72. KAPITEL
»Anna«, rief Rachel noch einmal.
Anna öffnete die Augen und sah nichts als Finsternis.
Doch es war nicht vollkommen dunkel. Sie blinzelte.
»Wo bin ich?« wollte sie wissen und ihre Stimme klang, als ob sie mit Hunderten Zungen gleichzeitig sprach.
»Im Keller.«
»Im Haus?«
»Wir alle leben hier«, meinte jemand anders und sie spürte eine kleine, kalte Hand.
»Du«, sagte Anna, »du bist doch das Mädchen aus der Hütte, das Sylva Becky genannt hat.«
»Du bist gekommen, um uns zu helfen«, erwiderte das Mädchen lächelnd.
»Ich kann euch nicht helfen«, entfuhr es Anna. Und auf einmal erblickte sie Rachel, die hinter dem Vorhang der Dunkelheit hervorgetreten war.
»Ich musste auf dich warten, bis du stirbst, Anna«, erklärte Rachel. »Du besitzt die Gabe, bei dir ist sie sogar noch stärker ausgeprägt als bei mir. Korban hat mich getötet, weil er wusste, dass ich stärker bin als Sylva. Aber bei weitem nicht so stark wie du. Du hattest die Gabe schon zu Lebzeiten. Konntest Geister sehen. Aber du musstest sterben, damit du auch in die andere Richtung sehen kannst.«
»In die andere Richtung?«
»Ja, von den Toten zurück zu den Lebenden. Über diese Gabe sind wir miteinander verbunden. Wir können unsere Träume auf eine Weise bewahren, zu der Ephram niemals fähig gewesen wäre, denn er wollte seine Träume für sich allein haben. Er wollte unsere Angst und unseren Hass. Aber er hat die Macht des Glaubens verloren. Wir jedoch glauben an dich, Anna.«
»Glaube. Der Glaube ist die größte Lüge der Menschheit.« Sie hätte gern gelacht, aber in diesem trostlosen, grauen Reich des Nichts durfte es kein Lachen geben.
»Bitte glaube auch du an uns«, sagte Rachel. »Werde unser Kelch des Lebens. Lass unsere Träume, unsere echten Träume, in dich fließen. Nimm dich unserer Träume an, damit wir endlich sterben können.«
»Ihr möchtet sterben?«
»Mehr als alles andere auf dieser Welt«, sagte das Mädchen.
»Hilf uns bitte«, drang eine weitere Stimme aus dem grauen Schleier dieser unbekannten Welt der Toten.
»Befreie uns von Korban«, flehte ein weiterer Geist, und dann hörte man einen nach dem anderen betteln. Wie viele Seelen hatte Korban hier in all den Jahren gefangen gehalten? Mit wie vielen Zaubermittelchen hatte Sylva ihre krankhaften Fäden der Magie um sie gesponnen?
»Folge deinem Herzen«, riet Rachel ihr.
»Mein Herz führt mich doch nur in die Hölle.«
»Es gehört den Lebenden.«
»Nein, ich gehöre hierher.«
»Sylva hat gelogen, nicht ich.«
»Ich vertraue keiner von euch. Warum sollte ich dir glauben?«
»Hör zu. Ich bin nicht deine Mutter.«
»Nicht meine Mutter?«
»Ephram besitzt die Macht, uns sehen zu lassen, was wir sehen wollen. Er gibt uns das, was wir uns sehnlichst wünschen. Warum, glaubst du, kannst du die Toten sehen?«
Anna hätte nicht gedacht, dass es möglich war, in einen noch tieferen, kälteren Abgrund als den Tod zu stürzen, doch diese Offenbarung erschütterte das Fundament ihrer Seele zutiefst. Sie hatte sich zum Narren gemacht. Wie sollte man jemals seinen eigenen Geist finden können?
»Sylva hat dich benutzt«, fuhr Rachel fort. »Wie sie auch mich benutzt hat. Wir sind beide nur Treibholz für ihr Opferfeuer.«
»Ich habe dich gehasst«, sagte Anna. »Als Sylva mir erzählte, du wärst meine Mutter, dachte ich, dass ich endlich jemanden gefunden hätte, dem ich die Schuld für alles geben kann. Jetzt steh ich wieder allein da und bin genauso verloren wie vorher auch.«
»Tut mir wirklich leid. Ich wollte es dir erzählen, aber Ephram hat auch mich in seiner Gewalt. Wie sehr ich mir doch wünsche, niemals geboren worden zu sein!«
»Da haben wir ja etwas gemeinsam«, erwiderte Anna.
»Du bist nicht allein, Anna. Irgendetwas muss passiert sein, denn der Bindungszauber wurde plötzlich durchbrochen.«
»Es waren die Puppen«, kam es aus Adams Mund.
»Adam?« fragte Anna ungläubig. Die Augen ihrer Seele konnten ihn in der Finsternis nicht entdecken. »Bist du tot?«
»Wenn die das behaupten, wird es wohl so sein.«
»Was ist mit den Puppen?« wollte Rachel wissen.
»Miss Mamie hat sie geschnitzt«, antwortete Adam. »Ihre Köpfe waren aus Äpfeln. Ich habe meine gesehen, nur dass ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste, was es war. Ich denke, sie hat eine für jeden gemacht, der gestorben ist.«
»Sie ist tot«, meinte Anna. »Ich vermute mal, sie ist gestorben, noch bevor sie ihre eigene Puppe schnitzen konnte.«
»Dann kann sie uns nicht gefangen halten«, sagte Rachel. »Wir sind frei.«
»Ihr seid nicht frei«, erwiderte Anna. »Nicht, bis Ephram zum allerletzten Mal getötet wird.«
»Rette uns«, forderte Becky.
»Hol uns hier raus«, verlangte Adam.
»Du bist die Auserwählte«, sagte Rachel. »Man hat dich aus einem ganz bestimmten Grund hierher geholt.«
Immer mehr Stimmen drangen aus der Dunkelheit an Annas Ohr. Sie flehten sie an, sprachen ihr Mut zu. Anna fühlte die Energie, die von ihren Worten ausging, spürte, wie ihr totes Herz erwärmt wurde.
»Von den Toten zu den Lebenden, Anna«, sagte Rachel. »Ich bin nicht deine Mutter, aber wenn ich es wäre, dann wäre ich stolz auf dich. Denn du bist so stark. Stärker noch als Ephram.«
»Ich weiß nicht«, gab Anna zurück. »Was muss ich denn tun?«
»Sag ihn. Den Zauber, den Sylva dich gelehrt hat. Nur rückwärts.«
»Frost und Feuer?«
»Genau. Und glaube daran. Die Lebenden sollen leben, die Toten verschwinden.«
Leben. Vielleicht war das Leben doch nicht so schlecht, trotz der ganzen Leiden, Sorgen und Unzulänglichkeiten. Das Leben bot Hoffnung, zweite Chancen, Entscheidungen. Entsprang der Schmerz, der sich jetzt in ihr ausbreitete, ihrer Seele? War es die Pein der Hoffnung, die Sehnsucht nach dem vergessenen Fleisch, das Bedauern, bestimmte Dinge nicht erledigt und bedeutende Worte nicht gesagt zu haben?
Sie dachte an Mason auf dem Witwensteg, wie er sich dem Ungeheuer aus Holz stellen musste, das er selbst geschaffen hatte. Ein Monster, das auf diesem Berg sein Unwesen treiben würde wie kein anderer Geist vor ihm und nach ihm. Der wie ein Gott über diesen Ort herrschen würde, voller Wut, Macht und Arroganz, so als ob alle Dinge, alles Lebende und Tote ihm gehörten.
»Weiche Feuer, bring Frost«, sagte Rachel. »Sag es.«
Langsam öffnete Anna ihren toten, träumenden Mund. Dutzende Stimmen verschmolzen mit ihrer eigenen. Becky, Adam, Rachel. Sie alle verbanden sich zu einem Chor, zu einem Gesang der Hoffnung, einem Klagelied des Seelenheils. »Weiche Feuer, bring Frost. Weiche Feuer, bring Frost. Weiche Feuer, bring Frost.«
Eins, eine Trennlinie.
Zwei, ein stolzer Schwan.
Drei, eine Adlerklaue.
Beim dritten Mal entfaltet es seine magische Wirkung und öffnet das Tor.
In eine Welt der Hoffnung. Eine Festung des Glaubens.
In der die Seele von Anna Galloway zuhause sein wird.
Sie war Anna. Sie war am Leben.
Sie öffnete die Augen, sah den blassen Kranz, der sich um den Mond zog, fühlte die kalte Oktoberluft auf ihrer Haut, schmeckte den Rauch, der aus den Schornsteinen aufstieg, roch das modrige, vom Wind aufgewirbelte Laub der Bäume, hörte das dumpfe, weit entfernte Gebrüll von Ephram Korbans Herz. Sie legte ihre Hand an ihr eigenes Herz. Es schlug. Im Rhythmus mit dem seinen. Und mit all den unglücklichen Seelen, die sie in sich trug und die Anna ihre Hoffnungen und Träume anvertraut hatten.
Brennstoff.
Ephram wollte Brennstoff. Sie würde ihm Brennstoff geben.
Sie stand auf, ihr Körper blieb bäuchlings auf dem Witwensteg liegen, aber ihre fleischliche Hülle war für diese Mission sowieso nutzlos. Alles, was sie brauchte, war der Glaube, der in ihrer Seele schlummerte. Denn schließlich hatte sie doch noch etwas gefunden, zu dem sie gehörte. Etwas, das mehr bot als einfach nur endlose Dunkelheit. Etwas, das größer war als sie selbst.
Ihr Haus steckte voller Leben. Korbans Haus hingegen war zerrissen.
Gefangen zwischen Frost und Feuer.