27. KAPITEL
Mason wachte pünktlich nach dem Mittagessen auf. Sein Mund fühlte sich an, als würde eine schmutzige Socke darin stecken. Irgendjemand hatte das Feuer geschürt, während er geschlafen hatte. Er zog sein anderes Paar Jeans und ein schlichtes, rotes Flanellhemd an. Er putzte sich die Zähne, dachte an die Büste und fragte sich, ob er sie wirklich in nur einer einzigen Nacht vollendet hatte.
Er betrachtete sein Spiegelbild. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle, keilförmige Schatten ab. Er war es nicht gewöhnt, zu untypischen Zeiten ins Bett zu gehen. Für gewöhnlich hielt er sich was seine Arbeit anging an die Theorie von »Ruhe und Gemach«, doch er war ja auch noch nie von einem solch kreativen Sturm erfasst worden wie bei der Schaffung dieser Büste. Kein Wunder, dass so viele der sogenannten »echten Visionäre« schon in jungen Jahren abstürzten und vor die Hunde gingen.
»Oh yeah, ich bin ein echter Visionär, ganz recht«, sagte er zu seinem verschlafenen Spiegelbild. »Ein Doppelvisionär.«
Sein Spiegelbild flimmerte ein bisschen und er rieb sich die Augen. Eine Welle der Benommenheit erfasste ihn und er streckte die Hände aus, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. Mit einer Hand hielt er sich am Waschbecken fest, die andere presste er gegen den Spiegel. Das Glas unter seiner Handfläche fühlte sich warm an. Für einen kurzen Augenblick sah Mason die von ihm geschaffene Büste anstelle seines Spiegelbildes. Dann war die Halluzination vorbei. Mason runzelte die Stirn und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Es war schlimm genug, dass er Korban überall auf Leinwand begegnete, aber wenn sich der Kerl jetzt nonstop vor seine Augen schob, war es vielleicht an der Zeit, ein bisschen Abstand zu gewinnen. Oder einen Psychiater aufzusuchen.
In den oberen Stockwerken war alles ruhig. Während er die Treppe hinunterging, hörte er klirrende Geräusche, die seiner Schlussfolgerung nach aus der Küche kamen. Einige Dienstmädchen hatten Lebensmittel durch die Tür links neben der Treppe gebracht. Er fragte sich, ob wohl jemand etwas dagegen hätte, wenn er sich dort heimlich einen kleinen Snack holte.
Mason steckte den Kopf durch die Schwingtür. Am Spülbecken kämpfte eine füllige Frau mit mürrischem Blick mit einer gusseisernen Bratpfanne. An einer ihrer Wangen klebte ein kleiner Schaumbatzen.
»Hallo, gnädige Frau«, sagte Mason. »Ist es in Ordnung, wenn ich mir schnell ein Sandwich nehme?«
Sie starrte ihn an, durch ihn hindurch. Er schaute zurück über seine Schulter. Als er sich wieder umdrehte, nickte sie kurz hinüber zu einem Tresen neben dem Herd. Auf einem Schneidbrett lag ein selbst gebackenes Weißbrot, drei oder vier Scheiben waren schon abgeschnitten.
Der Großteil des Mittagessens war bereits abgeräumt worden, doch der verführerische Duft gebratener Forelle hing noch in der Luft. Mason ging einen langen Küchenherd mit dickem Metallrost entlang. An jeder Seite befand sich eine Tür, durch die das Feuer geschürt werden konnte, und in der Mitte eine große breite Luke, hinter der sich ein Backofen verbarg. In der Nähe der Ecke stand ein kleinerer Ofen, dessen Rohr nach oben verlief, einen Knick machte und in der Wand verschwand. Mason staunte, dass überhaupt jemand in der Lage war, mit diesen primitiven Gerätschaften zu kochen. Und wenn er erst an die aufwendigen Festmahle dachte, die für die verwöhnten Gäste des Hauses zubereitet werden mussten …
Mason nahm sich zwei Scheiben Brot. »Haben Sie etwas, mit dem ich die hier belegen kann?«
Die Köchin sah ihn finster an und wischte ihr Fleischermesser mit einem Handtuch ab. »Dort drüben, im Kühlschrank«, antwortete sie mit schwerem bayerischen Dialekt und zeigte mit dem Messer auf etwas, das aussah wie eine gedrungene Kommode mit Türen anstelle von Schubladen.
Mason öffnete eine der Türen, woraufhin sich ein Nebel kühler Luft über sein Gesicht legte. In den Metallregalen sah er einige Eier, die in einem Korb aufbewahrt wurden, einen dicken Laib Käse, einen Krug mit Sahne, ein Stück gekochten Schinken mit Knochen und verschiedene Früchte und Gemüsesorten. Im obersten Fach lag ein Eisblock, dessen Ecken durch das Schmelzen bereits abgerundet waren. Wasser tropfte in einen Auffangbehälter am Boden des Kühlschranks.
Mason nahm Käse und Schinken heraus und legte sie auf den Tresen, dann zog er ein kleines Messer aus einem Holzblock heraus. Er schnitt von beidem ein paar Scheiben ab und stapelte sie auf eine der beiden Brotscheiben. Dabei konnte er die ganze Zeit spüren, wie sich die Augen der Köchin in seinen Rücken bohrten.
»Keine Sorge, ich mach das wieder sauber.« Doch auch Masons Lächeln brachte keine Veränderung in ihren harten Augen hervor. Er zupfte ein paar Blätter von einem Eisbergsalat ab und legte sie auf sein Sandwich. Dann platzierte er die andere Scheibe Brot auf seinem Werk und drückte es mit der Handfläche flach.
»So machen wir das unten in Sawyer Creek«, erklärte er, während er herzhaft hineinbiss.
Die Köchin legte die Stirn in Falten und wandte sich wieder dem schmutzigen Geschirr zu. In diesem Moment entdeckte Mason das Gemälde an der Wand über der Tür. Noch ein Porträt von Korban. Auf diesem lag sein Gesicht in tiefen Schatten, seine Augen waren genauso kalt wie auf den anderen Gemälden. Gab es in diesem Haus eigentlich einen Raum, der nicht von dem unerbittlichen, düsteren Blick dieses Mannes beherrscht wurde?
Auf dem kleinen Küchenherd stand eine Kaffeekanne. Neben dem Waschbecken waren Tassen aus Keramik an mehreren Haken an einer Stange aufgehängt. Mason trat um den Tresen herum, um sich eine davon zu nehmen.
»Entschuldigung«, sagte er, als die Köchin zurückwich. Mason verlor das Gleichgewicht, was wohl immer noch auf seinen Schlafmangel zurückzuführen war. Er streckte eine Hand aus, um nicht auf sie zu fallen.
Als er ihre Schulter berührte, schrie sie auf und ließ einen Teller fallen, der auf dem Fußboden in tausend Stücke zerbarst. Mason trat zurück und schaute seine Hand an.
Nein. Das konnte nicht passiert sein.
Die Tür schwang auf und Miss Mamie trat ein. Ihre Miene ähnelte der einer Bulldogge, die jeden Moment wütend zuschnappen würde.
»Verzeihung, es war meine Schuld«, sagte Mason. Gerade wollte er versichern, dass er für das zerbrochene Geschirr aufkommen würde, als ihm einfiel, dass er kein Geld hatte.
»Gertrude?«, fragte Miss Mamie. Während das Gesicht der Köchin schneeweiß wurde, schienen ihre Augen sich noch mehr zu verdunkeln. Sie schielte hinauf zu Korbans Porträt, das über dem Spülbecken hing.
»Wirklich, es war meine Schuld«, wiederholte Mason. »Ich wollte mir nur eine Tasse—«
»Gäste sind im Küchenbereich normalerweise nicht erlaubt, Mr. Jackson. Aus Gründen, die Sie bestimmt verstehen werden.«
»Oh, sicher. Ich wollte gerade gehen.« Er nahm sein Sandwich und ging zur Tür.
»Geh wieder an die Arbeit, Gertrude«, sagte Miss Mamie. Sofort tauchte die Köchin ihre Arme wieder in das seifige Abwaschwasser. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Nicht einmal die Scherben fegte sie auf.
Miss Mamie hielt Mason die Schwingtür auf und folgte ihm dann in den Korridor. »Wie gefällt es Ihnen, im Keller zu arbeiten?«, fragte sie. Sie hatte wieder ihre fröhliche Stimmlage aufgelegt, als wäre der Vorfall in der Küche niemals geschehen.
»Es ist perfekt«, erwiderte Mason, während er weiter den Gang hinunterlief. Er fühlte sich noch immer etwas unbehaglich. »Der Keller ist abgeschieden, ich habe meine Ruhe und genug Platz, um meine Ellenbogen in alle Richtungen zu schwingen. Und die Wände und der Fußboden sind isoliert, sodass ich mir keine Sorgen machen muss, irgendjemanden zu stören.«
»Reizend«, sagte Miss Mamie. »Master Korban wäre sehr erfreut.«
»Es wird nur ein wenig warm da unten.«
»Nun ja, wir müssen das Feuer einfach am Laufen halten. Schließlich rühmen wir uns damit, rund um die Uhr über warmes Wasser zu verfügen.«
»Sicher, ich verstehe. Es ist ja nicht so, dass ich es nicht ertragen würde. Das schlimme ist nur, dass ich schwitze und anfange zu stinken und ich möchte die anderen Gäste ja nicht verjagen.«
»Genau aus diesem Grund haben wir warmes Wasser, Mr. Jackson.«
Mason war an der Tür zur Kellertreppe angelangt. Er musste jetzt da runter gehen und nachschauen, ob er Korbans Büste wirklich gemeißelt hatte oder die letzte Nacht nur ein Traum gewesen war. Er fragte sich, ob Miss Mamie ihm folgen würde.
»Nun, ich schätze, wir sehen uns zum Abendessen«, sagte er, während er an der Tür wartete.
Sie legte eine ihrer kalten Hände auf seinen Arm. »Sie werden heute Abend noch mehr Holz bekommen. Ich werde veranlassen, dass Ransom den Wagen ankoppelt.«
»Ich muss vorher etwas fertig stellen.«
»Oh, ich dachte Sie würden eine Statue in Lebensgröße anfertigen.«
Mason durchforstete sein Gedächtnis. Hatte er etwas in dieser Art erwähnt? Eine menschliche Figur? Hatte er über so etwas überhaupt nachgedacht? Vielleicht nahmen seine Traumvorstellungen übergroße Dimensionen an, sodass er von ihnen sprach, bevor er überhaupt mit der Arbeit anfangen konnte.
»Ja, über so etwas habe ich nachgedacht«, meinte er schließlich.
»Sie werden erfolgreich sein. Aber Sie müssen das Feuer in sich haben. Master Korban hat immer gesagt: ›Harte Arbeit ist Belohnung genug.‹ Sie wissen doch, was man über untätige Hände sagt.«
Mason hob die Hand hoch, mit der er das Sandwich festhielt. »Dann gehe ich jetzt wohl besser an die Arbeit.«
Miss Mamie schaute erwartungsvoll, als er nach dem Türknauf griff. Mason wollte sein Werk niemandem zeigen, bevor er sich nicht ganz sicher sein konnte, dass es fertig war.
»Und ich spreche mit Ransom wegen des Holzes«, sagte er und schlüpfte durch die Tür. Er zog sie hinter sich ins Schloss und geriet in der plötzlichen Dunkelheit ein wenig ins Stolpern. Nachdem er Zentimeter um Zentimeter die Treppe hinuntergestiegen war, hatten sich seine Augen an das wenige Tageslicht gewöhnt, dass durch die kleinen, hochgelegenen Fenster sickerte.
Er erreichte die Werkbank und hob das Leintuch hoch. Vom Tisch aus starrte ihn Korban an.
Nein, nicht Korban. Nur ein extrem detailliertes Replikat.
Doch für einen kurzen Moment …
Ruhig, Junge. Du hattest nur ein bisschen wenig Schlaf. Das ist alles.
Dann schaute Mason auf seine Hand hinunter und erinnerte sich, wie es sich angefühlt hatte, die Köchin zu berühren. Die Hand war durch die Köchin hindurchgegangen.
Er erinnerte sich, wie seine Hand in ihr Fleisch eingedrungen war, als bestünde sie aus durchnässtem Weißbrot. Er erinnerte sich, wie seine Hand gebrannt hatte.
Ok, du leidest also nicht nur an Schlafmangel. Du musst dir letzte Nacht selbst eins mit dem Meißel auf den Kopf gehauen haben.
Vielleicht war sein Hunger ja der Übeltäter. Er biss noch einmal von seinem Sandwich ab.
Ja, Hunger. Er sollte sich während seines Aufenthalts hier lieber ein bisschen Winterspeck zulegen. Es könnten schlechte Zeiten auf ihn zukommen.
Es sei denn, er brachte weitere Werke wie dieses hervor.
Die Büste war ein solider Beweis seiner Begabung. Exakte, lebensechte Details. Jede einzelne Wimper fein definiert. Die Lippen zwischen dem dicken Vollbart zu einem leichten Lächeln geschwungen, jederzeit bereit, sich zu öffnen und zu sprechen. Selbst als er sich abwendete, hatte er das Gefühl, dass die Augen ihn beobachteten.
In der Ecke fand er einen alten Besen und fegte die Holzspäne zu einem kleinen Haufen zusammen. Plötzlich fiel sein Blick auf das an den Schrank gelehnte Ölgemälde. Er hatte völlig vergessen, Miss Mamie danach zu fragen.
Mason nahm die vollendete Abbildung des Hauses in die Hand. Er hielt sie so hoch, dass er die Pinselstriche im Tageslicht bewundern konnte. Ja, wunderschön, wenn der Künstler doch nur den kleinen Schandfleck behoben hätte.
Der Fleck war größer geworden, seit er ihn letzte Nacht entdeckt hatte. Der graue Bereich hatte sich so weit ausgedehnt, dass er über zwei Pfosten der Brüstung ragte.
Es musste an der Farbe liegen. Doch Mason hatte noch nie von einer Ölfarbe gehört, deren Zustand sich so schnell verschlechtern konnte. Obwohl die Farbe getrocknet war, konnte sie alles andere als antik bezeichnet werden.
Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
Der sich auf unnatürliche Weise ausdehnende Fleck, Ransom und seine Talismane, Anna und ihre Andeutungen in Bezug auf Geister, die unheimliche Lilith, die substanzlose Köchin. Klar, er konnte alle diese Dinge auf seine blühende Fantasie schieben. Doch es war besser, die Schuld bei seinem alten, immer einsatzbereiten, allzeit beliebten Favoriten zu suchen.
Dem Stress.
Mason aß sein Sandwich auf, obwohl er keinen Appetit mehr hatte. Diese Büste war nicht sein Meisterstück. Miss Mamie hatte recht. Größer war besser.