. Ich hab’ versucht, ihnen zu helfen.«
Sharon warf ihr einen verständnislosen Blick zu. Dann sah sie zu dem Mann am Geländer und zu der ohnmächtigen Barbara Yoshiro hinüber. Sie stand auf und holte den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Fach hinter der Bar. Sie ging mit einer Ampulle Salmiakgeist zu ihrer Kollegin, brach das Glasröhrchen auf und hielt es Barbara unter die Nase. »Wach auf, Barbara!«
Yoshiro öffnete die Augen. Crandall half ihr, sich aufzusetzen.
Die beiden Stewardessen hielten sich umarmt. Crandall tröstete Yoshiro, die zu schluchzen begann. »Ruhig, Barbara, ganz ruhig. Jetzt kann nichts mehr passieren.«
Stein drehte sich nach ihnen um. »Geht ins Cockpit und seht zu, ob ihr dort helfen könnt. Okay?«
Crandall zog Yoshiro hoch und stützte sie auf dem Weg zum Cockpit. »Mach dir nichts aus diesen Leuten. Sie sind nur ein bißchen krank. Komm, wir gehen nach vorn.«
Berry warf ihnen einen fragenden Blick zu. »Kennen Sie sich hier im Cockpit aus?«
»Ich dachte, Sie seien ein Pilot!« sagte Crandall.
»Das bin ich auch«, bestätigte er, »und ich hoffe, die Maschine mit Unterstützung von anderer Seite fliegen zu können. Kennen Sie sich wenigstens ungefähr aus?«
»Nein«, gab Crandall zu. Sie setzte Yoshiro auf Fesslers Platz. Beide Stewardessen sahen das Blut auf dem Schaltpult des Flugingenieurs, aber sie äußerten sich nicht dazu. »Wie schlimm steht’s mit den Piloten?«
»Die erholen sich bestimmt wieder.«
»Uns brauchen Sie nichts vorzumachen«, wehrte Crandall ab.
»Sie sind hirngeschädigt. Vielleicht erholt der Kopilot sich soweit, daß er mir helfen kann. Aber das ist äußerst zweifelhaft.«
Crandall machte eine nachdenkliche Pause. Sie hatte McVary gerngehabt. Eigentlich waren ihr alle drei sympathisch gewesen. Jetzt waren sie alle tot oder geistig behindert – auch ihre Kolleginnen und Kollegen, die sie von vielen gemeinsamen Flügen her kannte. Besatzungen sprachen selten über Flugunfälle, aber sie hatte von den Folgen einer Dekompression in großen Höhen gehört. »Was ist eigentlich passiert?«
»Das weiß ich nicht. Aber es ist eigentlich unwichtig, nicht wahr?«
»Richtig.«
Berry drehte sich nach Barbara Yoshiro um. »Geht’s Ihnen wieder besser?«
»Danke, mir fehlt nichts mehr.«
Er nickte zufrieden. Sein Instinkt sagte ihm, daß die kleine Japanerin sich tatsächlich wieder gefangen hatte. Das war ein beruhigendes Bewußtsein – selbst wenn er sich täuschen sollte. Ihm kam es – aus durchaus eigennützigen Gründen – darauf an, das Gesamtbild durch positive Aspekte zu verbessern. »Sie kennen das Cockpit auch nicht?«
Yoshiro schüttelte den Kopf. »Ich bleibe meistens unten in der Küche. Unter der Hauptkabine.«
»Ich komme oft ins Cockpit«, gab Crandall zu »aber mir ist eigentlich nie viel aufgefallen.«
»Sie wissen wahrscheinlich mehr, als Sie ahnen.« Er nickte zu McVarys Sitz hinüber. »Nehmen Sie Platz.«
Sharon Crandall setzte sich. »Ich kann Ihnen bestimmt nicht weiterhelfen.«
Als Berry sie jetzt im Profil sah, wußte er wieder, wer sie war. Er lächelte unwillkürlich. Er war froh, daß sie zu den vorerst Geretteten gehörte. Ihre Unterhaltung schien nun schon Jahrzehnte zurückzuliegen, aber sie hatte ihm Spaß gemacht, und er freute sich, sie fortsetzen zu können. »Erinnern Sie sich an mich?«
Sie nickte. »Ja, natürlich. Sie sind der Geschäftsmann, zu dem ich mich setzen wollte.« Crandall machte eine Pause. »Sie sind kein Pilot.«
»Richtig, der Geschäftsmann. Ich fliege auch.«
»Aber was?«
»Alle möglichen Typen. Ich werde auch mit der Straton fertig.« Berry verstand es plötzlich, andere zu beruhigen. Vielleicht war er dabei zu selbstsicher. Er konnte sich vorstellen, daß sie nicht lange ruhigbleiben würden, sobald er die Verkehrsmaschine tatsächlich zu fliegen versuchte. »Wo sind Sie gewesen, als der Druck schlagartig abgefallen ist?«
»In der unteren Bordküche«, antwortete Yoshiro.
Berry nickte. »Dort unten muß sich der Druck auch gehalten haben. Wir drei sind in Toiletten gewesen.«
»Das hat uns der andere Mann schon gesagt«, bestätigte Yoshiro. »Ich vermute, daß es noch andere gibt, die …«
»Richtig, deshalb habe ich Stein hinuntergeschickt«, unterbrach Berry sie. Er sprach etwas leiser weiter. »Seine Frau und seine beiden Kinder sind unten. Das Mädchen heißt Linda Farley. Ihre Mutter hat in der Nähe des Loches gesessen. Ich bin John Berry.«
»Barbara Yoshiro. Shannon kennen Sie ja bereits.«
»Stimmt«, bestätigte er.
»Warum rufen Sie nicht einfach Trans-United Operations über Funk!« schlug Crandall vor. »Von dort bekommen Sie einen Steuerkurs und nähere Anweisungen für die Landung.«
Das war kein Ratschlag, wie Berry ihn sich erhofft hatte. »Gute Idee«, stimmte er zu, »aber die Funkgeräte sind leider ausgefallen.«
Im Cockpit herrschte bedrücktes Schweigen, bis Berry weitersprach. »Ich will jetzt auf Gegenkurs gehen und auf gut Glück nach Kalifornien zurückfliegen. Falls der Treibstoff reicht, können wir uns dort überlegen, ob wir auf einem Flughafen landen oder dicht vor der Küste notwassern wollen. Vielleicht bekommen wir aus der Nähe eher Funkkontakt. Na, wie klingt das?«
Die beiden Stewardessen gaben keine Antwort.
Barbara Yoshiro stand auf. »Ich gehe nach unten und sehe nach, ob noch jemand … bei Verstand ist.«
»Das würde ich an Ihrer Stelle jetzt nicht tun«, widersprach Berry.
»Glauben Sie mir, Mr. Berry, ich tu’s nicht gern. Aber wir haben zwei Verkehrspiloten als Passagiere an Bord, und ich muß nachsehen, ob sie noch leben und bei klarem Verstand sind. Außerdem bin ich weiterhin im Dienst und muß versuchen, den übrigen Fluggästen zu helfen.«
Berry setzte keine großen Hoffnungen auf die beiden Piloten, die möglicherweise imstande sein konnten, die Straton 797 zu fliegen. »Die Passagiere sind gefährlich.«
»Und ich habe meine Judo- und Karateausbildung«, versicherte sie ihm. »Ich werde mit jedem Angreifer fertig. Außerdem sind sie sicher ziemlich unbeholfen.«
»Es sind aber dreihundert!«
Crandall schüttelte den Kopf. »Bleib lieber hier, Barbara.«
»Wenn’s wirklich schlimm aussieht, komme ich zurück.«
Berry warf ihr einen besorgten Blick zu. »Stein kann Sie nicht begleiten. Er muß an der Treppe Wache halten, damit niemand heraufkommt.«
»Ich habe nicht verlangt, begleitet zu werden.«
Berry nickte. »Gut, meinetwegen. Melden Sie sich alle paar Minuten übers Bordtelefon. Falls wir nichts mehr von Ihnen hören … naja, dann versuchen wir, Sie rauszuholen, falls wir können.«
»Okay.« Sie verließ rasch das Cockpit.
Berry wandte sich an Sharon Crandall. »Die Kleine hat Mut, das muß man ihr lassen.«
»Sogar mehr, als Sie ahnen. Unsere Judo- und Karateausbildung ist nicht viel wert. Barbara versucht nur, ihren Ohnmachtsanfall von vorhin zu kompensieren. Aber zwei der Passagiere sind tatsächlich Verkehrspiloten. Wir können nur beten, daß sie bei Verstand geblieben sind.«
»Allerdings!« stimmte Berry zu.
Crandall griff nach dem Mikrophon des Kopiloten. »Ich habe schon ein paarmal sprechen dürfen.« Sie drückte auf den Sprechknopf. »Trans-United Operations, hier Flug 52. Verstehen Sie mich? Kommen.«
Sie warteten beide schweigend.
Berry beobachtete, wie sie mit leicht zur Seite geneigtem Kopf darauf wartete, daß die gewohnte Lautsprecherstimme antworten würde. »Aussichtslos«, stellte sie fest.
Sie legte das Mikrophon weg.
Einige Minuten verstrichen. Plötzlich summte das Bordtelefon. Sharon Crandall nahm hastig den Hörer ab. »Barbara!« Sie hörte zu. »Gut, aber sei vorsichtig. Melde dich in drei Minuten wieder. Viel Glück!« Sie legte auf und wandte sich an Berry. »Die beiden Piloten sind tot. Jetzt sind Sie der Captain.« Crandall dachte an das in ihrem Handbuch beschriebene amtlich genehmigte Verfahren. Theoretisch hatte sie jetzt das Kommando über die Straton 797 – oder vielmehr Barbara Yoshiro, denn Barbara war das älteste überlebende Besatzungsmitglied. Welchen Unterschied machte das schon? Barbara oder Sharon als Kommandantin. Absurd.
Berry bemühte sich, keine Gefühlsregung zu zeigen. »Gut, reden wir über dieses Cockpit. Gibt es hier eine Art Notfunkgerät? Was zum Beispiel ist damit?«
Sie starrte den roten Knopf an, auf den er zeigte, und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das weiß ich nicht.«
Er beschloß, ihr mehr Zeit zu lassen. In Gedanken unterteilte er das Cockpit in sechs Felder und begann damit, das Feld links unten Schalter für Schalter, Knopf für Knopf und Instrument für Instrument zu untersuchen. Manches erkannte er, aber vieles blieb ihm unerklärlich. Er versuchte, sich die Position der wichtigsten Instrumente zu merken.
»Was ist mit dem Fernschreiber?« fragte Sharon plötzlich.
»Was?«
»Haben Sie’s schon mit dem Fernschreiber versucht?«
»Wovon reden Sie überhaupt?«
»Von dem Fernschreiber. Hier!« Sie zeigte auf eine Tastatur, die etwas unterhalb der Funkgeräte in die Mittelkonsole zwischen den Sitzen eingelassen war. »Unsere Piloten haben sie oft benützt. Man tippt darauf wie auf einer Schreibmaschine. Das Gerät empfängt auch Nachrichten.« Sharon zeigte auf einen kleinen Bildschirm im unteren Drittel des Instrumentenbretts.
Berry starrte das Gerät an. Er hatte bisher darüber hinweggesehen, weil er mit den vielen Tasten nichts hatte anfangen können. Und den Bildschirm hatte er für eine Art Radarschirm gehalten. Jetzt begriff er, wozu beides diente. Er hatte erst kürzlich in einer Luftfahrtzeitschrift von den Data-Links gelesen, mit denen einige Fluggesellschaften Verbindung zu ihren Maschinen hielten. Er wandte sich an Sharon.
»Wissen Sie, wie das Ding funktioniert?«
»Nein. Aber ich glaube, daß man einfach nur tippen muß. Am besten versuchen wir’s gleich.« Ihre Stimme klang erwartungsvoll aufgeregt. »Los, wir haben nichts zu verlieren! Bei eingeschaltetem Gerät muß eine grüne Kontrollampe leuchten. Dieses Lämpchen muß hier brennen.«
Berry suchte die Tastatur ab. Er streckte zögernd die rechte Hand aus und drückte auf den Knopf ENTRY. Das grüne Lämpchen flammte auf. Berry vermutete, daß es anzeigte, daß die Frequenz frei war. Er drückte auf den Knopf TRANSMIT und schrieb drei Buchstaben: SOS. Dann sah er auf den Bildschirm. Nichts. »Muß man nicht sehen, was man geschrieben hat?«
»Ja.«
»Ich sehe nichts. Der Teufel soll’s holen! Dieses gottverdammte Flugzeug!«
»Soviel ich weiß, tippt man erst die Nachricht und drückt dann auf den Sendeknopf.«
»Okay.« Berry drückte auf den Knopf CLEAR. »Okay, versuchen wir’s damit.« Er tippte das SOS erneut ein, hob die Hand und drückte den Knopf TRANSMIT. Beide starrten gespannt auf den Bildschirm. Dort erschien SOS in weißen eckigen Computerbuchstaben …
»Wir haben’s geschafft!« rief Sharon begeistert aus. »Wir haben’s geschafft!« Sie griff impulsiv nach Berrys Hand und drückte sie.
Berry grinste zufrieden. »Ja, wir haben’s geschafft. Okay, okay.« Aber er hatte den Verdacht, daß das SOS auf dem Bildschirm nicht viel bedeutete. Ob ihr Notruf wirklich gesendet und irgendwo empfangen worden war, ließ sich wahrscheinlich erst feststellen, wenn eine Antwort auf dem Bildschirm sichtbar wurde.
Da Berry vermutete, daß das Data-Link-Gerät nicht gleichzeitig senden und empfangen konnte, widerstand er der Versuchung, das SOS zu wiederholen, und wartete auf eine Antwort. Falls das Gerät funktionierte, mußte die gesendete Nachricht – im Gegensatz zu einem Funkspruch – irgendwo ausgedruckt worden sein. Er fragte sich, wie oft die eingegangenen Texte gelesen wurden.
Die Straton 797 flog gleichmäßig nach Nordwesten über den Pazifik weiter, während die Minuten lautlos verstrichen.
John Berry wußte, daß dies ihre letzte Überlebenschance war. Er sah zu Sharon Crandall hinüber. Sie schien es ebenfalls zu wissen. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« Er zeigte nach draußen auf die Bar.
»Nein, danke. Nicht jetzt. Vielleicht später. Holen Sie sich einen, wenn Sie wollen. Ich passe inzwischen hier auf.«
»Ich brauche keinen.« Er sah auf den Bildschirm und dann wieder zu Sharon Crandall hinüber. »Soll ich Ihnen von japanischen Geschäftssitten erzählen? Die sind teilweise sehr interessant.«
Crandall nickte. »Das kann ich mir vorstellen«, antwortete sie mit gezwungenem Lächeln. Ihr Lächeln verschwand jedoch, als sie wieder auf den Data-Link-Bildschirm sah, auf dem lediglich ihr eigenes SOS stand.