49. KAPITEL

Roth leckte sich die Lippen. Das hatte sich gelohnt. Das Vögelchen war ihm ins Netz gegangen, hatte sich von seiner Masche einfangen lassen. Hatte seinen ausgelegten Köder verschlungen wie einen Wurm. Er malte sich schon genau aus, was Lilith mit ihm anstellen würde, wenn sie in ihrem Zimmer angekommen waren.

Sie hatte ihn durch eine kleine Tür in der Speisekammer geführt, die ihm vorher noch gar nicht aufgefallen war. Ein schäbiger Ort, an dem sich sonst nur die Bediensteten aufhielten. Wenn man es mal genau betrachtete, waren die Hausangestellten immer präsent, so als ob sie keinen Schlaf bräuchten. Einmal hatte er früh um drei eines der Dienstmädchen gesehen, wie es das Feuer im Foyer entfachte. Stunde um Stunde sorgte das Personal dafür, dass der Vorrat an Feuerholz niemals ausging.

Roth folgte Lilith eine schmale Treppe hinunter in einen Raum des Kellers, der durch dicke Wände von dem Bereich abgetrennt war, in dem Mason arbeitete und Roth seine Negative entwickelt hatte. Die Tür über ihnen fiel zu und sie standen im Stockdunkeln. Sie hatten keine Laterne mitgenommen, und diese völlige Finsternis erregte Roth nur noch mehr, brachte seine Haut in freudiger Erwartung zum Prickeln. Oder war es diese frostige Totenstille, dieses Gefühl des Eingesperrtseins, das sein Herz höher schlagen ließ?

Sie war leichte Beute, begierig und willig. Das war schon mal gut. Die meisten Frauen verhielten sich schließlich, als ob Sex mitten am Tag ein Affront gegenüber den Göttern wäre. Lilith hingegen hatte noch nicht einmal ihr erstes Glas Wein geleert, als sie sich schon an Roth anlehnte, ihn selig anlächelte und sich in diesen verruchten grauen Augen verlor, denen keine Frau widerstehen konnte.

Mit einer Hand an der Wand tastete er sich nach vorn, immer darauf bedacht, nur nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit der anderen Hand berührte er Liliths Haar, ließ sie nach unten gleiten zu der Stelle, wo normalerweise ihre Schultern sein müssten. Aber sie war ihm immer einige Schritte voraus. Seit er ihr seinen Vorschlag unterbreitet hatte, hatte sie kein Wort mehr gesagt. Hatte stattdessen nur unterwürfig gelächelt und mit dem Kopf in Richtung der geheimen Tür gedeutet. Sie hatte Lust auf Spielchen, definitiv.

Roth trat von den knarrenden Holzdielen auf einen harten, flachen Untergrund. Dann hörte er, wie jemand ein Streichholz anzündete, sah eine Flamme aufflackern, die Liliths Gesicht hell erleuchtete. Aber wie konnte das sein? Sie hatte doch gerade noch neben ihm gestanden. Ihr schwarzes Kleid machte ihren Körper unsichtbar, und für einen kurzen Moment schien es so, als ob ihr Gesicht und ihre Hände frei in der Luft schwebten. Er ließ ihr Haar, oder was immer er da gerade berührt hatte, fallen und sprang nach hinten, als sie eine Kerze anzündete.

»Wir sollten ein Feuer machen«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. Roth sah, dass seine Hand voller Spinnweben war. Er schrie auf und wischte sich die Hand an der Hose ab.

Sie kicherte. »Haben Sie sich erschrocken, Mr. Roth?«

»Ich hasse Spinnen, weißt du nicht mehr? Seit ich neun Jahre alt bin. Damals ist mir eins von diesen Viechern in den Mund gekrabbelt, als ich gerade unter die Veranda kriechen wollte. Ich hatte danach eine Woche lang Albträume.«

»Sie Armer! Bei mir sind Sie sicher.«

»Ich hoffe, nicht zu sicher, hm? Ich liebe die Gefahr und du siehst wirklich verlockend gefährlich aus, Kleines.«

Im Flackern der Kerze konnte er die schummrigen Ecken des Raumes erahnen. Er fragte sich, ob in den Schatten wohl Spinnen lauerten. Eine im Umkreis von zwei Metern sagt man. Solange sie zwei Meter Abstand zu ihm hielten. Er bemerkte eine kleine Nische, in der eine weitere Kerze flackerte. Wie hatte sie die denn angezündet? Erst dachte er, der Raum führte vielleicht in einen weiteren, sah dann aber Liliths Rücken und sein eigenes Gesicht. Vor ihm hing ein Spiegel, so groß wie das Bett darunter. So ein kleines Miststück!

Er leckte sich über die Lippen, fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Der Raum war sehr klein und die Wände so dick gemauert, dass kein Geräusch nach außen dringen würde. Vielleicht schrie sie sich gern die Seele aus dem Leib, wenn sie richtig geil war. Das kam Roth gerade recht.

Außer dem Bett gab es in dem Raum keine Möbel, was Roth einen Augenblick lang stutzig machte. Auf der Matratze lagen keine Decken, nur ein altes Leintuch, das allem Anschein nach auch mal wieder gewaschen werden musste. Dieser Ort hier war so trist wie die Zelle eines Mönchs in einem Kloster. Aber all das war schnell vergessen, als Lilith die Kerze abstellte, sich ohne jede Scham aufs Bett setzte und ihn mit lüsternen Augen anschaute.

Ihre Augen waren dunkler als der schwärzeste Kohleschacht in Newcastle. Er sah darin nicht das, was er sehen wollte. Er mochte es, wenn seine Vögelchen ein bisschen verängstigt waren oder zumindest ein bisschen schüchtern wirkten. Wenn sie nicht so leicht rumzukriegen waren und er sich ein wenig Mühe geben musste, um sie zu erobern.

Aber er wollte nicht kleinlich sein. Am Ende waren sie doch alle gleich. Und ihre Haut glänzte vor Erregung. Er dachte, sie würde vielleicht ein wenig erröten, aber sie lächelte nur und irgendetwas an ihrem Lächeln verwunderte ihn.

»Du wirst doch keine Schwierigkeiten bekommen, weil du dich mit einem Gast vergnügst?« fragte er, weniger aus Sorge als vielmehr, um die erdrückende Stille zu durchbrechen.

»Miss Mamie sagt, dass zufriedene Gäste gerne wiederkommen«, erwiderte sie mit diesem teuflischen Lächeln auf den Lippen. Für einen Moment fühlte sich Roth wie der Verführte und nicht wie der Verführer. Aber das war lächerlich. Es waren sein Ruhm, sein Charme, die Macht, die er ausstrahlte, mit denen er sie geködert hatte. Sein Name stand schließlich unter Tausenden Hochglanzbildern.

Sein Herz schlug schneller und er ging auf das Bett zu. Sie lag auf dem Rücken, breitete die Arme nach ihm aus, blickte ihn erwartungsvoll an.

»Bin ich so schön wie eines Ihrer Fotos, Mr. Roth?«

Er schluckte. Vielleicht hatte er zu viel Wein intus, aber irgendwie war er viel zu schnell erregt. Er fühlte sich wie ein dummer Schuljunge, der sich ein Pornoheft anschaute. Er wollte nicht die Kontrolle verlieren. Kein Vögelchen sollte je so ein leichtes Spiel mit ihm haben.

Unter ihrem Kleid zeichneten sich ihre Brüste ab und als sie ihre Knie aufstellte, rutschte ihr Kleid ihre Oberschenkel herab. Frohlockend spreizte sie die Beine und Roth konnte seinen Blick nicht von der schattigen Grotte zwischen ihren Hüften abwenden. Noch nie war er so geil gewesen.

Vielleicht war es auch das Haus selbst, das dieses eigenartige Kribbeln hervorrief, welches er seit seiner Ankunft verspürte und das jetzt noch intensiver durch seine Glieder zuckte. Wie ein Feuer, das erst zögerlich zu brennen beginnt und sich dann in eine leidenschaftlich lodernde Glut verwandelte.

Er kniete sich hin, um sie zu berühren. Er musste es langsam angehen, sonst würde er wie ein Tier über sie herfallen. Doch er wollte nicht einfach nur einen schnellen Schuss, er wollte es richtig auskosten. Er mochte das. Es gefiel ihm, wenn sie ihn anflehten, endlich aufzuhören.

Aber nun befürchtete er, die Sache würde ihm entgleiten. Er hatte Angst, dass nicht mehr er die Macht und Kontrolle über sie hatte, sondern sie die Fäden in der Hand hielt. Als er mit zittrigen Händen nach ihr griff, ärgerte er sich plötzlich über sich selbst. Er zitterte niemals. Er hatte schon kämpfende Nilpferde aus zehn Metern Entfernung ohne Stativ fotografiert und die Aufnahmen waren keinesfalls verwackelt, sondern gestochen scharf gewesen.

Also machte er, was er immer tat, wenn er seinen Höhepunkt hinauszögern wollte. Er dachte über seine Arbeit nach. Über die Negative, die er an diesem Nachmittag entwickelt hatte. Irgendetwas hatte ihn verwirrt, aber er konnte sich jetzt nicht daran erinnern. Der Wein hatte ihm definitiv die Sinne benebelt. Und seine Wut auf Spence brachte ihn um den Verstand. Nun, es gibt nur eine Möglichkeit, den Teufel auszutreiben.

Er legte seine Hände auf ihre nackten Unterschenkel. Ihre Haut fühlte sich lau an, war so kalt wie das Zimmer selbst. Das war zwar seltsam, aber er würde sie schon heiß machen. Dafür brauchte es nur ein bisschen Reibung. Aber noch nicht jetzt!

Roth kletterte auf das Bett, überlegte, ob er sich seiner Hosen entledigen sollte, entschied sich dann aber doch zu warten. Lilith legte ihre Hände auf seine Schultern, umklammerte seinen Nacken und zog sein Gesicht zu sich heran. Ach was soll’s, warum sollte er sie länger leiden lassen? Aus irgendeinem Grund machte ihn ihre fehlende Körperwärme total an. Wahrscheinlich war es einfach die eisige, unterkühlte Atmosphäre hier unten, die sie frieren ließ. Er nahm es als persönliche Herausforderung an. Er würde ihr Feuer schon noch entfachen.

Er presste seine Lippen auf die ihren, spürte ihre Zunge, die verunsichert auf seine traf. Dafür, dass sie vorhin so ein Tempo vorgelegt hatte, war sie jetzt ganz schön zurückhaltend. Fast so, als ob sie noch nie zuvor geküsst hatte. Er zögerte, denn in ihrem Mund fühlte es sich irgendwie komisch an.

Roth legte sich auf Lilith, ihre Körper verschmolzen durch die Kleidung hindurch. Ihre Brüste pressten sich an ihn. Das gefiel ihm, aber er achtete darauf, sich davon nicht zu sehr beeinflussen zu lassen. Sanft und langsam hieß die Devise, selbst wenn in seinem Körper ein Sturm wütete. Was stimmte nicht mit ihrem Mund?

Er fühlte sich wie der Rest ihres Körpers an, ein bisschen zu kalt. Wie hoch war die Temperatur unter der Erde noch mal? Konstante zehn bis fünfzehn Grad oder so? Aber ihr Mund müsste doch warm sein und nicht so trocken. Es war fast, als ob er seine Zunge in die Tasche eines kratzigen Wollmantels schob. Er hoffte nur, dass sie nicht überall so trocken war.

Lilith stöhnte in seinen Mund herein. Hatte sie irgendwelche Körpersäfte?

Sie krümmte sich unter ihm und er vergaß vorerst, wie seltsam sich ihre Zunge angefühlt hatte. Er tastete nach ihren Schultern, wollte ihr das Kleid herunterreißen, damit er im Kerzenlicht mehr von ihrem Körper sehen konnte.

»Ja«, keuchte sie.

»Ja«, rief eine weitere Stimme.

Was zum Teufel?

Wahrscheinlich nur ein Echo. Eine akustische Täuschung.

Aber der Ton prallte nicht zwischen den Wänden hin und her, sondern wurde von der Totenstille des Raumes verschlungen.

Roth nahm eine huschende Bewegung wahr, die seine Erregung jäh abflauen ließ. Dann erinnerte er sich wieder an den Spiegel und schaute nach oben. Wenn er sich und diese hübsche Dirne unter ihm bei ihrem gemeinsamen Treiben beobachten würde, brächte das das Blut in seinen Lenden vielleicht wieder in Wallung.

Im Spiegel wurde sein Gesicht immer größer, als ob er es durch ein Zoomobjektiv betrachtete. Was stimmte hier nicht?

Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, aber ausreichend Zeit, um zu realisieren, dass der Spiegel ihm entgegen fiel, im Zeitlupentempo auf das Bett herabstürzte. Und diese gewaltige Scheibe Glas war mit Sicherheit ein paar hundert Kilo schwer. Wenn sie zersplittern würde—

Wenn sie zersplittern würde, hätte er ein paar Kratzer mehr.

Ein paar wirklich böse Kratzer.

Aber er konnte sich nicht bewegen. Lilith hatte ihre Beine um seine Hüften geschlugen, und verdammt noch mal, sie hatte ganz schön viel Kraft. Unter Ächzen versuchte er, sich aus ihren Fängen zu befreien. Aber sie hatte auf einmal so viele Arme, viel zu viele Arme, die ihn packten und umschlungen. Als er in den Spiegel blickte, sah er nicht mehr das Antlitz von Lilith, sondern eine schwarze Spinne, die ihm plump und fett auflauerte. Die ihre Giftklauen nach ihm ausstreckte, nach seinen Lippen tastete, um ihm einen Seelenkuss aufzuzwingen.

Die Schwarze Witwe schoss es ihm durch den Kopf. Die Schwarze Witwe war bekannt dafür, ihre Spielgefährten zu verschlingen.

Als er nach oben schaute, war sein Spiegelbild verschwommen, seine Augen weit aufgerissen, sein Mund ein schwarzer Tunnel, sein Körper umklammert von Liliths acht Armen, sein Fleisch durchbohrt von den Widerhaken ihrer vorderen Gliedmaßen.

Aber bevor der Schmerz ihn umspinnen konnten, fiel der Spiegel auf ihn herab, und kurz bevor das Glas zerbrach, sah er nicht mehr sein Gesicht im Spiegel, sondern das von Korban.

Die silbern glänzenden Scherben schnitten in sein Fleisch, Lilith verspritzte ihr Gift, und vor ihm im langen, finsteren Tunnel erschien Ephram Korban, der ihn anlächelte, in der Hand einen Löffel, der gekrümmt war wie die hektisch krabbelnden Beine einer Spinne.

»Zeit für eine Tasse Tee, Mr. Roth«, sagte Korban.