22
In der nächsten Sekunde flog die Tür weit auf und Dr. Horton stand da. Mohr erhob sich eifrig und wedelte mit dem Schwanz, aber der Doktor sah ihn gar nicht, denn seine Augen hingen an Pippa.
»Gott sei Dank!« rief er. »Oh, mein Herz, ich fürchtete schon, du könntest... Ich dachte, du wärst...«
Weiter kam er nicht. Mit drei Riesenschritten durchquerte er das Zimmer, und sie lag in seinen Armen. Und plötzlich wurde es Pippa klar, daß das der einzige Platz war, wohin sie gehörte, und daß die Worte, die er stammelte, genau die waren, nach denen sie sich immer gesehnt hatte.
Leider war alles viel zu schnell vorbei. Er stellte sie wieder auf die Füße und versuchte eine Art Entschuldigung zu stottern, aber Pippa unterbrach ihn. Wie ein Blitz war ihr die Erleuchtung gekommen, was Kitty mit ihrem Gerede über Männer gemeint hatte. Jetzt gab es kein Zittern vor dem Absprung mehr.
»Ich ahnte ja nicht, daß du so fühltest«, sagte sie glücklich, »und von mir wußte ich es auch nicht, bis zu dieser Sekunde. Oh, warum hast du nur nie etwas gesagt?«
Er starrte sie ungläubig an und fragte: »Du — du magst mich also? Pippa, du meinst nicht, daß ich viel zu alt und verstaubt bin?«
Ihre Antwort befriedigte ihn, wenn sie auch keine Worte enthielt, und es dauerte einige Momente, bis sie sich wieder frei machte und fragte: »Weshalb glaubtest du, daß jemand verletzt sei, John? Wie schön, dich John nennen zu können. Vorher hatte ich immer zuviel Angst davor.«
»Du, zuviel Angst? Unsinn. Du fühltest einfach, daß ich zu alt für einen Vornamen bin.«
»Wenn du mit der Leier vom Altsein nicht aufhörst, fange ich an zu heulen. Ich bin schon ganz nah dran — und das magst du bestimmt nicht.«
»Du sollst so viel heulen, wie’s dir Spaß macht, vorausgesetzt, daß du’s vor Glück tust.«
Mindestens zehn Minuten verstrichen, ehe draußen Stimmen erklangen, darunter Kittys betont laut. Gleich darauf kam sie mit Alec herein, tat beim Anblick Dr. Hortons, als fiele sie aus allen Wolken und machte ein geradezu unnatürlich ahnungsloses Gesicht.
»Nanu, wir müssen Ihren Wagen völlig überhört haben, Doktor. Haben Sie ihn unten am Weg stehenlassen?«
Plötzlich erinnerte er sich schuldbewußt, was ihn in solcher Hast heraufgetrieben hatte. Er sah sich um. Pippa war heil und gesund, wo aber steckte Mohr? Und dann erblickte er das schwarze Schwanzende, das unter dem Sofa hervorlugte. Mohr hatte sich wie ein echter Gentleman diskret zurückgezogen. John lachte und versuchte, ihn aus seinem Versteck zu locken, aber Mohr schmollte, und erst Pippa selbst gelang es, ihn wieder zum Vorschein zu bringen, indem sie ihm ausdrücklich erklärte, daß sie ihn noch ebenso liebe wie bisher und ihn auch immer lieben werde.
Nun endlich löste der Doktor das Rätsel.
»Ich konnte die Auffahrt nicht herauf, weil da unten ein Wagen kopfüber im Bach liegt. Nicht sehr beschädigt, aber der Abschleppdienst wird wohl geholt werden müssen, um ihn herauszuziehen.«
»Ein Wagen kopfüber?« Alec war völlig verdutzt. »Aber was für ein Wagen denn?«
Mit einem Mal schrie Pippa auf.
»Oh, doch nicht Balduin...! Sag nicht, daß es Balduin ist! Ich weiß doch, daß ich die Handbremse anzog. Oh, ist er vollkommen kaputt?
»Nur etwas lädiert«, antwortete der Doktor. »Aber ich fürchte, es ist tatsächlich Balduin. Das war’s doch, weshalb ich dachte...« Er beendete den Satz nicht, sondern lief mit Alec aus dem Zimmer.
Kitty legte ihre Hand auf Pippas Arm.
»Geh nicht mit, Pippa. Die Männer werden das schon in Ordnung bringen, und er ist wirklich nicht schlimm beschädigt — nur das Verdeck ein bißchen.«
»Aber woher weißt du denn das? Kitty, was ist los? Du bist kreidebleich, und du zitterst ja... Was ist denn eigentlich passiert?«
»Ach, Pippa, es hat ja alles geklappt, nicht wahr? Ich meine, mit dir und dem Doktor...? Das war’s doch wert, oder nicht? Weil er nämlich zu denen gehört, die kalte Füße kriegen — « Und in den großen, runden Katzenaugen glitzerte es verräterisch feucht.
»Warum fängst du an zu weinen? Ist denn hier alles total verrückt geworden? Ja doch, Kittylein, es ist alles wunderschön — aber woher weißt du?«
Kitty quiekste hellauf vor Lachen.
»O Pippa, du Dummes, ich weiß es seit einer Ewigkeit, und nicht nur ich, jeder andere ebenfalls — über ihn, meinte ich. Wenn du doch dein verwuscheltes Haar sehen könntest! Aber es steht dir gut... das ist eben das Praktische an Naturlocken, finde ich immer.«
Pippa fiel von einer Verwunderung in die andere, aber Kitty schwätzte schon eilig weiter: »Bitte, sei mir nicht böse. Ich hab’s doch nur mit der besten Absicht getan, und schließlich ist ein Wagen leicht zu reparieren, nicht wahr? Leichter als Herzen, finde ich.«
»Kitty, willst du mir nicht erklären, wovon du redest? Ich kann mir das einfach nicht mehr mitanhören.«
Aber in diesem Moment kamen die Männer zurück, und Alec machte ein recht bedenkliches Gesicht.
»Verdammt merkwürdig. Der Wagen ist bestimmt nicht von selber losgerollt, und in der Richtung wäre das auch gar nicht möglich gewesen. Den muß einer die ersten paar Meter gesteuert haben. Pippa, es tut mir entsetzlich leid. Irgend jemand hat sich einen üblen Streich erlaubt. Sie hätten Mohr drin sitzenlassen sollen.«
»Ein Glück, daß ich es nicht tat! Er wäre am Ende getötet worden.«
»Aber niemals«, ließ sich Kitty entrüstet vernehmen. »Nicht um die Welt würde ich ihm ein Haar krümmen.«
Alec schien ihren Einwurf nicht zu bemerken, sondern fuhr fort: »Glücklicherweise ist der Wagen nicht hoffnungslos ruiniert. Den Schaden kann man wieder richten, und Sie sind doch versichert, nicht wahr? Aber ich will lieber sofort die Polizei anrufen...«
Jetzt fing Kitty im Ernst zu weinen an. Sie lief zu Alec und versteckte ihr Gesicht an seiner Schulter. Alec, an derlei Gefühlsausbrüche hinreichend gewöhnt, tätschelte sie zerstreut mit der einen Hand, während er mit der anderen im Telefonbuch blätterte, bis mit einem Mal Kittys erstickte Stimme hörbar wurde: »Alec, versprich mir, daß du nicht schimpfst. Pippa wird bestimmt auch nicht böse sein, das weiß ich... Ich wollte doch nur, daß er den Hügel ‘runter und in den Bach rollt. Es sollte nur wie ein Unfall aussehen und so, als ob Pippa sich dabei verletzt hätte — und dann kippte er plötzlich ganz um. Autos sind scheußliche Biester.«
Er schob sie mit versteinerter Miene von sich. »Willst du uns gefälligst sofort erklären, was du da faselst?« forderte er sie streng auf. »Du hast doch nicht etwa an Pippas Wagen herumgefummelt?«
Und als sie nur stumm und verzagt nickte: »Aber weshalb denn, in Teufels Namen?«
Sie schnupfte.
»Ich wollte, du würdest nicht immer fluchen, Alec, wo du weißt, wie ich es hasse... Ach, es ist so peinlich zu erklären vor euch allen.«
»Peinlich oder nicht, ich verlange die Wahrheit von dir.«
»Jetzt brüllst du mich schon wieder an, das macht mich noch krank. Man darf werdende Mütter nicht grob behandeln, nicht, Doktor? Also wenn du’s genau wissen mußt — ich wollte nur einen kleinen Schubs zum Nachhelfen geben.«
»Wem? Dem Wagen?«
»Nein, natürlich nicht. Pippa und dem Doktor. Alec, du hast in manchen Dingen genauso eine lange Leitung wie alle Männer, und deshalb habe ich es dir auch nicht erzählt. Ich wußte, daß sie ineinander verliebt waren, aber er hatte irgendeine fixe Idee, daß er zu alt sei, und Pippa stellte sich auch so dumm an, statt ihm zu helfen. Du erinnerst dich doch noch, wie du herumgedruckst hast, das ist sehr nervenaufreibend für ein Mädchen. Und da dachte ich mir, wenn er glaubt, Pippa sei verunglückt und findet sie dann hier heil und gesund vor — ja, ich wußte, dann würde er Hals über Kopf losspringen, und so war’s auch, nicht wahr, Doktor?« schloß Kitty triumphierend, und im Nu waren alle ihre Grübchen wieder da.
Alec starrte entgeistert auf seine Frau, aber der Doktor erwiderte: »Ich danke Ihnen, Kitty. Von nun an dürfen Sie meinetwegen jede Woche einmal eine Fehlgeburt haben, wenn Ihnen danach zumute ist«, und beide lachten sich verständnisinnig an.
»Was ich nur nicht begreife«, sagte Alec langsam, »was hast du eigentlich getan? Erzähl mir nicht, daß du in den Wagen gestiegen bist und die Bremsen gelockert hast?«
»Natürlich, sonst hätte er ja doch nicht rollen können, das müßtest du doch selbst wissen, Alec. Ich habe vorher alles genau geplant. Deshalb bat ich zuerst Pippa, Mohr zu holen, weil er mich nicht an den Wagen gelassen hätte, dann schickte ich euch beide zum Spazierengehen weg und tat es.«
»Was tatest du?«
»Das, was du eben sagtest. Aber ich hatte nicht gewollt, daß er so wahnsinnig schnell losfuhr, und so konnte ich die Bremse nicht mehr rechtzeitig anziehen. Da dachte ich, das beste ist ‘rausspringen, und ich habe mich auch nicht verletzt, weil der Boden ganz weich war, aber wenn du mich weiter so wütend anglotzt, Alec, dann rege ich mich wieder auf, und das schadet mir.«
»Gibst du allen Ernstes zu, dein Leben — und das meines Kindes — riskiert zu haben für einen dummen Streich?«
»Also hör mal, schließlich ist es ebenso mein Kind, und wenn du das einen dummen Streich nennst, seinen besten Freunden zu helfen, na danke schön. Ich finde immer, man soll für andere tun, was man nur irgend kann, und nicht nur an sich selbst denken, ich meine, auf ihr Leben einen fördernden Einfluß ausüben und ihnen helfen. Wahrscheinlich komme ich nur auf solche Gedanken, weil ich jetzt Mutter werde, nicht, Doktor.«
Todernst und ohne Pippa anzublicken, antwortete er: »Nicht unbedingt. Ich kenne Leute, die von derselben Idee besessen sind, ohne daß sie einem freudigen Ereignis entgegensehen. Es ist äußerst gefährlich und offenbar sehr ansteckend...«
Als es Pippa und dem Doktor endlich gelang, miteinander zu flüchten, schnurrte Kitty schon wieder wie ein Kätzchen vor Wonne, und während sich die Tür hinter ihnen schloß, konnten sie gerade noch Alecs Worte hören: »Ja, mein Schatz, du warst ungeheuer mutig und selbstlos, aber trotzdem mußt du mir versprechen...«
Als sie an die Küste kamen, wo für Pippa an jenem Novemberabend alles begonnen hatte, hielt John an. Mohr lag friedlich auf dem Rücksitz, zwar noch leicht verwirrt und gekränkt, aber doch in dem ahnungsvollen Bewußtsein, daß seine Welt fortan die beiden Menschen einschließen würde, die er am meisten liebte, und damit fand er sich getröstet ab.
Nach einer kleinen Weile sagte Pippa: »Armer kleiner Balduin. Ihn da kopfüber die ganze Nacht im Wasser liegenzulassen, ist mir fürchterlich... Hast du einen mächtigen Schreck gekriegt, als du ihn sahst?«
»Wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Aber wie dem auch sei, Hut ab vor Kitty.«
»Ja, und dabei hat sie einen Heidenbammel vor Autos. — Dies ist beinah die Stelle, wo mich Alec damals fand. Komisch, mit Kitty fing es an und mit Kitty hört es auf.«
»Nichts endet, im Gegenteil, jetzt beginnt es erst.«
Dann kamen sie auf Pam zu sprechen. Pippa hatte einen Brief von ihr erhalten mit bunten Schilderungen über ihre Erlebnisse und das Treiben in Sydney, und am Schluß schrieb sie: »Bis jetzt hat mir das Leben meine kühnsten Erwartungen erfüllt, und die Ehe ebenfalls. Wird’s von Dauer sein? Das Risiko und die Ungewißheit machen alles noch mal so spannend.«
»Nach meinem Geschmack wäre das nicht«, meinte sie sinnend. »Diese Art Glück würde mir nicht gefallen. Ich wünsche mir eins, das nur uns gehört — und das stabil ist.«
»Bist du sicher, daß es nicht zu gemächlich für dein Tempo wird? Mit einem elf Jahre älteren Eheherrn, einem würdigen, gesetzten Onkel Doktor?«
»Diese Frage zu beantworten lehne ich in Zukunft strikt ab... Merkwürdig, daß du überhaupt nicht gesetzt und verknöchert oder gar bitter geworden bist, nicht mal nach — nach Anne. Solange ich dich kenne, hast du lachen können — sogar in der Nacht, als du den geschmuggelten Alkohol verstecktest.«
»Ich glaube, in der Nacht habe ich erst wieder lachen gelernt, und seitdem scheint es ein Dauerzustand geworden zu sein.«
»Wir wollen immer lachen«, erklärte sie zuversichtlich, doch plötzlich überfiel sie ein wehmütiger Gedanke.
»Es wird mir sehr schwer werden, mich von meiner Leihbücherei zu trennen und die Tür für immer zuzumachen. Ich habe so viel Freude daran gehabt — an meinem ersten eigenen Besitz.«
»Dann behalte sie doch. Setz jemanden hinein, und wenn dich die Sehnsucht danach packt, gehst du hin und schaust nach. Wie wäre es denn mit Doris? Sie würde Freude daran haben und auch Amanda liebend gern adoptieren. Laß ihr die Einnahmen aus der Bücherei, und du kannst trotzdem das Gefühl haben, daß sie dir gehört.«
»James würde das unökonomisch nennen.«
»Soll er. Wir leisten uns eben zwei Steckenpferde — die Leihbibliothek und Mohr.«
Als er schließlich den Wagen wieder startete, um nach Hause zu fahren, sagte sie: »Weißt du, John, neulich dachte ich so darüber nach, daß in Wirklichkeit nicht ich >vorübergegangen< bin, sondern du. Du hast den Leuten geholfen und ihrem Leben eine Wendung gegeben, so war’s bei Freddy, bei Douglas und bei Kitty. Sogar als ich Sam West in der Zange hatte, kamst du im richtigen Moment. Du bist sicher all die Jahre wie ein guter Geist >vorübergegangen< und hast nie Aufhebens davon gemacht.«
»Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Landarzt«, schmunzelte John. »Aber sag, wirst du dich in dem alten Haus auch wohl fühlen? Du kannst natürlich daraus machen, was du willst.«
»Ich liebe es schon jetzt, wie es ist. Aber wie wird sich Bates zu allem stellen? Du wirst dich sicher nicht von ihm trennen wollen, und er lehnt mich vielleicht ab.«
»Im Gegenteil, er schätzt dich sehr. Gerade neulich ließ er mit unerhörter Zartheit durchblicken, was für ein patentes Mädel du seist und wie glücklich der Mann sein könnte, der dich mal bekäme. Und dann verstieg er sich noch zu der Bemerkung, eine Frau im Haus sei doch unentbehrlich. Kurz und gut, Bates hat seine Einwilligung gegeben. Glaubst du, es mit ihm aufnehmen zu können?«
»Ich mag es gar nicht, wenn du an meinen Fähigkeiten zweifelst wie die anderen. Laß mich nur machen und sei unbesorgt. Der Plan mit Doris ist prima. Weißt du, John, ich habe mir überlegt, daß Doris genau die richtige Frau für Freddy wäre, und darum will ich...«
Er lachte laut auf.
»Du bist wahrhaftig ein hoffnungsloser Fall. Und das Schlimme daran ist, daß du als Arztfrau ein reiches Betätigungsfeld für deine Mission finden wirst. Was habe ich mir da aufgeladen! James wird mich sicherlich von ganzem Herzen bedauern.«
»O John«, rief Pippa glückstrahlend, »wie wunderschön, jemanden zu haben, mit dem man immer lachen kann. Das Ganze wird ein Riesenspaß werden!«
ENDE