52. KAPITEL
Mason wünschte sich, er hätte eine Laterne mitgenommen, denn am Nachmittag hatte sich der Himmel plötzlich verdunkelt, schwere Wolken waren von Nordwesten wie die Rauchschwaden eines entfernen Präriefeuers hereingezogen. Wenigstens war er dem Haus und dem fragenden Blick von Miss Mamie entkommen. Er wollte nicht wieder in den Keller zurückkehren, zumindest so lange nicht, bis er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Anna hatte recht, er war besessen und dahinter steckte weit mehr als nur das Streben nach Lob und Anerkennung.
Er ging die Straße entlang in Richtung Scheune. Es war Zeit für Ransom, die Pferde zu füttern und zu striegeln. Vielleicht war Anna auch dort, um ihm zur Hand zu gehen. Wie Mason zog sie wahrscheinlich auch die Gesellschaft des alten Mannes aus den Bergen diesen lärmenden Nachtschwärmern auf dem Anwesen vor. Und sie war verrückt nach Pferden.
Wenn er sie sah, könnte er sich entschuldigen und Klartext reden. Vielleicht versuchen, sie zu verstehen. Sie wusste mehr als sie zugab und im Gegensatz zu den anderen Gästen hatte sie bemerkt, dass auf Korban Manor etwas wirklich Seltsames vor sich ging. Und die beiden hatte noch etwas anderes gemeinsam.
Obwohl sie geschickt versuchte, es zu vertuschen, wurde nämlich auch sie in ihrem tiefsten Inneren von unendlichen Qualen heimgesucht, unter ihrer scheinbar ruhigen Oberfläche loderte ein brodelnder Vulkan. Vielleicht schaute er aber auch einfach nur gern in ihre kobaltblauen Augen und hatte sich seinen Fantasien hingegeben. Seine Fantasie war für ihn schon immer Segen und Fluch zugleich gewesen. War sowohl seine Rettung vor einem Leben in der Textilfabrik von Sawyer Creek als auch der Dämon, der ihn bei vollem Bewusstsein drangsalierte und auch noch in unzähligen Träumen heimsuchte.
Er folgte dem Verlauf des Zaunes und hielt noch einmal inne, um zum Haus zurückzuschauen. Mehrere der Fenster waren beleuchtet, aber ein Großteil der Fassade war finster und nichtssagend. In der Ferne waren einige hohe Pianonoten zu hören. Er sah hoch zum Dach zu der flachen Stelle über den Giebelfenstern, wo das Geländer den Witwensteg abgrenzte. Ein paar Gestalten huschten hinter der weißen Brüstung hin und her, wahrscheinlich das Dienstpersonal, das mit den Vorbereitungen für die Party beschäftigt war. Mason verglich die reale Kulisse mit dem Gemälde aus dem Keller.
Es bestand kein Zweifel. In Wirklichkeit war alles noch viel gruseliger. Er kaufte es Anna nicht ab, dass sie noch niemals hier gewesen war, auch wenn Korban das Bild Jahrzehnte vor ihrer Geburt gemalt haben musste. Mason hatte sich ihr Gesicht gut genug eingeprägt, um zu wissen, dass es nur Anna sein konnte, die da oben in einem Kleid aus Spitze und mit einem Blumenstrauß in der Hand durch den Nebel lief.
Auch Miss Mamie schien das Bild nicht zu mögen. Fast hätte man denken können, sie fürchtete sich vor dem Gemälde, auch wenn sie Korban ganz offensichtlich verehrte. Er schüttelte den Kopf. Warum drängte sie ihn nur so hartnäckig darauf, dass er diese Statue fertigstellte? Sie war weit mehr erpicht darauf als Mason selbst, so als ob sie ihren eigenen Kritikern gerecht werden musste.
Er steckte die Hände in die Hosentaschen. Der Wald schien plötzlich näher und dunkler, als ob er in einem unbeobachteten Moment gewandert wäre. Aus einer Baumgruppe zu seiner Rechten heulte eine Eule auf. Er ging ein wenig schneller.
Fantasie.
Okay, Mase. Traumbild. Korban im Gehirn.
Der Traum war absoluter Schwachsinn, ein stinkender Haufen irgendeines Etwas, in das er gerade hineingetreten war. Er erblickte die Scheune, durch deren offenes Tor das schwache Leuchten einer Laterne drang. Mason hastete auf den Schuppen zu. Als er endlich dort angekommen war, sah er über dem Tor ein Hufeisen mit der Öffnung nach unten hängen. Er wusste nicht mehr genau, ob dies Glück bedeutete oder vor Geistern schützen sollte. Fast wünschte er sich, er hätte einen Lumpenball bei sich, mit dem er wedeln konnte.
Beinahe geräuschlos trat Mason ein, denn das auf dem Boden verstreute Heu dämpfte seinen Schritt. Er sah weder Ransom noch Anna. Es roch nach Ledergeschirr und Hirsefutter. Die gegenüberliegende Tür, die hinaus auf die Koppel führte, war abgeriegelt. Mason schluckte und wollte gerade nach Ransom rufen, als dessen Stimme irgendwo zwischen den Kutschen erklang: »Hau ab, George. Du hast keinen Grund, hier zu sein.«
Der Einspänner und die Kutschen warfen hohe Schatten an die Scheunenmauern. An den mit Holz verkleideten Wänden flackerten die Speichen der Wagenräder und die Zinken der Heuraupe als schwarze Linien auf. Als Ransom erneut sprach, sah Mason, wie er geduckt hinter einer der Kutschen hockte.
»Ich hab mir ein Zaubersäckchen besorgt, George. Das müsste dich eigentlich verschwinden lassen.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte Ransom auf den grauen, unebenen Boden.
War George nicht der Name des Mannes, der bei diesem Unfall getötet worden war? Hatte Ransoms Glaube an Geister und Zauberei schließlich dazu geführt, dass er nun vollkommen von Sinnen war?
Aber dann erblickte auch Mason George.
Und George sah wirklich tot aus. Seine ausgehöhlten Augen schauten ins Leere, seine Gestalt wirkte zerbrechlich, sein Armstumpf war nach oben gestreckt. George sah so tot aus, dass Mason durch ihn hindurch schauen konnte. Und George lächelte, als wäre der Tod das Beste, das ihm je widerfahren war.
»Ich wurde geschickt, um dich zu holen, Ransom. Mein alter Kumpel.« Die Worte schienen aus allen Ecken der Scheune zu dringen, brachten einen Haufen getrocknete Blätter zum Rascheln, die es im letzten Winter hereingeweht hatte. Mason lief es heißkalt über den Rücken, seine Kopfhaut prickelte, er hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden.
Denn das hier spielte sich nicht in seinen Träumen ab.
Dafür konnte er seine Fantasie nicht verantwortlich machen.
»Mach, dass du fortkommst, verdammt noch mal«, rief Ransom mit zittriger Stimme. Er richtete seinen Blick weiter starr auf dieses Ding namens George und bemerkte Mason nicht. George trat einen Schritt nach vorn.
Obwohl es ja eigentlich gar kein SCHRITT war, oder, Mason? Denn George bewegte nicht einen Muskel, sondern schwebte vielmehr wie eine Vogelscheuche, die sich auf ihrem Stab im Wind hin und her wiegte.
Die kalte Luft, die George verströmte, machte in der Beengtheit der Scheune die Atmosphäre noch frostiger. Mason war noch nicht bereit, dieses Ding da einen Geist zu nennen. Denn als er Anna erzählte hatte, er würde erst dann an Geister glauben, wenn er einen zu Gesicht bekäme, hatte er gelogen. Er glaubte immer noch nicht daran!
Und er konnte nicht glauben, was da von diesem George herabhing. Eine abgetrennte Hand mit milchigweißen Fingern, die sich abwechselnd beugten und streckten, als ob sie jemanden an der Kehle packen wollten.
»Komm schon, Ransom«, sagte die Stimme vom Totenacker. »Es tut nur eine Sekunde lang weh. Und so schlimm ist es da drin auch nicht, wenn du dich erst einmal an die Schlangen gewöhnt hast.«
»Warum, George? Ich habe dir doch nie etwas getan.« Ransoms Augen waren vor Angst und Schrecken weit aufgerissen. »Du warst doch ein guter, gottesfürchtiger Mann. Was ist nur mit dir geschehen?«
Das Blechdach der Scheune wurde von einem gellenden Lachen erschüttert. Masons Herz schlug einen Purzelbaum.
»Ich bin in den Tunnel geraten, alter Freund. Denn ich wollte es einfach wissen. Und nun werde ich dich mitnehmen. Korban mag es nicht, wenn man ihn warten lässt.«
Ein rostiges Quietschen war zu hören und die Heuraupe rollte nach vorn. Verängstigt blickte Ransom von links nach rechts und wieder von rechts nach links, verzweifelt suchten seine Augen nach einem Fluchtweg. Dann sah er Mason.
»Der Zauber wirkt nicht, Mason. Wie kommt es, dass der Zauber nicht funktioniert?«
George wandte sich in Masons Richtung, wieder ohne seine verkümmerten, knöchernen Glieder zu bewegen. »Wir haben ausreichend Platz da drinnen, mein Freund. Der Tunnel hat kein Ende.«
Ransom duckte sich zwischen die Kutsche und den Einspänner. Mason drehte sich um und rannte los. Zu spät. Das Scheunentor knarrte und schlug mit einem lauten Knall ins Schloss.
Mason eilte die Scheunenwand entlang und versuchte, den Abstand zwischen sich und dem Geist zu vergrößern. Du hast dieses Ding gerade GEIST genannt, Mason. Das ist kein gutes Zeichen. Am Einspänner angekommen ließ er sich auf die Knie fallen, die laut hörbar auf die Dielenbretter krachten. Er kroch zu Ransom. »Was zum Teufel ist das, Ransom?«
Ransom spähte panisch zwischen den Speichen des Wagenrades hindurch. Mason konnte nicht nur sehen, sondern auch riechen, wie viel Angst der Mann hatte.
»Das ist genau das, wovor ich dich gewarnt habe, mein Junge. Er gehört jetzt zu ihnen. Zu Korbans Pack.«
»Ich glaube nicht an Geister.«
Ransom umklammerte den Lumpenball in seiner Hand. »Das ist vollkommen egal, wenn die Geister an dich glauben.«
Mit erhobenen Armen schwebte die Gestalt nach vorn, der zerfetzte Stummel der Hand schwang mit jeder Bewegung mit. Mason starrte auf den Stumpf und fragte sich, ob ein Geist nicht eigentlich unversehrt sein sollte.
Geist—du hast es schon wieder einen Geist genannt, Mason.
Die Heuraupe quietschte, rollte aus ihrer Ecke heraus auf die beiden zu.
»Verpiss dich«, sagte der alte Mann mit hoher, gebrochener Stimme. »Ich habe meinen Abwehrzauber.«
»Komm aus deinem Versteck, Ransom. Ich will mit dir spielen.«, zischte das Ding. »Es wird hier drin so einsam mit keiner anderen Gesellschaft außer den Schlangen. Wir denken uns einfach einen Zauber aus und reden über alte Zeiten. Korban hat für uns alle Verwendung.«
Ransom hielt das Zaubersäckchen hoch. »Siehst du das hier? Da ist Echsenpulver, Schafgarbe, Natterwurz und Johanniskraut drin. Du müsstest eigentlich verschwinden.«
Wieder lachte George und die Traufen der Scheune wurden von einem weiteren Donnern geschüttelt. In den benachbarten Ställen wieherten die Pferde.
»Glaub nicht, was sie dir erzählen«, sagte George. »Das sind doch nur die Geschichten irgendwelcher alter Witwen. Es kommt doch nicht darauf an, was du glaubst, nicht wahr, Ransom?«
»Sondern darauf, wie viel man glaubt«, gab sich Ransom geschlagen. Er schaute auf den kleinen Baumwollfetzen mit den Kräutern und dem Pulver, der mit einem ausgefransten blauen Band zu einem Säckchen zusammengeschnürt war. Aus der Öffnung drang weißer Staub.
Mit einem Mal war Ransom aufgestanden und warf das Säckchen auf George. »Fang schon mal an zu beten, George!«
Mason, der vor Angst erstarrt war, wurde von einer seltsamen Faszination überflutet, als das Säckchen entknotet durch die Luft flog und sein Inhalt zu einer grün-grauen Staubwolke zerstiebte. Der Stoff wehte über dem Geist, vermischte sich mit dem ihn umgebenen Dunst, wurde von einem Luftzug, der durch die Türritze fuhr, aufgewirbelt und schwirrte dann um die Gestalt herum.
George leuchtete auf, verblasste für einen kurzen Moment und zischte wie eine Kerze, die jede Sekunde erlischt.
Menschenskind. Es funktioniert. ES FUNKTION—
Die Staubwolke aus Kräutern stiebte zu Boden und George rieb sich die Augen.
»Jetzt habt ihr mich aber wirklich wütend gemacht, ihr zwei«, meinte der Geist mit platter, kalter Stimme, während er wie Nebelschwaden aus den Ecken des Raumes hervorkroch. »Ich habe es auf die nette Tour versucht, Ransom. Nur du und ich. Zwei alte Freunde auf einem gemütlichen Spaziergang durch den langen Tunnel. Aber du hast mir ganz schön übel mitgespielt.«
George schüttelte seinen durchsichtigen Kopf und verursachte mit dieser Bewegung einen Lufthauch, der Mason das Blut in den Adern gefrieren ließ. Neben ihm hinter dem Wagenrad kauerte stocksteif und angespannt Ransom. Stück für Stück schwebte der Geist in ihre Richtung, war jetzt nur noch fünf Meter entfernt. Vier Meter. Drei Meter. Ein rostiges, metallenes Klappern hallte durch die Scheune.
George hielt seine amputierte Hand hoch. »Sie haben meine Schlaghand genommen, Ransom. Er hat sie mir genommen.«
Der Geist klang beinahe wehmütig, als ob er darüber verhandelte, einem nicht anwesenden Aufseher Folge zu leisten oder nicht. Doch dann leuchteten die tiefen Augenhöhlen auf, flackerten erst in Bronze und Gold, loderten dann orange, und das Gesicht verzerrte sich zu einem Antlitz, das kaum noch menschliche Züge an sich hatte. Es war eingefallen und verschrumpelt, wie eine vertrocknete Rinde mit Pockennarben an der Stelle, wo einst Augen waren. Erneut sprach der Geist, aber dieses Mal war es nicht die Stimme von George, sondern ein Stimmenwirrwarr, ein Chor dutzender verlorener Seelen. Tritt ein, Ransom. Wir warten auf dich.
Die Pferde traten gegen ihre Stalltüren. Draußen auf der Weide blökte ein Kalb. Der Einspänner und die Kutschen schaukelten vor und zurück. Die Laterne auf dem Boden bebte und an den Wänden krochen Schatten empor, die wie riesige Insekten aussahen.
Wieder hörte man das Kalb blöken, dann noch einmal. Die Geräusche, die das Tier von sich gab, stachen deutlich aus dem tonalen Chaos heraus.
»Das Kalb hat dreimal geblökt«, flüsterte Ransom. »Ein sicheres Zeichen des Todes.«
Mason hockte neben ihm, wollte ihn fragen, was um Himmelswillen hier passierte. Aber seine Zunge schien am Gaumen festzukleben. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Ransom schaute zu George, dann zur verschlossenen Tür, die viel weiter von ihm entfernt war.
Mason griff nach Ransoms Ärmel, fasste aber ins Leere. Ransom war aufgesprungen und losgerannt. Der Geist bewegte sich nicht, als Ransoms Stiefel über den Bretterboden hämmerten. Mason überlegte, ob er es auch darauf anlegen sollte. Mit wild rudernden Armen kämpfte sich Ransom in Windeseile vorwärts.
Er wird es schaffen!
Ransom war etwa zwei Meter von der Tür entfernt, als sich die Heuraupe ächzend auf ihn stürzte, wie eine Katze, die zum Sprung ansetzte. Man hörte das mühsame Knarren der Konstruktion aus Holz und Stahl, das Rudern der rostigen Zinken des Steinschwaders. Ransom drehte sich um und sah, wie die alte Landmaschine auf ihn zusteuerte. Seine weit aufgerissenen Augen flehten um Vergebung.
Er schaute verzweifelt zu Mason, der in diesem Moment wusste, dass er Ransoms Blick niemals vergessen würde, selbst wenn er George entkommen und einhundert Jahre alt werden würde. Ransoms Gesicht wurde bleich und fahl, als ob sich sein Blut tief in seine Organe zurückziehen würde, wo die Heuraupe keinen Schaden anrichten konnte. Seine Augen waren von Angst und Furcht durchnässt. Die ledrige Haut an seinen Wangen spannte sich, als er seinen Mund öffnete, um entweder zu schreien oder zu beten oder einen alten Zauberspruch aus den Bergen zu murmeln.
Dann kippte der Steinschwader nach vorn, spießte Ransom auf und drückte ihn nach hinten. Sein Körper knallte gegen die Tür, zwei Dutzend riesige Nägel schlugen in das Holz. Ransom gluckste und aus seinem Mund spritzte eine rote Fontäne. Seine Augen starrten in den Tunnel, in den ihn der Tod hineingezogen hatte.
Die Kutschen und der Einspänner stoppten abrupt ihre schaukelnde Bewegung, die Wände hörten auf zu vibrieren und die Luft wurde von einer plötzlichen Totenstille durchdrungen. Der Körper des alten Mannes hing schlaff von den Zinken herab wie ein rohes Stück Rinderkamm, das auf einer Gabel steckte. Mason zwang sich, den Blick von dem Blutbad abzuwenden. In der Laterne entfachte ein Feuer, als ob die Flammen von der Seele, die Ransoms Körper verließ, gespeist würden.
George schwebte auf Mason zu, der einen Schritt zurückwich.
»Du bist nicht hier«, sagte Mason. Er hob seine geöffneten Hände nach oben. »Ich glaube nicht an dich, also bist du auch nicht hier.«
Der Geist hielt inne und betrachtete sein eigenes seidig schimmerndes Fleisch. Dann schaute er zu Mason und grinste.
»Ich habe gelogen. Es kommt nicht darauf an, was wir glauben«, sagte er mit sanfter Stimme und glitt dabei einen weiteren Meter nach vorn. »Es kommt darauf an, was Korban glaubt.«
Er streckte die Hand aus, die Hand in der Hand, als wollte er Mason willkommen heißen. Kalt wie eine Hundeschnauze, leichenblass und nach Grabesdreck stinkend stand er da.
Mason drehte sich um, rannte los, wartete darauf, ebenfalls von der Heuraupe getroffen oder vom Geist gepackt zu werden. Polternd stolperte er über eine Lücke im Bretterboden und fiel hin. Er schaute hinunter zu seinen Füßen und sah die Falltür, die in den Rübenkeller führte.
Er schlängelte sich rückwärts, stieß die Klappe auf und kroch kopfüber hindurch. Dann griff er nach der ersten Sprosse der Leiter und zog sich in die feuchte Finsternis des Kellers. Wenn selbst Zauberei und Gebete nicht halfen, dann würde sich ein Geist wahrscheinlich auch nicht von einer Falltür aufhalten lassen. Doch er konnte nicht mehr rational denken, sondern befolgte nur noch die Befehle seiner Muskeln.
Als er zur Hälfte im Keller steckte, knallte die Klappe mit voller Wucht auf seinen Rücken. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Wirbelsäule und auf den Beinen spürte er ein leichtes Pochen, als ob etwas über ihn hinüber krabbelte.
Finger!
Er stieß und trat wild um sich, griff nach der zweiten Leitersprosse und hievte sich in die Dunkelheit. Für einen kurzen Moment fühlte er sich schwerelos, sein Magen drehte sich um und ihm wurde schwindlig. Dann fiel er nach unten, stürzte mit rasender Geschwindigkeit ins Nichts, ohne auch nur einen Schrei von sich geben zu können. Als er auf dem Kellerboden aufprallte, schnappte die Falltür über ihm zu. Die Luft war aus seinen Lungen gewichen, aber das war nicht weiter tragisch, denn er war sich nicht sicher, ob er seit seiner Ankunft in der Scheune überhaupt einen Atemzug getan hatte.
Bis auf ein paar Lichtschimmer, die durch die Ritzen im Boden des Keller fielen, war es hier unten stockdunkel. Als Mason probierte, ob er seine Arme noch bewegen konnte, hörte er etwas zu Boden plumpsen. Er griff nach vorn und ertastete einen Gegenstand. Als er ihn tastend genauer untersuchte, dämmerte es ihm, dass er in einer Kiste mit Süßkartoffeln gelandet war.
Mason rollte sich auf die Füße und versteckte sich dann hinter der Kiste. Er versuchte sich daran zu erinnern, was Ransom ihm über eine weitere Tür am Ende des Kellers und den Tunnel erzählt hatte, der zurück zum Haus führte. Vielleicht war George schon hier unten? Wie gut können Geister eigentlichen im Dunkeln sehen?
Er vernahm ein lautes, schweres Hämmern und dachte erst, es wären Schritte, realisierte dann aber, dass es sein eigener Puls war, der in seinen Ohren pochte. Über ihm war es still, es roch nach Erde und süßen Äpfeln. Mason versuchte, den Grundriss des Kellers zu erahnen und herauszufinden, wo der Ausgang war, doch in der Finsternis hatte er jeglichen Orientierungssinn verloren.
Er befand sich wieder an der Leiter und überlegte, ob er den Keller wieder über die Falltür verlassen sollte. Was würde da oben auf ihn warten? Die rot tropfenden Zinken der Heuraupe? George, der ihm hilfsbereit die Hand reichte? Und schließlich der vollkommen durchlöcherte Ransom, der jetzt einer von ihnen war, wer oder was auch immer sie waren?
Er dachte an Anna, ihre bescheidene Selbstsicherheit, ihre verborgene innere Stärke, die sie als Unnahbarkeit nach außen kehrte. Sie behauptete, sie würde Geister verstehen und hatte sich über Ransoms Aberglaube nicht lustig gemacht. Sie würde beim Anblick eines Geistes nicht ausrasten. Sie würde wissen, was zu tun ist. Wenn sie jetzt nur hier wäre! Andererseits fragte er sich, was ein Lebender eigentlich wirklich über Geister wissen konnte.
Seine rasenden Gedanken wurden von einem leisen Geräusch durchbrochen, das Mason zunächst für das Quietschen der Heuraupe oben in der Scheune hielt. Aber es klang nicht nach rostigem Metall.
Es klang wie das Rascheln von Fingern auf einem Stück Stoff.
Die Hand.
Er stieß und schlug um sich und noch mehr Süßkartoffeln purzelten auf den kalten, dreckigen Boden.
Abermals vernahm er die Geräusche, jetzt von allen Seiten, aus allen Richtungen. Das konnten keine Geister sein, dafür waren es zu viele.
Dann erkannte er das Geräusch, ein Geräusch, das ihm von seinem Leben neben der Mülldeponie von Sawyer Creek vertraut war.
Es war kein Quietschen, es war ein Quieken.
Ratten.