62. KAPITEL
Mason stürzte sich in den Lichtschein des Korridors, als ob dieser heilende Kräfte besaß. Panisch schlug er die Kellertür hinter sich zu, ließ den Metallriegel ins Schloss schnappen. Warum konnte man die Tür von außen absperren? Was wurde da unten im Keller aufbewahrt, das man unbedingt unter Verschluss halten musste?
Jetzt, da er dem bedrückenden Keller entflohen war, wurde sein Kopf ein wenig klarer. Und die Gedanken, die sich ihm nun offenbarten, waren fast genauso Furcht einflößend wie der kreative Wahnzustand, der ihn von innen aufgezehrt hatte. Er lehnte sich gegen die Tür, das Herz pochte ihm bis zum Hals.
Ruhig Blut, Mase. Falls du es vergessen hast: Dieser Typ ist seit achtzig Jahren tot und du denkst, eine TÜR könnte ihn aufhalten?
Korban war klobig und steif gewesen, als er sich in der Statue manifestiert hatte. Deshalb ging sein Geist oder seine Seele oder was auch immer in Gegenstände über, die von Menschenhand geschaffen waren. Weil Korban diese Energie brauchte, diese Schöpfung, die ihn zum Leben erweckte.
Dann könnte er jetzt vielleicht auch in die TÜR schlüpfen und sein Gehirn aus Sägespänen speisen? Schließlich muss ER sich ja nicht an irgendwelche Regeln halten.
Frustriert schlug Mason mit der Faust gegen die Tür. Die Tür antwortete mit einem Donnergrollen, wurde von der anderen Seite in Stücke gehackt. Mason schaute den Korridor entlang.
»Hilfe«, schrie er. Irgendjemand würde das Hämmern an der Tür hören und nach dem Rechten sehen. Plötzlich vernahm er Schritte. Die Tür der Speisekammer wurde aufgeschwenkt.
»Gott sei Dank«, rief Mason erleichtert und trat von der Kellertür zurück, die unter dem Hämmern zersplitterte. »Da ist ein—ähm—«
Mason suchte noch nach den passenden Worten, als er schon bemerkte, dass das gar nicht nötig war. Aus der Küche kam die Köchin, in ihren Wurstfingern hielt sie ein Hackbeil. Er konnte nicht nur die glänzende Klinge sehen, sondern auch den Holzgriff in ihrer durchsichtigen Hand.
Sie war aus der gleichen milchigen Substanz wie Ransom und George.
Das bedeutete—
Mason schaute nach rechts. Am Ende des Korridors sah er eine kleine Geheimtür. Er musste an der Köchin vorbei—oder durch sie hindurch, um entweder zum Vordereingang oder zu den Hintertüren des Hauses zu gelangen. Und er war sich bewusst, dass er schnell fliehen musste, denn die Wände brummten mit dem gleichen seltsamen Rauschen, das er schon im Keller vernommen hatte.
Die Kellertür brach entzwei und Korbans rotgold schimmernde Eichenhände langten hindurch. Die Köchin versperrte mit ihrer Leibesfülle den Weg, stand wie ein Fels in der Brandung. Ihre Lippen waren verzogen, als ob sie gerade an ranziger Buttermilch genippt hatte. Das Hackbeil schwirrte vor ihr durch die Luft, die glänzende Klinge reflektierte das flackernde Licht der Lampen.
Mason wich zurück, auch wenn es keinen Ausweg aus dieser Hölle gab. Korban griff durch den klaffenden Spalt in der Tür und versetzte Mason mit seiner Faust einen derben Schlag. Um ihn herum wurde es finster und er sah Tausende Sterne funkeln. Dann fiel er zu Boden. Als er wieder zu sich kam, merkte er, dass aus seinem Schädel Blut sickerte. Er blinzelte und sah, wie sich in der Täfelung Strudel und Wirbel bildeten.
Entweder bewegte sich die Wand oder er sah verschwommen. Nein, es war die Wand. Irgendetwas in der Wand bewegte sich.
Aus dem Holz trat ein Gesicht hervor, das sich zu einem breiten Grinsen verzog, als der dazugehörige Körper aus der Wand herabstieg. Es war der Geist von George Lawson, der ihm mit seiner abgetrennten Hand zuwinkte.
Korban zerschmetterte das Schloss und die Kellertür knallte auf. Mason zwang sich, aufrecht zu stehen, Anlauf zu nehmen und durch die Köchin hindurch zu rennen, in der Hoffnung sie wäre so weich wie sie aussah. Er duckte sich und versuchte, zwischen ihren Knien hindurchzutauchen, so wie er es damals in Sawyer Creek als kleiner Junge beim Footballtraining gelernt hatte. Seine Knochen schepperten als er an ihrem kalten Fleisch abprallte und in seiner Schulter hörte er ein Knacken.
Geister sind für gewöhnlich nicht undurchdringbar. Aber Geister dürften ja eigentlich auch gar nicht existieren. Das Hackbeil wirbelte durch die Luft und er schaute gerade noch rechtzeitig nach oben, um in das tote Gesicht der Köchin blicken zu können, das so regungslos war, als ob sie gerade Möhren für einen Eintopf schnitt.
Er wollte sich auf die linke Seite drehen, doch es war zu spät. Das Beil traf ihn am Oberarm. Er ächzte gequält, Blut spritzte auf sein Gesicht und er sah, dass sie zum nächsten Schlag ansetzte. Wie eine verkrüppelte Spinne krabbelte er über den Boden, jagte an ihr vorbei, dicht gefolgt von Korban, dessen plumpe Füße den Korridor entlang trampelten.
Mason schleppte sich zu den Treppen, griff nach dem Geländer, um sich nach oben zu ziehen. Als er die Treppen hinaufstürzte, pumpte sein hämmerndes Herz noch mehr Blut zu seinen Wunden. Doch seine plätschernden Blessuren beruhigten ihn komischerweise, denn sie erinnerten ihn daran, dass er noch am Leben war. In einer Welt, in der man von Albträumen heimgesucht wurde, war sein Blut ein willkommener Gast und seine Schmerzen gaben ihm die Gewissheit, dass er noch fühlte.
Mason erreichte das zweite Stockwerk und spähte den Korridor entlang zum Hauptschlafzimmer. Im Schatten neben der geschlossenen Tür zum Zimmer von Spence erblickte er William Roth.
»Hauen Sie ab«, schrie Mason und versuchte gleichzeitig, die klaffende Wunde an seinem Arm zu schließen. »Die Geister—Korban—«
Als Roth aus dem Schatten in den Lichtschein der sternenförmigen Leuchter trat, versagte Mason die Stimme. Das Gesicht des Fotografen hing in Fetzen herab, sein Mund war von frischen Narben übersät, die sein Grinsen wie Gitterstäbe zerstückelten. Seine Augenhöhlen waren leer und leblos.
William streckte seine leichenblasse Faust nach Mason aus, der so erstarrt war, dass seine Stimmbänder nicht einmal einen Schrei zustande brachten.
»Hey, Kumpel«, murmelte der Geist von Roth. Als sich die aufgeschlitzten Lippen erneut öffneten, krochen aus dem Mund des toten Mannes unzählige winzige Kreaturen mit spindeldürren Beinchen. Spinnen.
Ein rauer Wind pustete über die Kerzenleuchter an den Wänden und erstickte die Flammen. An beiden Enden des Korridors wurde es finster. Aus allen Richtungen raste der lange, dunkle Tunnel auf ihn zu, in dem die Ratten auf ihn warteten.
Ransoms Stimme drang aus den Wänden. »In unserer Seele existieren Tunnel, Mason.«
Hölzern und staksig wie ein betrunkenes Model holperte die Statue die Treppen hinauf. Mason spähte über das Treppengeländer und sah die Büste in den Armen der Statue liegen wie ein Kind, das von seiner Mutter gewiegt wird.
Die aus Ahorn geschnitzte Büste öffnete die Lippen und stieß einen Schrei aus, der im gesamten Gebäude widerhallte und mit der Stimme von Korban verschmolz: »Vollende MICH.«
Mason floh die Treppen hinauf zur dritten Etage. Bis auf einen zarten Lichtstrahl, den der Mond durch die Fenster sandte, war es hier oben so dunkel, dass Mason beinahe mit voller Wucht gegen die Wand gerannt wäre. Er versuchte, tief Luft zu holen, doch die erdrückende, rabenschwarze Finsternis um ihn herum raubte ihm fast den Atem. Mason vernahm Stimmen und schaute nach oben, sah Licht am Ende des Tunnels.
Da war die Falltür, die zum Witwensteg führte.
Wo Annas Geist auf dem Gemälde schreiend in die Tiefe gestürzt war.