58. KAPITEL

Anna hatte das Gefühl, wieder in einem dieser Träume zu sein, die ihre Nächte im vergangenen Jahr ausgefüllt hatten. Wie so viele Male zuvor in diesem verlorenen Reich des Schlafes ging sie vom Wald aus auf das Anwesen zu. Die bedrückende Silhouette des Hauses entschleierte sich zwischen den Bäumen, die das Gelände wie Wachhunde umzingelten. Die Fenster wirkten wie Augen, die trotz der vielen Feuer im Inneren des Gebäudes kalt und starr blickten. Die Schornsteine atmeten den Rauch der Vergänglichkeit, ragten in den Himmel empor als Sinnbild für die Umwandlung von Materie in Energie, verkörperten den Übergang des Essenziellen in Wärme. Aus dem Vordereingang drang ein Flüstern, das wie ein sanfter Willkommensgruß klang. Die dahinter wartende Dunkelheit versprach Ruhe und Frieden.

Doch dieser Wachtraum hatte Züge an sich, die neu waren, die bei all den anderen zuvor nicht aufgetaucht waren. Fast so, als ob sie nicht mehr nur sechs Sinne hätte, sondern auch noch einen siebten. Das Gras unter ihren Schuhen wuchs dicht, der Boden war mit glitzerndem Frost überzogen. Der Himmel war glasklar so weit das Auge reichte, wirkte in seinen fliederfarbenen und bordeauxroten Schattierungen wie mit einem großen, struppigen Pinsel gezeichnet. Der Wind hatte sich mit einem Seufzen gelegt, die kühle Luft hatte sich als unmissverständliches Zeichen für die Kapitulation des Herbstes manifestiert. Das Anwesen wartete auf sie. Ephram Korban wartete auf sie.

Ist dies der Ort, wo ich hingehöre? Komme ich wirklich nach Hause?

Sylva meinte, dass Anna wie Brennstoff wäre. Dass Korban sie brauchte, sie benutzen und ihre Seele aufzehren würde, sodass nichts weiter übrig bliebe als ein Haufen Asche.

Aber was machte das schon? Sollten doch ihre Liebe, ihr Hass, ihre Wut und ihr Stolz aus ihr in das Haus entweichen. Sollten ihre Gefühle doch Ephram Korban gehören. Niemand anderes scherte sich schließlich darum.

Sie musste lachen, taumelte, als sie über die Veranda schritt, wurde von der schieren Energie des Hauses übermannt, ließ sich von der Wärme einlullen. Nach Hause kommen. Zuhause ist dort, wo das Herz wohnt.

Miss Mamie wartete schon. Sie öffnete die Tür, trat zur Seite und winkte sie herein. »Ephram erwartet Sie bereits.«

Anna fühlte sich betrunken. Selbst die gewohnten Schmerzen verebbten, das Feuer, das der Krebs in ihr entfacht hatte, erlosch. Sie würde alles von sich opfern. Korban könnte ihre Schmerzen haben, ihre Einsamkeit, ihr Gefühl, niemals irgendwohin gehört zu haben. Guten Appetit.

Ja, sie war nach Hause gekommen. Dieser Ort hatte ihre Seele geöffnet, hatte es ihr ermöglicht, Geister zu sehen. Hatte ihr gegeben, was sie sich wünschte. Hier könnte sie glücklich und zufrieden sterben.

»Sie sehen heute Abend besonders reizend aus, Anna«, meinte Miss Mamie und die Worte klangen weit weg. Am Ende des Foyers knisterte das Feuer. Anna schaute zum Porträt von Korban über dem Kamin. Großvater. Mit leuchtenden, herzlichen Augen.

Wieso hatte sie sich bloß dagegen gewehrt, die Familie wieder zusammenzuführen? Möge der Kreis ungebrochen sein. Machte es irgendetwas, dass einige von ihnen lebten und andere tot waren? Machte das denn wirklich einen Unterschied?

Eins, eine Trennlinie.

Dann Null. Nichts. Alle gleich.

Anna betrachtete das Haus auf einmal mit anderen Augen. Die Säulen, die Ecken, die Schnitzereien am Kamin, die rotbraunen Vertäfelungen, die polierten Eichenböden. Sie machte Korban keinen Vorwurf, dass er dieses wunderschöne Fleckchen Erde niemals verlassen wollte. Schließlich wollte sie es jetzt genauso wenig verlassen.

»Sie kommen gerade rechtzeitig zur Party«, sagte Miss Mamie. »Oben auf dem Witwensteg.«

Brennstoff.

Das Gemälde.

Irgendetwas an dem Gemälde. Sie hier am Feuer. Mason.

»Was ist los, meine Liebe?« Mit ihrer kalten Hand berührte Miss Mamie Annas Wange. »Sie werden mir doch nicht krank?«

»Wo ist Mason?«

»Der Bildhauer? Er ist gerade beschäftigt, aber er wird schon bald bei uns sein. Sobald er fertig ist.«

Anna ließ sich zur Treppe geleiten. Irgendetwas an den Wänden kam ihr seltsam vor, irgendetwas, an das sie sich erinnern sollte. Sie stiegen die Stufen hinauf, Miss Mamie vorneweg. Als sie das zweite Stockwerk erreichten, schaute Anna den Korridor hinunter zu ihrem Zimmer. Die sternenförmigen Leuchter an der Wand schienen abwechselnd heller und dunkler zu leuchten, als ob sie von langsamen, gleichmäßigen Atemzügen gespeist wurden.

Sie gelangten in die dritte Etage. Anna kam dieser Gebäudeteil zunächst unbekannt vor, sie konnte sich jedoch dunkel daran erinnern, in der Vergangenheit schon einmal hier gewesen zu sein. Die Wände waren mit billigem Kiefernholz verkleidet. Gemälde suchte man hier vergeblich. Es gab Türen, die wahrscheinlich zu weiteren Schlafgemächern führten. Ganz hinten am Ende der Korridore sah man jeweils ein Giebelfenster. Eine Laterne auf dem handgefertigten Tisch nahe dem Treppengeländer war die einzige Lichtquelle in diesem Geschoss.

Die Laterne.

Mason hatte genau so eine im Keller gehabt.

Wo war Mason? Sie versuchte sich sein Gesicht vorzustellen, aber wie alles andere auch hatte sich die Erinnerung daran im Dunstschleier in ihrem Kopf aufgelöst. Die Wände bebten, blähten sich auf, zogen sich zusammen. Das Haus bewegte sich im Rhythmus ihres Atems. Ihr wurde ganz schwindelig und Miss Mamie lehnte sie an eine kleine Leiter.

Anna schaute nach oben durch die Luke, zu den Wolken, die den blau-silbernen Schimmer des aufgehenden Mondes verschlangen. Der Witwensteg. Das Dach hoch oben am Ende der Welt. Wo ihr eigener Geist auf sie wartete.

Sie zwang ihre Arme und Beine, ihr zu gehorchen und stieg hinauf. Es war an der Zeit, ihrem eigenen Ich zu begegnen.