20. KAPITEL
Im Lichte des Tages sah der Wald anders aus. Seine Grenzen wirkten offener, die Äste nicht mehr so bedrohlich, die Schatten unter dem Blätterdach weniger hart und erstickend. Anna atmete tief die frische Luft des Nachmittags ein, fühlte sich quicklebendig, voller neuer Energie. Korban Manor und die Berge hatten ihren Appetit zurückgebracht und ließen sie die lange Dunkelheit vergessen, in die der Krebs sie gestoßen hatte.
An der Gabelung nahm sie die rechte Biegung und musste an das Gedicht von Robert Frost über den nicht gegangenen Weg denken, weil der rechte nicht viel mehr als ein von Tieren ausgetrampelter Pfad war. Doch genau dieser Pfad führte zu einer Öffnung an einem Hügel, einem sanft abgerundeten Schädel aus Erde, der eine Mütze aus Gras trug. Im Zentrum der Öffnung war ein rechteckiges Stück Erde durch einen Eisengitterzaun abgegrenzt, im Inneren ragten weiße und graue Grabsteine aus dem Dreck.
»Hier also bewahrt ihr eure Toten auf«, meinte sie mit in den Himmel gerichteten Blick.
Anna lief auf den Zaun zu. Sie sah sich um, doch im Wald war es mucksmäuschenstill. Es wäre nicht der erste Friedhof, den sie unbefugt betreten würde. Sie hievte sich über den Zaun, wobei sie sich an seinen gewundenen Blumenranken und Schneckenverzierungen abstützte, um nicht von den spitzen Enden der Stäbe aufgespießt zu werden.
Zwei große Grabmäler aus Marmor dominierten den Friedhof. Sie waren wunderschön, wenn auch der Zahn der Zeit an ihnen genagt hatte. Auf dem ersten stand Ephram Elijah Korban, 1859-1918. Viel zu früh von uns gegangen.
Auf dem zweiten, weniger verzierten, stand einfach nur Margaret. Anna kniete nieder und legte die Hand fest auf die Erde über Ephrams letzte Ruhestätte.
»Ist jemand zu Hause, Miss Galloway?«
Anna schaute auf. Miss Mamie stand am Zaun. Irgendwie hatte sie fünfzig Meter offenes Feld überquert, ohne dass Anna es bemerkt hatte.
»Ich bin nur ein Stück spazieren gegangen. Da hat mich die Neugier gepackt.«
»Sie wissen doch, was die Neugier mit der Katze angestellt hat. Die meisten unserer Gäste respektieren Zäune.«
»Meinen Sie die Gäste, die laufen, oder die, die schweben?«
Das Echo von Miss Mamies Kichern hallte von den Grabmälern wider. »Ah, Sie reden von den Geistergeschichten. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste Ihre Bewerbung annehmen, wissen Sie. Forscherin im Bereich paranormale Aktivitäten. Das ist einfach perfekt.«
»Es ist ebenso viel eine Kunstform wie das Malen und die Schriftstellerei. Es dreht sich alles um die Suche, nicht wahr?«
»Sehr schlau ausgedrückt. Und wonach genau suchen Sie, Anna?«
»Ich nehme an, das weiß ich, wenn ich es gefunden habe.«
»Das kann man nur hoffen. Aber vielleicht müssen Sie gar nicht suchen. Vielleicht wird es Sie von selbst finden.«
»Dann haben Sie also nichts dagegen, wenn ich mich ein bisschen auf Ihrem Friedhof umsehe?«
Miss Mamie richtete den Blick auf Korbans Grabmal. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«
»Danke.«
»Aber kommen Sie nicht zu spät zum Abendessen. Und seien Sie vorsichtig, wenn Sie nach Einbruch der Dunkelheit draußen herumstromern.« Miss Mamie wandte sich zum Gehen um, doch dann fügte sie hinzu: »Sie sind eine von denen, nicht wahr?«
»Eine von welchen?«
»Eine von denen, die die Bergleute hier als ›begabt‹ bezeichnen. Sie haben das zweite Gesicht. Die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die für andere unsichtbar bleiben.«
»So besonders bin ich nicht.«
»Diese Geistergeschichten sind einfach köstlich. Und auch gut fürs Geschäft. Welcher Künstler, der von sich glaubt, ein Leben nahe dem Abgrund zu führen, würde die Möglichkeit ausschlagen, hierher zu kommen? Wenn Sie etwas sehen, werden Sie mir davon berichten, nicht wahr?«
»Großes Indianerehrenwort.«
»Da bin ich ja beruhigt.«
Anna schaute der Frau nach, wie sie über den Rasen und in den Wald hinein ging, und lief dann hinüber zu den anderen Grabsteinen, die sich wie kleine Punkte über den Hügel erstreckten. Sie las die Inschriften und die Namen auf ihnen. Hartley, Streater, Aldridge, McFall. Dahinter lagen nur noch einfache Grabplatten, bisweilen reckte sich ein Klumpen aus schroffem Granit in Richtung Himmel, ein tristes Andenken an ein längst vergessenes Leben.
Würde auch ihr Tod so wenig Aufmerksamkeit erregen? Würde auch ihr Grabstein so bedeutungslos sein? Spielte das überhaupt eine Rolle?
Am Rande der verstreuten Steine, wo die Rückseite des Zauns an den Wald grenzte, stand ein blasser, gemeißelter Grabstein im Schatten einer alten Zeder. Anna ging zu ihm und las die Inschrift. Hineingeätzt in den Marmor stand »Rachel Faye Hartley«. Über dem Namen war ein kunstreiches Blumenbouquet eingraviert.
»Rachel Faye, Rachel Faye«, murmelte Anna vor sich hin. »Jemand muss dich geliebt haben.«
Und obwohl Rachel Faye Hartley nur noch Staub war, beneidete Anna sie ein bisschen.