47. KAPITEL

Anna hielt die Laterne höher. Der Geruch von modrigem Holz stieg ihr in die Nase und aus den Ecken des Kellers krochen Schatten, die lebendig wirkten. Im flackernden Licht erkannte sie die Statue von Mason, deren grobe Züge eine brutale Härte ausstrahlten. Noch verwirrter war sie, als sie die Büste von Korban erblickte, denn sein aus der geschliffenen Oberfläche modelliertes Gesicht erschien ihr so seltsam vertraut, hatte eine wohltuende Behaglichkeit an sich. Diese Skulptur war mit all der Liebe geschaffen wurden, die Gott in die Schöpfung von Adam und Eva gesteckt hatte.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Mason.

»Ich denke, es bedeutet, dass du besessen bist.«

»Ich spreche von dem Bild.«

»Hast du das alles gestern gemacht?«

»Hey, die Kritiker werden mich lieben, Mutter wird stolz sein. Ich bin der Michelangelo der Berge, der unbesungene Held der Bildhauerkunst. Blah, blah, blah. Aber schau dir doch mal dieses verdammte Gemälde an.«

Anna betrachtete das Bild. Da oben auf dem Witwensteg standen mehrere Figuren, weiß hervorgehoben auf schwarzem Hintergrund. Ganz vorn war die Frau, die Anna in ihren Träumen gesehen hatte, die Frau in dem langen, wallenden Kleid, mit dem Blumenstrauß in den Händen. Der Mund der Frau war geöffnet, so als ob sie schreien oder flüstern würde. In ihren Augen war ein inständiges Flehen zu erkennen, ein Betteln um Erlösung von den Gestalten, die ihr im Hintergrund auflauerten.

»Das bist du«, sagte Mason.

»Nein. Aber ich habe das anfänglich auch gedacht.«

»Du hast dieses Bild schon einmal gesehen?«

»In meinen Träumen. Im letzten Jahr, seit ich herausgefunden habe—seit ich mich entschieden habe, nach Korban Manor zu kommen.«

»Wenn du das nicht bist, wer ist es dann?«

»Du wirst mir das nicht glauben.«

Mason deutete mit einer Handbewegung auf sein Werk. »Ich habe mich praktisch über Nacht in ein Genie verwandelt. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, steht Korban direkt vor mir und drängt mich an die Arbeit zurück. Du, Ransom und die Hälfte der Gäste sind davon überzeugt, dass es in diesem Haus spukt. Und dieses Bild hat sich in einem unbeobachteten Moment selbst gemalt. Nun bin ich mal gespannt, was genau ich dir nicht glauben soll.«

»Na gut, aber versprich mir, nicht zu lachen.«

»Seit meiner Ankunft hier ist mir das Lachen vergangen. Ich bin ein seriöser Künstler, wusstest du das nicht?«

»Doch, natürlich. Das Wort ›Leiden‹ steht dir auf der Stirn geschrieben. Damit schützt du dich vor der Welt. Das ist deine Ausrede, um dir die Leute vom Leib zu halten. Du bist so hölzern wie deine blöde Statue.«

In Masons Augen blitzte Zorn auf, und für einen kurzen Moment sah Anna Stephen vor sich, wie er diese Maske kaum unterdrückter Wut aufsetzte, als Anna sich letztlich mit dem herannahenden Tod abgefunden hatte, wie er ihr vorrechnete, was ihr Verlust bedeuten würde, wie er darüber spottete, dass sie sich in ein Geisterhaus zurückziehen würde, welches jeglicher Vernunft entbehrte.

Mason griff nach ihrem Arm und drückte so fest zu, dass es schmerzte. »Jetzt hör mir mal genau zu. Als ich sechs Jahre alt war, kaufte mir meine Mutter Knetmasse. Es hatte etwas Magisches an sich, meine Finger in dieses Zeug zu graben und daraus nach Herzenslust alle möglichen Formen zu modellieren. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich die Kontrolle über etwas. Ich habe meiner Mutter einen Dinosaurier gebastelt, nach einer Vorlage aus einem Buch. Mit Knochenpanzern, Schwanzstacheln und zwei langen Hörnern. Und mit Augen, die so finster drein blickten, dass sie selbst einen Tyrannosaurus Rex eingeschüchtert hätten. Meine Mutter liebte diese Figur. Zum ersten Mal hatte ich etwas getan, auf das sie wirklich stolz war.«

Mason packte sie noch fester, und Anna fürchtete schon, er hätte den Verstand verloren und würde ihren Arm umknicken wie einen seiner Schnitzstöcke. Seine Stimme überschlug sich, geistesabwesend, mit rotem Gesicht und finsteren Augen kramte er die Erinnerung aus sich heraus. »Dann kam mein Vater herein, sah den Dinosaurier, schmiss ihn auf den Boden und trat ihn platt. Nannte mich einen gottverdammten, nutzlosen Tagträumer, einen Faulpelz, der nur Unsinn im Kopf hat. Ich sehe noch immer den Abdruck seines Stiefels in der Knete. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich da gefühlt habe? Und du denkst, du wärst etwas Besonderes, weil du Dinge siehst, die nicht existieren. Eins kann ich dir aber sagen, Fräulein Seltsam. Hier haben wir es nicht mit einer deiner Lagerfeuergeschichten zu tun. Das hier geschieht wirklich. Das hier ist real.« Er zog sie näher an das Bild heran. »Du kannst es sehen

Sie wandte sich ab, wich mit der Laterne in der Hand zurück. Durch das Flackern des Lichtes bewegten sich die Schatten und erweckten den Anschein, dass sich die Statue zwischen all den Brettern und Strippen bewegte. Anna starrte in die kleine Flamme der Laterne, direkt hinein in den heißesten Punkt. Wenn sie sich ihre Netzhaut verbrennen würde, müsste sie in der kurzen Zeit, die ihr noch blieb, vielleicht nie wieder einem Geist begegnen. Könnte dann weder sehen noch hellsehen.

»Das bin nicht ich«, sagte sie und schluckte die Tränen hinunter. »Das ist meine Mutter.«

»Deine Mutter?«

»Sie ist hier. Sie ist tot. Sie ist jetzt eine von denen. Und sie können sie von mir aus auch haben, ist mir egal.«

»Eine von denen? Moment mal, ich bin gerade etwas verloren.«

»Willkommen im Club! Ich habe auf meinem Weg auch alles und jeden verloren.«

Sie knallte die Laterne so energisch auf Masons Arbeitstisch, dass das Glas schepperte. Das Flackern der Flamme ließ die Schatten tanzen und die Dunkelheit schlich sich langsam an Anna heran. »Hier, du wirst Licht brauchen, denn wenn du dich selbst verlierst, wird es ziemlich finster um dich werden.«

Sie ging auf die Treppe zu und genoss die frische Luft, die ihr entgegen schlug. Da waren wieder die Schmerzen, die sie daran erinnerten, dass ihre Zeit bald abgelaufen war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ihre Uhr stehen blieb. Nicht mehr lange, bis es um sie herum dunkel wurde. Sie konnte es kaum erwarten.

Als sie die Holzstufen hinaufstampfte, sprach sie ihren gewohnten Zählreim.

Zehn, dünn und rund.

Neun, Schlaufe mit Schwänzchen.

Acht, ein doppeltes Tor.

»Anna, warte.«

Sieben, scharf und gerade.

Sechs, Schlaufe mit Schnippchen.

»Es tut mir leid.«

Ihr tat es auch leid.

Fünf, ein Mann mit Bauch.

Vier, ein gehisstes Segel.

»Ich habe Angst.«

Willkommen im Club.

Drei, eine Adlerklaue.

Zwei, ein stolzer Schwan.

Eins, eine Trennlinie.

»Hilf mir.«

Null.

Nichts.

Sie öffnete die Tür und ging den Gang hinunter, strömte durch die Lebensadern des Hauses, das geduldig den Atem anhielt und ihr sein warmes, gütiges Herz zu Füßen legte. Wenn man eine Sache akzeptierte, fand man seinen Seelenfrieden. Dies war der erste und der letzte Ort in ihrem Leben. Hier gehörte sie hin. Sylva Hartley hatte recht. Sie war nach Hause gekommen.