30. KAPITEL
Die Nacht brach herein, glitt wie warmes Öl über die Hügel, ergoss sich in die Täler, legte sich wie ein Schleier an die grauen Hänge der Appalachen. Die Nacht verwandelte sich in einen blutgetränkten Ozean, der mit dem rabenschwarzen Himmel verschmolz. Die Nacht formte einen gierigen Mund, der die vorherige Nacht, nein, sogar alle vorhergehenden Nächte verschlang. Der auch alle kommenden Nächte verschlingen würde. Die Nacht—
Aufgeregt hämmerte Spence weiter auf die aalglatten Tasten ein, schmetterte die Worte über das Papier. Er war nicht mehr Herr seiner selbst, wurde von einer fremden Obrigkeit getrieben. Die Welt um ihn herum löste sich auf, das Zimmer verschwamm, der Rauch der Laterne verflüchtigte sich, der schweißige Geruch von Bridget verflog. Es gab nur noch ihn und die halbleere Seite. Sein ganz persönliches Schlachtfeld. Die Nacht da draußen hinter dem Fenster existierte für ihn nicht mehr, ihn interessierte nur noch die Nacht, die er mit seinen Worten zum Leben erweckte. Die Nacht, die in seinem Herzen wie ein brodelnder Vulkan loderte. Die Nacht, die wie heiße Lava durch seine Venen schoss, sein Blut in Wallung brachte und sich explosionsartig in seinem Körper entlud. Die Nacht, die wie eine finstere Macht von ihm Besitz ergriff.
Er war so vertieft, dass er kaum merkte, wie ihm Geifer aus den Mundwinkeln rann, seine glühenden Wangen hinab strömte und auf sein Baumwollhemd tropfte. Über seine Lippen huschte ein Grinsen, denn sein Speichel entsprang einer anderen Sphäre, war ein Produkt aus der realen Welt. Doch verglichen mit dem magischen Kosmos, den er mit seinen Tastenschlägen erschuf, war die Wirklichkeit so leer, so eintönig, so sinnlos. Seine Handgelenke schmerzten, seine Finger waren steif, seine Augen tränten vor Anstrengung, aber diese körperlichen Qualen ertrug er angesichts der beflügelnden Worte, die ihn für all seine Mühen entschädigten.
Das Papier war sein Meister, der ihn drängte, sein Werk zu vollenden. Ein Meister, der befahl. Ein Meister, der ihn mit einem lauten Weckruf aufrüttelte. Ein Meister, der seine Weisungen herausposaunte. Der ihn zu einem Gott erkor, wenn auch zu einem Gott von niedrigerem Rang.
Denn über Spence thronte ein noch viel größerer Gott, herrschte der eine, wahre Gott. Das WORT! Er diente dem WORT! Das WORT war seine Bestimmung! Das WORT war sein Herr, der gibt und nimmt. Das WORT gab ihm seine einzige Silbe, damit Spence nicht zugrunde ging, sondern ihm auf ewig die Gunst der Metaphern hold sein würde. Das WORT offenbarte sich ihm aus dem brennenden Dornbusch, erschien ihm auf der Tontafel, sprach von der allmächtigen Wolke zu ihm. Auf das WORT vertrauen wir!
Plötzlich spürte er das Klopfen einer Hand auf seiner Schulter, einer Hand, die aus dieser trostlosen Welt greifbarer Materie zu ihm vorzudringen versuchte. Oh ja, das musste die Muse sein. Die Muse, die auch ein Sklave des WORTES war. Die Muse, die aus Asche und Staub das WORT schöpfte. Die Muse, die die verbotene Frucht anbot. Die Muse, die seinen Anstößigkeiten Bedeutung verlieh.
»Jeff«, säuselte sie und ihre liebreizenden Worte klangen wie Musik in seinen Ohren. Er wollte weinen, aber seine Tränen würden die Schrift auf der glorreichen Seite verwischen. Seiner Seite. Dieser kurze Anflug von Egoismus durchbrach die Magie des Augenblicks und erzürnte den Gott, das WORT.
Spence hörte auf zu tippen und blickte blinzelnd um sich.
»Komm ins Bett, Liebling«, tönte die Muse. »Du hast die letzten sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen.«
Ein dicker Stapel von Manuskriptseiten türmte sich auf dem Schreibtisch. Seine brennenden Augen zwangen ihn, die ausgetrockneten Augenlider für einen kurzen Moment zu schließen. Die Muse lockte ihn weg aus der Welt des WORTES, wollte ihn von seinem hohen, weichen Thron stoßen. Vielleicht war die Muse überhaupt kein Freund, sondern ein Feind. »Was willst du?«
Jetzt war sie nicht mehr die Muse, sondern einfach nur noch Bridget, eine vor Kälte zitternde Studentin aus Georgia, deren Nippel sich knochenhart unter dem durchsichtigen Nachthemd abzeichneten.
»Ich mache mir Sorgen um dich.« Sie beugte sich von hinten über ihn und schlang ihre Arme um seine Brust. Spence duldete, dass sich der Drehstuhl nach hinten bog. Jetzt, da der Bann des WORTES gebrochen war, wurde sein Körper von Angst erfüllt. Seine Augenlider zuckten.
Bridget küsste ihn auf den Nacken, direkt unter seinen stoppeligen Haaransatz. »Du arbeitest zu viel. Warum kommst du nicht einfach ins Bett?«
»Ich kann nicht arbeiten, wenn ich im Bett bin.« Jetzt, da die Buchstaben nicht mehr wie ein Schwall aus ihm herausschossen, war er wieder deutlich reizbarer.
»Ich hab Sehnsucht nach dir, Schatz.«
Sie vergab ihm, dass er sie am Vortag nicht gerade liebevoll behandelt hatte. Oder war das letzte Nacht gewesen? Oder hundert Jahre zuvor? Die Zeit verlor auf Korban Manor jegliche Bedeutung.
»Meine liebe Bridget«, sagte er und verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er jedes einzelne Wort wie eine Schlinge, die sich immer fester um den Hals zieht, in den Raum warf. »Was ist schon deine Einsamkeit verglichen mit dem gewaltigen Verlust, den die Welt erleiden würde, wenn meine Arbeit nicht vollendet wird?«
»Ich weiß, wie wichtig dir das ist. Aber ich bin eben nicht wie du. Ich brauche ab und zu auch ein bisschen Gesellschaft.«
»Sicherlich haben deine zugegebenermaßen unübersehbaren Reize auf der Matratze ihre Berechtigung, aber du kannst deine verworrenen Liebesfantasien auch gern woanders ausleben. Meinen Segen hast du.«
Bridget löste ihre Umarmung. Spence drehte sich im Stuhl, sodass er seine neueste Eroberung bewundern konnte. Ihre ansehnlichen Rundungen wölbten sich unter ihrem Nachtgewand, das sich eng an ihren Körper schmiegte. Ein Prachtstück. Hübsch anzuschauen, aber nutzlos.
»Jeff, ich will aber niemand anderen außer dich. Ich liebe dich.«
Diese Unterhaltung schien wirklich interessant zu werden, eine nette kleine Abwechslung, die ihm das WORT sicherlich verzeihen würde. Selbst Ephram Korban hat sich seinerzeit bestimmt hin und wieder an dem ein oder anderen emotionalen Spielchen erfreut.
»Liebe«, entfuhr es ihm und es war nicht zu überhören, dass nun gleich eine altbekannte Moralpredigt folgen würde. Die bedeutungsschwangeren Worte formten sich in seinen Knochen, erfüllten seine Brust und Lunge, bahnten sich durch seinen Körper hindurch den Weg nach draußen, sprudelten seine Kehle hinauf und ergossen sich aus seinem Mund in den Raum. Es waren weise Worte, die schon oft gesprochen worden waren, aber stets galten sie einer anderen Person.
»Liebe ist die Reinform von Egoismus und Selbstgefälligkeit«, setzte er fort. »Jede Art von Liebe ist schlichtweg Eigenliebe. Ob nun die Liebe zur Mutter, zum Bruder, zum Partner, zu einem Hund oder die Liebe zu Gott. Jede Liebe ist eine Form der Selbstbefriedigung. Und deshalb gebe ich dir meine Zustimmung, dich selbst lieben zu dürfen, denn das scheint es ja zu sein, was du von mir willst.«
»Liebling, sei doch nicht so … so …«.
»Hart? Synonyme: standhaft, unnachgiebig, unflexibel. Ach, wie ich mir wünschte, es wäre so. Der Geist macht sich das zu eigen, was dem Fleisch versagt bleibt.«
»Tu das bitte nicht. Weißt du, mir macht dein—unser—Problem nichts aus.«
Spence lachte, sein ganzer Körper wackelte ekstatisch angesichts der schieren Selbstliebe, die ihn jetzt übermannte. Er streckte seine Hand nach ihr aus und strich ihr übers Haar, klischeehaft wie in einem Liebesroman. Sie seufzte unter seiner Berührung, ihre Wangen waren gerötet, ihre Lippen leicht geöffnet, ihre Haut glühte im Lichte des Feuers wie Honig. Sie kochte vor Erregung.
»Unser Problem«, erwiderte Spence.
Sie war zu weit gegangen. Darauf musste er reagieren.
Er packte ihren Schopf und zerrte sie mit einer Hand zu sich heran. Mit der anderen Hand griff er hinter sich nach dem Manuskript. Er schleuderte ihr die losen Blätter um die Ohren, hoch erfreut über den klatschenden Klang des Papiers auf ihrer Haut. Begleitet von ihrem Stöhnen und Knurren segelten die Seiten zu Boden.
»Heb sie auf«, verlangte er und verdrehte ihr Haar in seiner Hand, um sie auf die Knie zu zwingen. Im Vergleich zu seiner kräftigen Statur wirkte sie winzig und zerbrechlich. Schluchzend fummelte sie in den durcheinander gewirbelten Seiten herum. Mit einem Ruck zog er sie hoch, obwohl sie erst wenige Blätter aufgelesen hatte.
»Lies«, befahl er mit kalter, bedrohlicher Stimme.
Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Wangen von Tränen benetzt, ihre Unterlippe bebte.
»Lies«, sagte er erneut, diesmal aber ganz ruhig.
Ihre Augen flogen über das Papier, ihre Schultern wurden von tiefen Schluchzern geschüttelt, ihre Brüste schwangen jämmerlich unter ihrem Satinnachthemd hin und her.
»Laut.« Da war er wieder: Jefferson Davis Spence. Die Legende. Die einzig wahre Bestimmung. Keine Illusionen mehr über Musen und literarische Götter aus einer anderen Welt. Keine weiteren überdrehten Erwartungen. Keine Symbiose mit den Tasten. Jetzt konnte er sich auf die Kunst der Grausamkeit konzentrieren.
»Die Nacht verbreitet ihre A-Abscheulichkeit wie ein L-Lauffeuer«, las sie mit zittriger, stotternder Stimme vor. »Die N-Nacht spukte durch die Nacht, kletterte ihr eigenes Rückgrat wie eine Leiter hinauf, rüttelte an den Stäben ihres eigenen Käfigs …«
Spence löste seinen festen Griff, streichelte ihr über das Haar. Er schloss die Augen, versunken im wohlwollenden Rhythmus seiner eigenen Prosa.
»… die Nacht knurrte, zischte wie eine Schlange, knallte wie ein Feuerwerk, die Nacht fraß sich selbst, leckte mit ihrer eigenen Zunge über sich, verschlang ihren eigenen Schwanz …«
Oh ja, die Muse sang wieder. Sie brauchte nur die richtige Melodie.
»… die Nacht schmeckt nach Kohle und Asche, die Nacht schmeckt nach Süßholz, die Nacht schmeckt nach Zähnen——ja, nach kalten Zähnen … Weiche Frost …«
Sie verstummte, aber Spence wiegte sich in seinem Stuhl vor und zurück wie ein Baby, das sich von seinem eigenen Singsang einlullen lässt.
»Jeff?« Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück.
»Du hast aufgehört zu lesen. Ich habe dir nicht gesagt, dass du aufhören sollst.«
»Dieses Zeug ist … dieses Zeug ist …«
Spence lächelte, sein Gesicht glühte vor Erregung angesichts dieser kleinen, aber zärtlichen Hommage an den Höhepunkt der Selbstliebe. Gleich würde sie einen Lobgesang anstimmen und er würde von vollkommener Glückseligkeit erfasst.
»Es ist einfach so schrecklich.« Sie ließ die Seiten des Manuskripts fallen. »Dafür hast du dein Talent verschwendet? Für diesen … ekelhaften Mist?«
Spence, der mit ihrer überschwänglichen Anerkennung gerechnet hatte, vernahm den Inhalt ihrer Worte zunächst gar nicht. Aber der Tonfall war eindeutig und unmissverständlich. Selbst ihr unverwechselbarer Akzent konnte nicht darüber hinwegtäuschen, was sie wirklich meinte, und plötzlich sah und hörte er wieder Mrs. Eileen Foxx, seine Lehrerin aus der fünften Klasse. Föxxchen in Söckchen hatten die Kinder damals über sie gespottet, weil ihnen nichts Intelligenteres eingefallen war.
Mrs. Foxx hatte ihn vor der versammelten Klasse zur Schnecke gemacht, weil er die Unverschämtheit besessen hatte, ein Wort falsch zu buchstabieren. Er stand an der Tafel, die den Staub Tausender mit Kreide dahingekritzelter Fehler ausatmete, während sich die anderen Kinder vor Lachen bogen, erleichtert, dass es sie diesmal nicht erwischt hatte. Als sich seine kleine Blase direkt vor der Klasse entleerte, die warme Feuchtigkeit seine Hose durchdrang, wurde das Gelächter nur noch lauter und schriller.
An diesem sonnigen Frühlingsnachmittag an der Grundschule von Fairfield wurde er nicht nur zum Gespött der ganzen Schule.
An diesem Tag wurde auch Jefferson Spence, der Schriftsteller, geboren. Derjenige,
der Faulkner, Hemingway und wie sie alle hießen in den Schatten stellen würde. Und auch wenn er nicht in die Vergangenheit reisen, Mrs. Foxx am ausgefransten Saum ihrer Strickjacke packen und diese widerwärtig geschürzten Lippen blutig schlagen konnte, so hatte er doch jetzt die Gelegenheit zu handeln. Er konnte bei all den Kritikern, all den Spöttern und all den eitlen Fatzken Dampf ablassen, konnte all den Eileen Foxxes dieser Welt den Kampf ansagen und sich für das rächen, was sie ihm angetan hatten.
So hart er konnte schlug er gegen die Wange der trügerischen Muse. Unter schmerzhaftem Stöhnen fiel sie zurück auf das Bett, ein Arm prallte gegen das Messinggestell, der andere Arm plumpste auf ihre Brust. Aus ihrem Mund und ihrer Nase quoll Blut, ihre Wange glühte feuerrot vom Hieb in ihr Gesicht. Sie starrte ihn an und aus ihrem Blick sprach die ganze Strenge von Eileen Foxx.
Er konnte ihr nicht in die Augen sehen.
Ephram lächelte. Ephram, dem er die geistigen Ergüsse von Die Jahreszeiten des Schlafes verdankte. Ephram, der ein Verbündeter in einem Universum voller kleinkarierter Fünftklässler war, die niemals verstehen würden.
Es war nicht so, dass er bei Frauen keinen Schlag hatte oder dass seine Tiraden holprig waren. Es lag nicht an ihm. Es war keine Schwachstelle in seiner Stilistik. Die Schuld war seit jeher bei ihnen zu suchen.
Sie standen zwischen ihm und der Erleuchtung, versperrten ihm den hell strahlenden Weg zu dem einen wahren WORT. Wer braucht schon reine körperliche Lust? Wer diese unstillbare Begierde, dieses hemmungslose Verlangen?
Wenn man mit dem WORT verschmelzen wollte, dann musste man dieser Zügellosigkeit abschwören. Diese Vereinigung in ihrer reinsten, ureigensten Form erlebt man nur, wenn man auf jegliche Form der Ablenkung verzichtet.
Spence legte seine Finger auf die kalten Tasten der Schreibmaschine. Die Laterne auf dem Tisch flackerte zustimmend, der Kamin loderte in glühender Erregung. Noch einmal schaute er zu Ephram, blickte dann auf die leere Seite, die Verbündeter und Feind zugleich war.
Er vernahm kaum, dass sich die Tür hinter seinem Rücken schloss. Er drückte die Finger nach unten, auf der Suche nach dem einen wahren Gott, dem WORT. Wie von einer fremden Macht bestimmt, glitten seine Hände über die Tasten.