3. KAPITEL

Anna Galloway zog die Spitzengardinen des Schlafzimmerfensters zurück. Der Luftzug wirbelte ein wenig von dem Staub auf, der sich auf den Fensterscheiben angesammelt hatte. Das Licht der Sonne legte sich auf ihre Schultern, ihr sanfter Schein wärmte den Fußboden unter ihren Füßen. Die Bergluft im Oktober war kühler als sie es gewohnt war, und selbst das prasselnde Feuer konnte nicht verhindern, dass sie fröstelte. Über dem Kamin hing ein Gemälde von Ephram Korban, kleiner als das im Erdgeschoss, aber mindestens genauso düster. In einer Sache hatte der Bildhauer mit der Höhenangst auf jeden Fall recht: Korban war ein durch und durch selbstverliebter Mann gewesen.

Sie sah aus dem Fenster und ließ ihren Blick über die weitläufige Rasenfläche hinweg schweifen. Hier war sie nun – endlich. An dem Ort, an dem sie aus irgendeinem ihr unbekannten Grund sein musste. Es war das Ende der Welt. Sie wischte die fatalistischen Gedanken aus ihrem Kopf und schaute stattdessen dabei zu, wie ein Rotschimmel und ein Fuchs über die Weide galoppierten. Dieses Bild der Ruhe und des Friedens hauchten ihr Wärme ein.

»Es ist zauberhaft, nicht wahr?«, fragte die Frau hinter ihr. Sie hatte sich Anna als »Cris ohne h« vorgestellt, als ob das fehlende H sie auf irgendeine Weise härter und weniger nachgiebig machte. Und da sie sich ein Zimmer teilen würden …

»Es ist wunderschön«, sagte Anna. »Genau so, wie ich es mir erträumt habe.«

Cris hatte bereits ihre Farben, Wasserfarbenpinsel und Skizzenblöcke auf dem gesamten Bett verstreut. Sie hatte das Bett an der Tür gewählt. Auf Annas kleinem Toilettentisch lag nur ein schmaler Stapel Bücher. Ihre Einstellung zu materiellem Besitz und weltlichem Komfort hatte sich im letzten Jahr drastisch geändert. Man reist mit leichtem Gepäck, wenn man nicht sicher ist, wohin die Reise gehen wird.

Der Schmerz fegte durch ihren Magen, hinterhältig dieses Mal, wie eine Nadel, die in Zeitlupe immer wieder zusticht. Sie schloss die Augen, zählte rückwärts und stellte sich dabei große, dicke Zahlen vor.

Zehn, dünn und rund …

Neun, Schlaufe mit Schwänzchen …

Sie war gerade bei sechs angelangt und der Schmerz schwebte irgendwo über diesem tiefen Abgrund in den Blue Ridge Mountains, als Cris’ Stimme sie zurückholte.

»Und was machst du so?«

Anna wendete sich vom Fenster ab. Cris saß auf dem Bett und bürstete ihr langes, blondes Haar. Anna war froh, dass ihre eigenen Haare durch die Chemotherapie nicht ausgefallen waren. Nicht nur aus Eitelkeit, sondern auch, weil sie alles von sich mitnehmen wollte, wenn sie ging.

»Ich schreibe Forschungsartikel«, erwiderte Anna.

»Oh, du schreibst.«

»Keine Romane wie Jefferson Spence. Eher im Bereich Metaphysik.«

»Wissenschaft und solches Zeug?«

Anna saß auf ihrem Bett. Der Schmerz war zurück, jedoch nicht so stechend wie vorher. »Ich habe im Rhine Research Center in Durham gearbeitet. Als Forscherin.«

»Du hast gekündigt?«

»Nicht wirklich. Ich war nur fertig.«

»Rhine … Machen die nicht irgendwas mit übersinnlicher Wahrnehmung, Geistern und solchem merkwürdigen Kram? So wie bei Akte X?«

»Ja, bis auf dass die Wahrheit nicht irgendwo da draußen ist. Sie ist hier drinnen.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Die Kraft der Gedanken. Und wir haben nichts mit Außerirdischen am Hut. Ich war Forscherin für paranormale Aktivitäten. Doch dann wurde ich zum Dinosaurier, fast schon ausgestorben, bevor ich überhaupt angefangen habe.«

»Du bist zu jung, um ein Dinosaurier zu sein.«

»Alles ist heutzutage elektronisch. Detektoren für elektromagnetische Felder, Ultraschallrekorder, Infrarotkameras. Wenn du es nicht auf einem Computer darstellen kannst, glaubt niemand, dass es wirklich existiert. Aber ich glaube an das, was ich mit meinem Herzen sehe.«

Cris sah sich im Zimmer um, als ob sie die dunklen Ecken und die Schatten, die das flackernde Feuer warf, erst jetzt richtig zur Kenntnis nahm. »Du bist aber nicht hier, um—«

»Keine Angst. Ich bin aus persönlichen Gründen hier.«

»Aha. Ich habe gesehen, wie du draußen auf der Veranda mit dem muskulösen Schnuckelchen mit der Leinentasche gesprochen hast.«

»Nicht diese Art von persönlichen Gründen. Außerdem ist er überhaupt nicht mein Typ.«

»Warte mal ein paar Tage ab. Es sind schon viel seltsamere Dinge passiert.«

»Und du bist bestimmt hier, um dich voll und ganz in deine Kunst zu stürzen?« Anna zeigte auf die Skizzenblöcke. »Ich mag dich. Darum werde ich dich mit meinem Vortrag über künstlerisches Temperament verschonen.«

»Ach, ich glaube, mein Mann vögelt zurzeit seine Sekretärin und dass sie mich aus dem Haus haben wollten, damit sie sich im Whirlpool vergnügen können. Er hat mich den Sommer über nach Griechenland geschickt. Letztes Frühjahr nach New Mexico, damit ich auf den Spuren von Georgia O’Keeffe wandeln konnte. Jetzt sind die Berge von North Carolina dran.«

»Zumindest ist er großzügig.«

»Ich werde niemals eine richtige Künstlerin sein. Aber wenigstens habe ich auf Künstlerklausuren noch etwas anderes zu tun, als die ganze Zeit Männern hinterherzujagen und mich zu betrinken, obwohl mir meine Muse diesen kleinen Luxus natürlich trotzdem erlaubt. Wo wir gerade beim Thema sind: In der Nähe des Studierzimmers habe ich eine Bar gesehen. Wollen wir dort vor dem Abendessen mal vorbei schauen?«

»Nein, danke. Ich glaube, ich ruhe mich erstmal ein bisschen aus.«

»Na gut. Hauptsache, du ziehst dir kein Bettlaken über den Kopf und läufst damit herum. Ich könnte dich sonst mit einem Geist verwechseln.«

»Ich verspreche dir, wenn ich sterbe, gehörst du zu den ersten, die davon erfahren.«

Anna legte sich zurück in die Kissen. Eine Feder stach ihr in den Nacken. Die Tür schloss sich und Cris’ Schritte verhallten langsam auf dem Korridor. Verwelkte Blätter schlugen gegen das Fenster. Die vom Rauch gealterten Wände verströmten einen tröstenden Geruch. Im sanften Schein der Öllampe wirkte das Zimmer noch behaglicher. Sie fühlte sich entspannt und zufrieden, das erste Mal seit—

Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken.

Der Schmerz war zurück. Ein unhöflicher Hausgast. Sie versuchte den Trick mit den Zahlen, doch ihre Konzentration wurde immer wieder von Erinnerungen unterbrochen, wie so häufig in letzter Zeit. Seit die Träume von Korban Manor angefangen hatten.

Zehn, dünn und rund …

Zwischen der eins und der zehn rutschte ein Bild von Stephen in ihren Kopf. Stephen, mit seinen Kameras und seinen technischen Spielereien, seinem Schnurrbart und seinem Lachen. Für ihn war Anna die Parapsychologinnen-Version eines Pfadfindermädchens. Stephen hatte nicht das Bedürfnis, einen Geist wahrzunehmen. Er konnte beweisen, dass es sie gab, behauptete er zumindest.

Ihre Verabredungen auf dem Friedhof hatten immer damit geendet, dass sie über Wiesen und zwischen Grabsteinen wandelte, während Stephen fleißig und konzentriert an seiner Ausrüstung bastelte. In der Nacht, als sie ihren ersten Geist wahrgenommen hatte, der sanft neben dem Marmorengel auf dem Friedhof von Guilford schimmerte, war Stephen zu beschäftigt damit gewesen, elektromagnetische Felder aufzuzeichnen, um aufschauen zu können, als sie nach ihm rief. Der Geist wartete jedoch nicht, bis er ihm seine Aufmerksamkeit zuteil werden ließ, sondern löste sich auf wie Nebel bei Sonnenaufgang. Doch bevor sich die vergänglichen Fäden wieder zurück in das Reich spulten, aus dem sie gekommen waren, hatten die ruhelosen Augen fest in die von Anna gestarrt.

Es war ein Moment gegenseitigen Verstehens gewesen.

Neun, Schlaufe mit Schwänzchen …

Das war ihre erste Investigation mit Stephen gewesen. In einer Winternacht, als der Wind selbst für Geister zu eisig war, hatten sie auf dem Fußboden der Hanger Hall von Asheville miteinander geschlafen. Und zwei Wochen später hörte sie zufällig auf einer Party, wie er sie eine »Traumtänzerin, wenn auch eine liebenswerte Traumtänzerin« nannte.

Nach sechs Jahren Studium und Feldforschung war sie also in etwa so respektabel wie eine Telefonwahrsagerin. Draußen in der realen Welt gab es mehr als genug Skeptiker, zwischen hartgesottenen Wissenschaftlern und denjenigen, die immer für eine gute alte Hexenverbrennung zu haben waren. Doch das Gelächter ihrer eigenen Kollegen reichte aus, um sie an imposante, gespenstig leere Orte zu treiben, an denen sie allein nach Geistern jagen konnte.

Acht, ein doppeltes Tor …

Dann kam der Schmerz – und der erste Traum. Sie trat aus dem Wald, ihre Füße berührten sanft das feuchte Gras. Der Rasen war von einem solch tiefen Grün, wie nur Träume es hervorbringen konnten. Das Herrenhaus stand vor ihr, die Fenster wie dunkle Augen, die Bäume ringsherum verdreht und kahl. Ein einzelner Rauchfaden stieg aus einem der vier Schornsteine empor. Er kräuselte sich, lief wieder zusammen und sammelte sich auf dem Dach genau über der weißen Brüstung.

Eine Gestalt nahm langsam Form an und das Flüstern – »Anna« – einer Frau riss sie aus dem Schlaf, wie in den vielen darauffolgenden Nächten auch.

Sieben, scharf und gerade …

Genau das war der Schmerz: eine Sieben, die in ihre Eingeweide stach.

An dem Tag, als sie erfuhr, dass der Darmkrebs gestreut und sich in ihrer Leber Metastasen gebildet hatten, kam Stephen vorbei. Er hielt ihre Hand und irgendwie schafften es seine Augen, hinter den dicken Gläsern seiner Brille feucht und glasig auszusehen. Sogar der Schnurrbart zuckte leicht.

Aber er war zu praktisch veranlagt, emotional zu abgestumpft, um zu verstehen, was die Diagnose bedeutete. Für ihn war der Tod nicht viel mehr als Pulsstillstand, eine Veränderung der Energiewerte.

So viel zum Thema Seelenverwandtschaft.

Selbst nachdem Anna den Ärzten eine Kolektomie ausgeredet, das Todesurteil akzeptiert hatte, und der Krebs sich im rasenden Tempo auf andere Organe ausbreitete, tat Stephen noch so, als ob die Wissenschaft irgendwann einschreiten und sie retten würde.

Wahrscheinlich betete er sogar zur Wissenschaft, der kältesten aller Gottheiten. Sein Angebot, sie aus dem Krankenhaus nach Hause zu fahren, lehnte sie ab. Sie hatte mittlerweile eingesehen, dass Einsamkeit ein natürlicher Zustand für jemanden war, der bald ein Geist sein würde.

Sechs, Schlaufe mit Schnippchen …

Wunder geschehen, hatte einer der Onkologen zu ihr gesagt. Doch sie erwartete nicht, dass sie in einem Krankenhaus geschahen, wo Schläuche Strahlung in sie hineinpumpten, Klingen einen Teil nach dem anderen von ihr abschnitten, Ärzte ihre dahinschwindenden Tage im Kalender abhakten. Und sie hatte im Krankenhaus aufgehört zu träumen. Erst zurück daheim, in den frühen Morgenstunden und der Ruhe ihres eigenen Bettes, stand das Herrenhaus erneut vor ihr.

Nacht für Nacht wurde der Traum länger und realistischer. Die Gestalt auf dem Dach nahm immer mehr an Form an. Schließlich konnte Anna das in der Ferne liegende Gesicht klar und deutlich erkennen. Das durchsichtige, wie ein Schleier dahin fließende Haar, die kobaltblauen Augen, das einladende Lächeln, der Blumenstrauß, den sie auf der verlassenen Plattform des Witwenstegs vor sich trug. Endlich sah sie, wer die Frau war.

Es war Anna.

Fünf, ein Mann mit Bauch …

Der Schmerz war jetzt weicher, wie Schnee, der sanft und leise auf Blumen herabfällt.

Sie hatte ein wenig recherchiert. Sie wusste, dass sie das Haus nicht nur kannte, weil es sie in ihren Träumen heimsuchte. In den Archiven des Rhine Research Center fand sie ein paar Fakten über Korban Manor. Ephram Korban hatte zwanzig Jahre mit dem Bau seines Anwesens auf der abgelegenen Klippe in den Appalachen zugebracht, und sich dann vom Witwensteg in den Tod gestürzt. Ganz offensichtlich ein Selbstmord. Einige Einwohner der Kleinstadt Black Rock berichteten über Sichtungen, die jedoch meistens als das Gerede des Dienstpersonals abgetan wurden. Eine Investigation kurz vor dem Umbau des Gebäudes in ein Künstlerrefugium hatte keinerlei Daten erbracht und auch nicht die Begeisterung und den Enthusiasmus anderer paranormaler Forscher geweckt.

Doch vielleicht waren diese Wände von Korbans Schmerz, seiner Wut, seiner Liebe, seiner Hoffnung und seinen Träumen durchtränkt wie die Vertäfelung von der Wacholderfarbe. Vielleicht hatten dieses Holz, die Steine und das Glas die strahlende Energie seiner Menschlichkeit aufgesogen. Vielleicht war das Herrenhaus, von dessen Bau er besessen gewesen war, nun sein Gefängnis. Vielleicht war es nicht seine freie Entscheidung, als Geist umherzuwandeln, sondern seine Pflicht.

Vier, ein gehisstes Segel …

Langsam drang sie in die graue Ebene zwischen Schlaf und Bewusstsein und fragte sich, ob sie vom Herrenhaus träumen würde, nun da sie tatsächlich hier war. Sie verschloss ihren Geist vor ihren fünf Sinnen, sodass nur noch der eine übrig war. Der, über den Stephen sich lustig gemacht und den Anna immer vor ihren wenigen Freunden und den vielen Pflegeeltern verborgen hatte. Schließlich war der Grat zwischen Empfindsamkeit und Wahnsinn sehr schmal.

Drei, eine Adlerklaue …

Für einen kurzen Moment schrak sie auf. Etwas schlich hinter der Leiste aus Ahornholz vorbei und huschte die Risse zwischen den Brettern entlang. Sie wollte die Augen nicht öffnen. Sie konnte besser sehen, wenn sie geschlossen waren.

Zwei, ein stolzer Schwan …

Sie spürte, wie Augen auf ihr ruhten. Irgendetwas beobachtete sie, vielleicht ihr eigener Geist, die Frau, die sich in ihren Träumen aus dem Rauch gebildet hatte und die ihr den Blumenstrauß als tödliches Willkommensgeschenk entgegen hielt.

Eins, eine Trennlinie …

Die Grenze zwischen Etwas und Nichts, die Schwelle zwischen Hier und Dort, Bett und Grab, Liebe und Hass, schwarz und weiß.

Null.

Nichts.

Anna war aus dem Nichts gekommen, war ins Nichts hineingeboren worden und ging nun dem Nichts entgegen. Sowohl ihre Vergangenheit als auch ihre Zukunft waren schwarz.

Sie öffnete die Augen.

Niemand war im Zimmer, kein Geist trieb sein Unwesen.

Nur Korbans Gemälde hing da, starr wie getrocknetes Öl, mit Gesichtszügen, die vom flackernden Feuerlicht verdunkelt wurden.

Die Sonnenstrahlen fielen jetzt in einem steileren Winkel in den Raum. Der Schmerz war gewichen. Anna stand auf und ging nach draußen, um auf den Sonnenuntergang zu warten. Sie fragte sich, ob dies die Nacht sein würde, in der sie endlich sich selbst begegnete.