42. KAPITEL
Mason wischte sich den Schweiß von der Stirn. Obwohl er sein Shirt ausgezogen hatte, war ihm noch immer zu heiß. An seiner Brust und an seinen Armen klebten Eichenspäne. Die Schmerzen in seinen Schultern hatten sich in ein dumpfes, stetiges Hämmern verwandelt, dass nur noch ganz leise in seinem Hinterkopf zu hören war.
Sein Bildhauermeister in Adderly, Dennis Graves, hatte ihm einst erklärt, dass Ausdauer das Fundament jeder Art von Kunst bildet. Und so hatte Masons erste Aufgabe auch darin bestanden, die Buchstaben des Wortes »Ausdauer« in ein Stück Kiefernholz zu schnitzen. Sein noch unbeholfenes Erstlingswerk hatte einen Ehrenplatz auf dem Fernsehgerät seiner Mutter gefunden. Voller Stolz hatte er es ihr damals überreicht, fast so wie ein Kindergartenkind, das ein selbst gemaltes Bild mit nach Hause bringt. Das war, bevor sie blind wurde. Doch auch nachdem sie ihr Augenlicht verloren hatte, hielt sie sein Geschenk noch oft in ihren Händen und strich mit den Fingern über die Buchstaben.
Eines Tages würde er ein weiteres Wort nur für sie in ein Kunstwerk verpacken: »Träume«.
Für ein so gewichtiges Wort brauchte man aber das passende Material, damit es nicht hölzern wirkt. Etwas Strapazierfähiges wie Bronze oder Kupfer. Vielleicht sogar Granit.
Mit Beil und Queraxt hatte Mason die grobe Form aus dem Klotz gehauen. Durch die schmalen, hohen Fenster im Keller sah er, wie sich der Himmel verdunkelte, wusste aber nicht, ob das bedeutete, dass es bald regnen würde oder dass die Nacht hereinbrach. Schon lange hatte er jegliches Zeitgefühl verloren.
Er nahm nun Meißel und Hammer zur Hand, um das Eichenholz Stück für Stück abzuschaben. Die einzelnen Schichten der Maserung ließen sich mühelos abtragen, so als ob sie es selbst kaum erwarten könnten, endlich zu ihrer wahren Form und Bestimmung zu finden. Viel zu schnell offenbarte sich die Statue und es war kaum zu glauben, dass er so rasch vorwärts kam. Es fühlte sich beinahe so an, als ob sich sein Schaffensdrang im Holz anhäufte, um dann mit geballter Kraft durch das Werkzeug in seine Hände zurückzufließen.
Klar, Mason. Egal, was du denkst. Es geht um künstlerische Freiheit.
Und sieh mal hier, die breiten, kantigen Schultern. Und die Arme, einer quer über den Bauch, der andere hinter dem Rücken. Eine aristokratische Körperhaltung. Ein Mann, der weiß, was er wert ist.
Die ungenutzten Räumlichkeiten im Keller verschluckten den Klang von Metall auf Metall und Metall auf Holz.
Komm und zeig dich, Korban. Ich weiß, dass du da drin bist, irgendwo da drin in diesem gottverdammten Stück Eiche. SING für mich, du wunderbarer alter Bastard. Erwache und beweg dich.
Eine Ladung Sägemehl schleuderte Mason entgegen, direkt ins Gesicht. Instinktiv kniff er die Augen zusammen. Er rammte die Schneide des Meißels an die Stelle neben dem linken Arm der Statue. Ausdauer. Träume.
Er hatte noch ein Wort für Dennis Graves.
Seele.
Wer keine Seele hatte, war verloren. Das Material musste eine Seele haben. Aus einem Stein konnte man keine Seele herausschlagen, wenn keine vorhanden war. Die Seele musste schon immer existiert haben, nur darauf wartend, dass der Künstler sie an die Oberfläche beförderte.
Die Seele atmete, blies ihm aus den vier Ecken des Raumes entgegen. So entstanden Traumbilder. Es waren nicht wirklich neue Ideen oder Visionen, nein, es waren Dinge, die schon existierten, die einfach nur für den menschlichen Geist enthüllt werden mussten.
Okay. Okay. Schluss mit den Flusen im Kopf.
Jetzt ist dein künstlerischer Ehrgeiz gefragt. Dieses ganze Geschwafel nützt dir vielleicht was, wenn du entdeckt worden bist. Du steigerst dich da gerade in etwas hinein und kannst einfach nicht aufhören. Wahrscheinlich hättest du dir mal eine Pause gönnen sollen.
Aber DU KANNST NICHT AUFHÖREN.
Mason runzelte die Stirn und trieb den Meißel in die Flanke der Statue. Seiner Meinung nach war es kein gutes Anzeichen, wenn man anfing, mit sich selbst philosophische Debatten zu führen. Er sollte eigentlich in einem Zustand kreativer Trance sein. Er wollte es, er suchte danach, er betete zu den Göttern, dass sie ihm die erhofften Träume schickten.
Er betrachtete die Büste von Korban und glaubte ihn lächeln zu sehen. Die hölzernen Lippen öffneten sich: »Warum kannst du denn nicht aufhören?«
Ich kann jederzeit aufhören, wenn ich nur will.
»Selbstverständlich. Ich glaube dir, Mason.«
Wissen Sie, man kann Kreativität nicht einfach nach Lust und Laune an- und abschalten. Wenn man einmal in der richtigen Stimmung ist, muss man sich gehen lassen. Wenn die Muse zum Tanz auffordert, nimmt man ihre Hand und folgt ihr auf die Tanzfläche.
»Gut, gut. Wir wollen nicht streiten. Aber beweise mir doch, dass du aufhören kannst.«
Okay. Aber ich möchte Sie vorwarnen, dass die Muskeln in meinen Schultern, Armen und Fingern vor Schmerzen schreien werden, denn sie stehen unter einer noch größeren Spannung als die Fäden auf den Garnrollen in der Fabrik. Außerdem tue ich das hier für Mutter und nicht für mich.
»Ausreden, nichts als Ausreden«, erwiderte die Büste.
Ich werde es Ihnen beweisen. Sehen Sie …
Mason drosch wie wild auf den Meißel ein. Ein fünf Zentimeter langes Stück dunkelrotes Holz löste sich von der Stelle, die einmal Korbans linke Kniescheibe sein würde. Er setzte die Schneide erneut an und hob den Hammer für einen weiteren Schlag.
Die Büste lachte und machte dabei Geräusche, die an eine Horde Nagetiere erinnerten. »Du hörst immer noch nicht auf.«
Ist ja schon gut. Und jetzt gehen Sie mir nicht mehr auf die Nerven. Ich muss mich nur erstmal an den Gedanken des Aufhörens GEWÖHNEN.
Mason zog einen weiteren Streifen Eiche ab und schaute dann auf sein Werkzeug, das auf dem Boden zwischen den ganzen Spänen zerstreut lag.
Sehen Sie? Ich kann meinen Blick lösen, wenn ich will. Machen wir ein kleines Experiment. Ich denke einfach mal an etwas anderes als die Statue von Ephram Korban. Nehmen wir zum Beispiel die bezaubernde Anna Galloway …
Mason hielt inne, auf seiner Nasenspitze hing ein Schweißtropfen.
»Aha, es ist also die gute Anna, die dein Herz höher schlagen lässt«, sagte die Büste. »Weißt du was, du kannst sie haben. Sobald du hier fertig bist. Du hast mein Wort. Und ich halte immer mein Wort.«
Mason biss die Zähne zusammen und ließ den Hammer besonders kraftvoll schwingen. Er konnte jederzeit aufhören, wenn er es wollte. Er wollte jetzt nur nicht an sie denken. Wollte nicht nachdenken, nicht nachdenken, nicht nachdenken—
»Sagen Sie mal, mit wem reden Sie denn da?«
Mason schleuderte den Hammer, als ob er einen Angreifer abwehren wollte. William Roth sprang zurück, seine grauen Augen vor Schreck weit aufgerissen. Beinahe ließ er die Kanister in seinen Armen fallen.
»Ganz ruhig!«
Mason ließ den Hammer sinken. Der Bann war gebrochen. »Tut mir leid. Ich habe mich wohl gerade ein wenig vergessen.«
»Ein wenig erscheint mir wohl ein bisschen untertrieben. Haben Sie ohne Pause an diesem Ding da gearbeitet?«
Mason nickte. In seinen Schulterblättern zwickte und zwackte es, allmählich machten sich die Schmerzen bemerkbar. Er rieb sich den rechten Oberarm.
Roth schaute an Mason vorbei zur Statue. »Meine Güte, haben Sie das alles in der kurzen Zeit geschafft? Sie können es ja mit einer ganzen Bibermeute aufnehmen.«
Mason versuchte, die Statue mit den Augen von Roth zu betrachten. Alle Extremitäten stachen deutlich aus der Holzmasse hervor, die menschlichen Formen waren bereits zu erkennen. Dem Kopf fehlten noch die charakteristischen Gesichtszüge, aber die Proportionen stimmten mit dem restlichen Körper überein. Die Beine ragten kräftig und entschlossen aus dem Sockel hervor.
»Es wird langsam«, sagte Mason. »Ich habe Miss Mamie versprochen, dass es toll werden würde.«
»Warum die Eile? Wenn Sie in dem Tempo weitermachen, werden Ihre Finger noch taub.«
»Sagen Sie mal, kann ich Sie um einen Gefallen bitten?«
»Erst wenn Sie diesen Hammer nicht mehr in der Hand halten.«
Mason legte den Hammer auf den Tisch neben der Büste. »Schauen Sie sich mal dieses Bild an.«
Roth stellte seine Kanister auf den Tisch und Mason hob das Gemälde ins Licht.
Roth spitzte anerkennend die Lippen. »Ein beachtliches Werk.«
»Was sehen Sie da oben in dem Fleck auf dem Dach des Hauses? An der Brüstung des Witwenstegs?«
Roth beugte sich näher heran und starrte auf die Schatten. »Sieht für mich aus wie Menschen. Ich frage mich, wer da drin rumgepfuscht hat.«
»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, dass diese Gestalten vor zwei Tagen noch nicht zu erkennen waren?«
Roth schaute zu Mason und dann wieder auf das Gemälde. »Ich würde sagen, Sie sind einfach überarbeitet und ein bisschen wirr im Kopf.«
»Vielleicht hat es ja auch was mit den Chemikalien in den Farben zu tun. Es wundert mich nur, das ist alles. Da ich selbst Künstler bin, weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn etwas nicht hundertprozentig perfekt ist.«
Roth gab sein bellendes Lachen von sich. »Machen Sie sich doch nichts vor. Was soll all dieser Künstlerscheiß? Es geht doch nur um Kohle, ums Verkaufen um jeden Preis.«
Mason rieb sich das Kinn und fühlte die kratzenden Bartstoppel. Er hatte seine Körperpflege sträflich vernachlässigt, wie auch der Schweißgeruch unter seinen Armen verriet. Für Roth musste das Atelier wie der Umkleideraum eines Fitnessstudios stinken. Mason kniete sich hin, hob sein Shirt auf, schüttelte die Holzspäne ab und zog es wieder drüber. Er blickte zur Statue und fühlte sich schuldig, weil er seine Arbeit vor kurzem noch abbrechen wollte.
»Was machen Sie hier unten?« fragte er Roth, bevor sich seine Gedanken wieder nur um Korban kreisen konnten.
»Ich wollte ein paar Negative entwickeln. Miss Mamie sagte, ich könne den Weinkeller dafür benutzen. Hier unten ist es ja dunkel genug, finden Sie nicht auch?«
»Und warm. Wahrscheinlich wird der Hausofen volle Kanne befeuert. Er steht da drüben auf der anderen Seite der Wand. Alle drei bis vier Stunden hört man, wie jemand Holz nachlegt.«
»Dieser Korban war wohl nicht gerade der Typ, der sich für den Schutz unserer Wälder einsetzt.«
Erneut betrachtete Mason die Statue. »Klingt vielleicht verrückt, aber mitunter ist er ja selbst der Wald.«
»Gehen Sie mal an die frische Luft, Mason. Sie fangen an, wirres Zeug zu reden.«
»Ja, vielleicht haben Sie recht.«
»Entspannen Sie sich, haben Sie ein bisschen Spaß.« Roth grinste listig wie ein Fuchs. »Versuchen Sie mal Ihr Glück bei diesem Paradiesvogel Anna. Sie ist genau Ihre Kragenweite.«
»Nein, danke. Ich habe schon genug um die Ohren. Ich geh lieber was essen, damit ich dann hier weitermachen kann.«
Auf den Treppen warf Mason einen letzten Blick auf die Statue, die Ephram Korban werden würde. Mit diesem Werk würde er brillieren. Dennis Graves würde vor Eifersucht und Neid seinen Hammer verschlingen. Schon bald würde sich seine Kreation in ihrer ganzen gottesgleichen Herrlichkeit offenbaren.