51. KAPITEL

In eine Decke eingekuschelt saß Anna auf ihrem Bett. Im Zimmer war es kühl geworden, die kleiner werdende Flamme des Feuers hatte die Temperatur abfallen lassen. Sie starrte auf das Porträt von Ephram Korban, suchte in seinem Gesicht nach Ähnlichkeiten mit sich selbst. Korban, Rachel, Sylva. Und irgendwo dazwischen ein gesichtsloser Vater, der sie mit nichts als ihrem Vornamen zurückgelassen hatte. Der anstatt zurückzukehren lieber gestorben war. Sich laut Sylva selbst den Strick genommen hatte.

So lange Zeit war sie umhergeirrt, ohne Wurzeln und ohne jede Bindung, und jetzt gehörte sie plötzlich so vielen Leuten. Ihre Blutlinie war alles andere als geradlinig, die Generationen miteinander verworren durch irgendeinen Fluch, der den Zahn der Zeit aufzuhalten schien. Denn wenn Sylva einhundertfünf Jahre alt war und Anna sechsundzwanzig, dann musste Rachel vor weniger als drei Jahrzehnten gestorben sein. Vielleicht war es aber auch so, dass man nach dem Tod nicht mehr alterte und die Jahre nicht länger zählten?

Es klopfte an der Tür und Cris trat ein. »Hey, Süße, was ist los?«

»Ich grüble nur ein wenig.«

»Also wirklich, auf einer Künstlerklausur gibt es doch nun wirklich Besseres zu tun. Überlass das Nachdenken den Idioten, die darauf stehen, für ihre Kunst Hunger zu leiden. Oder irgendwelchen sturköpfigen Fotografen.«

»Wozu? Es ist doch sowie alles sinnlos.«

»Genau das meine ich! Wenn alles keinen Sinn hat, wenn alles nur ein einziger belangloser Traum ist, warum vergnügst du dich dann nicht ein wenig?«

»Vielleicht hast du ja recht. Ich nehme alles ein bisschen zu ernst.«

»So gefällst du mir schon besser.« Cris huschte ins Badezimmer, hielt dann aber in der Tür inne. »Wenn du mich entschuldigen würdest. Es ist mal wieder so weit. Heute Abend ist Vollmond.«

»Hab ich schon gehört.«

»Auf dem Dach steigt eine große Party. Miss Mamie meint, das dürften wir nicht verpassen. Falls Mason dort ist, kannst du das mit dem Amüsieren ja gleich mal ausprobieren.« Cris zwinkerte und schloss dann die Badezimmertür. Anna zog die Decke noch fester um ihre Schultern.

Als Cris aus dem Badezimmer kam, kramte sie in ihrem Schrank nach einem Pullover. »Hey, hast du dich an meinem Skizzenblock zu schaffen gemacht?«

»Ich war heute gar nicht hier.«

Cris hielt den Block hoch. Auf einem großen Stück Papier waren mit roter Kreide die Worte Weiche Frost, bring Feuer gekritzelt.

»Vielleicht war das einer von den Hausangestellten«, meinte Anna. »Eine Erinnerung daran, mehr Holz auf das Feuer zu legen.«

»Ja, das könnte sein. Es wird schließlich ganz schön kalt. Ist ja schon Oktober und wir befinden uns hier mitten in den Bergen. Wenn der Herbst hier nicht so farbenfroh wäre, würde ich Rio vorziehen. Bis später.« Cris winkte ihr noch einmal zu, band sich die Haare im Gehen zu einem Pferdeschwanz zusammen und verließ das Zimmer.

Anna schaute auf die Tür. Mit einem Mal begann die Maserung zu wirbeln. Aus den dunklen Eichenbrettern traten eigenartige Umrisse hervor. Eine blasse Hand, die einen Blumenstrauß hielt. Die Frau mit den verzweifelten Augen. Und dann war da wieder dieses eine geflüsterte Wort: »Anna.«

Scheinbar war es weder den Toten noch den Lebenden gegönnt, in Frieden zu ruhen.