82. KAPITEL

Mason versuchte, die Finger seiner verbrannten rechten Hand zu bewegen. Schmerzblitze zuckten seinen Arm hinauf, hielten an der Schnittwunde an seiner Schulter kurz inne, um dann mit geballter Ladung in sein Gehirn zu schießen. Er biss sich auf die Zunge und unterdrückte ein Schreien.

Vielleicht war dies der Kern jedes Leidens. Es war die Kunst des Opferns. Es ging nicht darum, das Hungern auszuhalten, um Anerkennung zu kämpfen oder die Angst vor dem Versagen zu bezwingen. Vielleicht ging es einfach nur darum, etwas zu Ende zu bringen, loszulassen. Und zu realisieren, dass die Träume, die man mit Leben füllt, einfach nicht in diese Welt passen und deshalb besser das bleiben, was sie sind: Träume.

Die härtesten Kritiker kamen nicht aus New York oder Paris. Sie lehrten nicht an den Kunstschulen. Sie trugen keine Baskenmütze, hatten keinen Schnurrbart und tranken auch keinen Espresso. Manchmal waren sie einfach in deinem Spiegel zu Hause.

»Und, was macht die Kunst?« wollte Anna wissen und zog den Sattelgurt am Bauch des Pferdes fest. Sie hatte starke Hände.

»Nun, ich werde wohl die Bildhauerei für eine ganze Weile an den Nagel hängen.« Mason dachte an sein Werkzeug, das irgendwo im Keller des Hauses unter einem Haufen aus Asche und Knochen begraben lag. Er wollte es auf keinen Fall wiedersehen.

Anna nickte verständnisvoll und rückte dann den Sattel zurecht. Als sie über die Ohren des Pferdes strich, schnaubte der Morgan genüsslich.

Er musste sie einfach fragen. »Wie war es … du weißt schon?«

»Tot zu sein?« Nachdenklich starrte Anna ins Leere.

»Hm, ja.«

»Jemand, der mich liebt, hat einmal gesagt, der Tod ist genauso wie das Leben, nur schlimmer.«

Mason blickte der Rauchwolke hinterher, die vom Wind fortgetragen wurde. In der Luft lag der Geruch von Äpfeln. Jetzt, wo die Sonne aufgegangen war, strahlte der Himmel in winterlichem Eisblau.

Bald würde der Dezember die Landschaft mit einer Schneedecke einhüllen. Dann würden die Nächte wieder kürzer werden und mit dem hereinbrechenden Frühling würde dort, wo einst das Herrenhaus stand, neues, frisches Gras wachsen. Brombeersträucher und Akazien würden aus dem verbrannten Boden sprießen. An das Geschehene würde nur noch eine hauchdünne Staubschicht erinnern, die den steinernen Untergrund wie ein Schleier überzog. Die Sonne würde auf- und untergehen, die Jahreszeiten würden kommen und gehen, das Rad der Zeit würde sich unaufhörlich in ein und dieselbe Richtung drehen.

Vorwärts.

»Was hast du so für die Zukunft geplant?« wollte Mason wissen.

»Keine Ahnung. Auf jeden Fall hab ich von Metaphysik genug. Mögen die Toten in Frieden ruhen. Sie haben es verdient.« Sie setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich gekonnt auf das Pferd.

»Und wie sieht’s bei dir aus?«

»Mal sehen, was sich ergibt. Sobald ich in Sawyer Creek angekommen bin, werde ich Mutter sagen, dass Träume nicht das einzige sind, was wir auf dieser Welt haben.«

»Wirklich? Was haben wir denn noch?«

»Schmerzen.«

»Träume und Schmerzen. Das ist doch eine gute Mischung. Vielleicht sollten wir noch den Glauben mit dazunehmen.«

Die Mischung, aus der wahrscheinlich die Liebe gemacht war. Mason fragte sich, ob er es eines Tages herausfinden würde. Er schaute zu Boden und sah etwas Farbiges unter einem locker aufgeschichteten Heuhaufen hervorblitzen. Er stieß das Stroh beiseite und erblickte einen bunten Strauß aus Kornblumen, Flammenazaleen, Gänseblümchen, Schleierkraut und Waldlilien. Frühlingsblumen aus dem Gebirge, frisch gepflückt und süßlich duftend, die Stengel in strahlend weiße Spitze gewickelt. Er überreichte den Strauß Anna. »Jemand muss die für dich hinterlassen haben.«

Sie nahm die Blumen, roch daran, ihre Augen wurden feucht. »Die Toten sollen tot bleiben«, flüsterte sie. »Und in Frieden ruhen.«

Anna steckte den Strauß unter das Zaumzeug und nahm die Zügel auf. Das Pferd hob den Kopf.

»Bis bald, Mason. Pass auf dich auf.«

Sie zog die Zügel an und das Pferd setzte sich in Bewegung.

»Hey, Anna«, rief er ihr hinterher. »Hast du das, was du da oben auf dem Witwensteg gesagt hast, ernst gemeint?«

Sie hielt nicht an, drehte sich jedoch im Sattel um und schaute noch einmal zurück. Das gleichförmige Klappern der Hufe übertönend, rief sie: »Dass ich dir vertraue? Vielleicht.«

Ein letztes Mal schenkte Anna ihm ihr zartes Lächeln und ließ ihn dann mit seinen Gedanken allein zurück.

ENDE