16
Pippa stieg langsam den Weg hinauf und ging auf das stille Haus zu. Es sah im Halbdunkel leer und verlassen aus. Weder im oberen Stockwerk noch in den unteren Räumen, die zur Auffahrt hinauslagen, brannte Licht. Auf den von kurzgeschorenem Gras bedeckten Pfaden machten ihre Schritte kein Geräusch. Sie hoffte sehnlichst, an einem der Fenster plötzlich das freundliche, bekümmerte Gesicht von Douglas zu entdecken; er würde sofort heruntergelaufen kommen, seinen Wagen holen und sie abschleppen oder ein paar seiner Leute zu Hilfe rufen.
Aber kein Laut, kein Lebenszeichen war zu hören. Pippa näherte sich zaghaft dem breiten Terrassenvorbau und klopfte an das Portal. Eine Klingel schien nicht vorhanden zu sein, und abgesehen davon hätte sie sie auch aus Furcht, durch ihren schrillen Lärm das ganze Haus aufzustören, nicht benutzt. Sie pochte dreimal und wartete unschlüssig. Es war spät, und vielleicht wäre es eine bessere Idee, die Wirtschaftsgebäude ausfindig zu machen und von dort Unterstützung zu holen. Aber verflixt, es mußte doch jemand dasein? Sie fühlte sich unbehaglich und wünschte inbrünstig, Pams Hupe würde plötzlich ertönen.
Aber das Schweigen schien sich immer dichter um sie zu schließen, eine seltsame bedrückende Stille. Sie schüttelte ihre unerklärliche Furcht ab und beschloß, durch den Hintereingang ins Haus zu gelangen. Ein breiter Weg lief seitlich an den hohen Glastüren entlang, und zu ihrer Erleichterung sah sie ein Fenster erleuchtet, als sie um die Ecke bog. Also war doch jemand daheim, und den merkwürdigen Eindruck von Leere und Verlassenheit hatte ihr nur ihre rege Phantasie vorgetäuscht. Sie ging darauf zu und schaute hinein.
Es war ein Raum von großzügigen Ausmaßen, anscheinend das Schlafzimmer des Hausherrn. Natürlich, dachte sie, Nelson Warren mußte ja mit Rücksicht auf seine Körperbehinderung im Erdgeschoß wohnen. Sie warf noch einen raschen, etwas schuldbewußten Blick hinein, sah die Umrisse eines breiten Bettes und einen Tisch am Fenster. Dann hastete sie weiter. In der Küche würde doch bestimmt jemand sein, der ihr helfen konnte.
Die Wirtschaftsräume waren ebenfalls mit altmodischer Weitläufigkeit angelegt, geeignet, ganzen Scharen von Personal Platz zu bieten. Jetzt, so hatte sie gehört, wurde die Hausarbeit nur noch von einem älteren Ehepaar und dessen Tochter besorgt. Die Küchentür stand offen, und sie steckte den Kopf hinein. Der Raum war groß und bequem, mit einem riesigen Herd und sogar ein paar behaglichen Korbstühlen. Der anheimelnde Anblick beruhigte sie.
Aber wieder hatte ihr Klopfen keinen Erfolg. Die Küche war leer, und in Anbetracht dessen, daß Mr. Warrens Zimmer weit weg lag, wagte sie zu rufen. Doch keine Antwort kam. Offenbar hatten die Leute gerade heute ihren freien Abend.
Es blieb ihr nichts weiter übrig, als zu Pam zurückzugehen und sich vielleicht mit ihr zusammen nach den Unterkünften der Farmarbeiter auf die Suche zu machen, die sicherlich ein gutes Stück vom Herrenhaus entfernt lagen. Sie hatte schon geraume Zeit nutzlos vertan, und es war jetzt fast dunkel. Unwillkürlich hielt sie sich im Schutz der Hecke, die um das Haus lief, um zu vermeiden, daß Mr. Warren, falls er zufällig aus dem Fenster schauen sollte, sie zu abendlicher Stunde durch seinen Park schleichen sah. Wie sollte sie ihre Anwesenheit überhaupt erklären, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß sie vorsätzlich einen Weg benutzt hatte, an dem groß und breit ein Schild prangte >Zutritt streng verboten<?
Sie eilte lautlos weiter bis an das erleuchtete Fenster, dessen Vorhänge zurückgezogen waren, als ein plötzlicher Impuls — nicht nur Neugier oder Furcht, eher eine Mischung von beidem — sie zwang, einen Blick hineinzuwerfen. Und in diesem Moment prägte sich ihr ein Bild ein, das sie noch wochenlang verfolgen sollte.
Douglas Warren beugte sich über den Tisch am Fenster, und ihr erster Gedanke war, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und Hilfe zu erbitten. Aber während sie noch zögerte, sah sie im Schein der Lampe sein Gesicht, und in diesen Zügen hatte eine derartige Veränderung stattgefunden, daß Pippa mäuschenstill stehenblieb und ihn anstarrte. Sein sonst so offener, gutmütiger Ausdruck war wie weggewischt, er wirkte auffallend scheu und verdächtig und schielte immerfort nervös über die Schulter, als fürchte er, der Mann, dessen im Bett ausgestreckte Gestalt Pippa undeutlich zu erkennen vermochte, könne ihn beobachten. Aber Nelson Warren lag still, anscheinend schlafend da, und Pippa sah, wie Douglas ein Glas nahm, es vorsichtig mit der Hand umschloß, und eine Flüssigkeit hineingoß. Um welche Arznei es sich handelte, konnte sie nicht erkennen, denn die Flasche stand unterhalb des Fensterkreuzes, aber über der ganzen Szene lag etwas so Sonderbares, daß sie sich eilig abwendete und davonlief. Doch dann hielt sie wieder inne und versuchte, sich selbst Vernunft zuzureden. Wovor hatte sie denn Angst? Das war doch Douglas, den sie so gern mochte, sie brauchte nur seinen Blick auf sich zu lenken, und er würde leise zu ihr herauskommen, ohne daß sein Bruder etwas davon merkte. Sie mußte ihm nur vorsichtig durch das offene Fenster zurufen.
Sie kehrte um, doch nach ein paar Schritten zögerte sie aufs neue. Über dem Bild hatte etwas so seltsam Unnatürliches gelegen, wie bei einer Theaterszene. Und plötzlich packte sie wieder eine grundlose Furcht, sie schlüpfte in den Schatten der Hecke zurück und sah gerade noch, wie Douglas, immer das Glas sorgsam mit der Hand umschließend, sich zum Bett wendete. Da wartete Pippa nicht mehr länger, sondern rannte, so leise und so schnell sie konnte, dem Ausgang zu.
Als sie beim Parktor anlangte, hörte sie die Dreiklanghupe von Pam und schrie beinah vor Freude. Zwei junge Burschen, die auf dem Weg zur Garage waren, um ihren Wagen zu holen, waren stehengeblieben und sprachen mit Pam. Sie hatten schon ihre gute Kluft für den Samstagabendausgang an, versicherten den Mädchen aber trotzdem, daß sie ihnen >einen kleinen Schubs< geben wollten, und wenn das nichts nützte, ihre eigene alte Karre holen und den schicken neuen Wagen das Stück hinaufziehen würden.
Das erwies sich jedoch als unnötig, denn der >kleine Schubs<, von Pippa mit schwachen Kräften unterstützt, war so schwungvoll, daß die Anhöhe mit Leichtigkeit bezwungen wurde. Sie stellten auch keine überflüssigen Fragen, worüber Pippa sehr froh war, denn sie hätte nur höchst ungern zugegeben, daß sie sich unbefugt Zutritt verschafft hatten. Es gab noch ein paar Pflaumereien hin und her, von den Mädchen ein erleichtertes Dankeschön, und der Wagen rollte bergab, die grinsenden Burschen hinter sich lassend.
»Und wenn Sie wieder festsitzen — wir kommen hinterher und nehmen Sie ins Schlepptau. Wir wollen sowieso nach Rangimarie.«
Das war ein beruhigender Gedanke, aber zum Glück brauchten sie keine Hilfe mehr. Der Wagen raste den steilen Hügel hinab, spuckte ein paarmal, der Motor lief, und alles war in schönster Ordnung.
»Dem Himmel sei Dank«, sagte Pam. »Immerhin, ich bin froh, daß diese Burschen vorbeikamen. Was hast du erreicht? Keinen angetroffen?
»Ich konnte niemanden heraustrommeln, weder vorn noch hinten.«
»Aber die beiden Warrens müßten doch dagewesen sein.«
»Waren sie auch. Ich sah von außen in Mr. Warrens Schlafzimmer, und Douglas war drin, aber — « Weshalb sprach sie nicht weiter? Warum erzählte sie nicht, wie verändert Douglas gewirkt hatte, so finster und geheimnisvoll, daß sie zu bange gewesen war, sich bemerkbar zu machen? Pippa wußte selbst nicht genau, weshalb sie schwieg, nur daß ihr jetzt, in sicherer Entfernung von dem stillen Haus, alles ziemlich blöde und lächerlich vorkam. Was auch immer der Grund sein mochte, sie beendete den Satz mit der lahmen Ausrede: »Aber er schien so sehr mit seinem Bruder beschäftigt, daß ich ihn nicht stören wollte.«
»Laß nur, ganz gut, daß du’s nicht tatest. So erfahren sie wenigstens nicht, daß wir bei ihnen eingedrungen sind. Da haben wir noch mal Glück gehabt, und hoffentlich schaffen wir’s auch bis nach Hause, aber ich muß Freddy sofort Bescheid sagen, daß er den Schlitten überholt.«
»Wir kommen nun recht spät zurück nach all unseren Abenteuern. Wolltest du mit Mark nicht auch ins Kino gehen?«
»Ach, das haben wir uns wieder anders überlegt«, erwiderte Pam, eine Spur zu unbekümmert. »Mir ganz recht, denn ich habe für heute genug.«
Sie aßen recht schweigsam ihr Abendbrot, und nach einer Weile fragte Pam: »Was ist dir, Liebling? Du bist käseweiß und zu Tode erschöpft. Mir scheint fast, dich bedrückt irgend etwas, oder verfolgt dich nur der Anblick des großen, stillen Hauses? Es wirkte auch tatsächlich sehr unheimlich und tragisch. Aber das tun fremde Häuser oft im Dämmerlicht, besonders, wenn man in einem streikenden Wagen sitzt und Hilfe sucht.«
»Ich bin nicht erschöpft und fühle mich auch vollkommen wohl, aber laß uns heute mal früh zu Bett gehen. Ich friere vor Müdigkeit.«
»Du frierst? Du, das wäre doch ein Grund, den Kamin anzustecken, das erste Kaminfeuer in diesem Jahr. Eine prima Idee. Da könnten wir gleich ein paar von unseren Ästen verbrennen. Aber nein, das lohnt sich nicht, du siehst wirklich wie ein Gespenst aus. Du nimmst jetzt ein heißes Bad.«
Das mit dem Bad war jedesmal ein Problem. Man mußte dazu einige Benzinkanister voll Wasser zum Kochen bringen, sie zu dem dunklen, zugigen Verschlag im Schuppen schleppen, und dort ging dann die Prozedur beim Licht einer flackernden Kerze vor sich, während Mohr ernst und feierlich vor der mit einer Decke verhängten Tür Wache hielt. Meistens gab es dabei viel Spaß und Gelächter, aber heute abend fühlte sich Pippa höchst ungemütlich, und sie war froh über Mohrs schützende Gegenwart. Sie ertappte sich sogar dabei, daß sie ängstlich in schummerige Ecken schielte und sich überhaupt wie ein dummes kleines Mädchen benahm, dem eine schaurige Gespenstergeschichte erzählt worden ist.
An Pams Seite und mit Mohr dicht neben dem Bett verschwand dieses Gefühl glücklicherweise, und sie schlief sehr rasch ein. Gegen Mitternacht jedoch wachte sie unter einem beklemmenden Alpdruck auf. Jemand beugte sich über ihr Lager, hielt ein Glas mit der Hand umschlossen und wollte sie zwingen, den Inhalt zu trinken. Sie stieß einen so entsetzten Schrei aus, daß Pam aufschrak und Mohr mit lautem Knurren in die Höhe fuhr.
»Es ist nichts«, stammelte sie und merkte zu ihrem Ärger, daß sie schlotterte. »Absolut nichts... Ruhig, Mohr. Sei still. Nein, keine Räuber. Keine Einbrecher oder böse Männer. Verzeih, Pam, es war nur ein schlechter Traum. Ich lag krank im Bett, und jemand versuchte, mir Medizin einzuflößen.«
»Na, wenn’s John war, dann wird er doch sicher so sanft mit dir umgegangen sein, daß du nicht so zu schreien brauchst. Leg dich hin, Pippa. Du wirst morgen länger im Bett bleiben, es ist sowieso Sonntag.«
Es war Freddy, der ihnen am nächsten Morgen die Neuigkeit verkündete.
Pippa hatte endlich tief und fest geschlafen und wachte erst auf, als Pam ihr um acht Uhr eine Tasse ans Bett brachte. Ein paar Minuten später kam Freddy zum Schuppen, und Pam ging hinaus, um ihm über ihre ärgerliche Panne zu berichten.
Er hörte mit sachkundigem Ernst zu, bezeichnete als Ursache des Übels >dieses Dreckzeug von Benzin, das sie einem hier andrehen<, schloß aber wie gewöhnlich mit den zuversichtlichen Worten: »Machen Sie sich man keine Sorgen, Miss, das kriege ich heute nachmittag im Nullkommanichts wieder hin, und vorher brauchen Sie ihn ja nicht, was?«
Pam verneinte und war schon im Begriff, zu Pippa zurückzukehren, als Freddy beinah schüchtern fragte: »Am Ende haben Sie das Neueste noch gar nicht gehört, Miss?«
»Gar nichts habe ich gehört, Freddy. Ich komme gerade aus dem Bett.«
»Nämlich, Mr. Warren soll gestern abend gestorben sein.«
»Allmächtiger! Welcher Mr. Warren?«
»Mr. Nelson, Miss Mannering. Der, der schon immer so arm dran war. Sicher war das für ihn, wie man so sagt, eine Erlösung. Hat ‘ne Menge zu leiden gehabt und soll auch ein sehr schwieriger Mensch gewesen sein, erzählen die Leute, der arme Herr.«
»Na, da bin ich aber froh, daß es ihn erwischt hat und nicht seinen Bruder«, erwiderte Pam ohne einen Funken vornehmer Zurückhaltung. »Ich glaube, Sie haben recht, Freddy, eine Erlösung für alle.«
Sie konnte es kaum erwarten, Pippa >die glückliche Nachricht<, wie sie es nannte, zu überbringen.
»...nanu, du siehst ja ganz angegriffen aus vor Freude. — Nein, ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube. Ich finde es einfach wunderbar, besonders für Jane. Was ist los, Pippa? Ich dachte, du würdest brüllen vor Begeisterung.«
»Erwähnte Freddy, um welche Zeit er starb?« fragte Pippa langsam. »O nein, es ist nichts weiter, Pam, nur, daß wir so dicht in der Nähe waren. Womöglich ist er gerade gestorben, als ich ins Fenster sah.«
Und während sie das sagte, stieg wieder das Bild vor ihrem Auge auf: die stille Gestalt auf dem Bett, das verstohlene Hantieren mit dem Glas, die ganze geheimnisvolle, rätselhafte Atmosphäre. Aber sie war wohl vollkommen verrückt, wahrscheinlich hatte sie sich das alles nur eingebildet. Trotz dieser vernünftigen Vorhaltung klapperte sie mit den Zähnen, so daß Pam sagte: »Liebling, sei doch nicht so irrsinnig nervös. Man könnte denken, du wärst dem Geist des alten Nelson begegnet oder hättest dich diesmal nicht mit Erpressung begnügt, sondern den Griesgram in menschheitsbeglückender Absicht gleich persönlich umgebracht... Ein vergifteter Pfeil durchs offene Fenster wäre wohl in diesem Fall die geeignete Methode in einem Kriminalroman!«
Aber das unbestimmte Gefühl der Spannung verließ Pippa während des ganzen wunderschönen, sonnigen Sonntagmorgens nicht. Auf Pams Wunsch kletterten sie zu ihrem Lieblingsplatz im Pohutukawa-Baum hinauf, von wo man den Blick über das schimmernde Meer genoß, und saßen dort mit ihren Büchern, nachdem sie Amandas hartnäckige Versuche, ihnen Gesellschaft zu leisten, vereitelt hatten. Hier fand sie Dr. Horton gegen Mittag.
»Erzählen Sie mir nicht, daß es bequem ist da oben.«
»Ideal, wenn man sich ein Kissen unterschiebt«, antwortete Pam vergnügt. »Was fehlt Ihnen denn? Sie machen ja einen ganz vergrämten Eindruck.«
»Bin ich auch ziemlich... Würden Sie beide bitte mal auf ein Wort ‘runterkommen? Ich will mir nicht den Hals brechen — und das, was ich zu sagen habe, läßt sich nicht so ausposaunen.«
Wieder überkam Pippa diese bange Ahnung. Der Doktor sprach in der Regel nicht so ernst. Sie folgte Pam nach unten.
John Horton musterte sie einen Moment und fragte: »Um Pam zu zitieren: Was fehlt Ihnen denn — gestern abend gelumpt?«
»Nein, wir sind ausnahmsweise um neun zu Bett gegangen. Mir fehlt nichts. Was wollten Sie uns sagen?«
Er begleitete sie ins Haus, setzte sich aber nicht.
»Es hat ein Unglück gegeben in Warrenmede.«
»Wissen wir schon«, warf Pam lebhaft ein. »Ist das nicht wunderbar?«
Er sah sie mit unbewegter Miene an und fragte: »Woher haben Sie es erfahren?«
»Freddy erzählte es uns. Wahnsinnig aufregend, weil Pippa und ich nämlich gestern abend dort waren, sozusagen an Ort und Stelle. Schuld war ich. Ich las dieses unhöfliche Schild mit >Privatgrund< und >Zutritt streng verboten<, und da juckte es mich, nun erst recht hinzufahren und mal ‘reinzugucken.«
»Ja. Ich hörte davon — daß Sie dort waren und daß Ihr Wagen steckenblieb. Deshalb komme ich.«
»Sicher haben Ihnen die netten Burschen erzählt, daß sie uns den Berg hinaufschoben, nachdem Pippa erst das ganze Haus durchstöbert hatte, um jemanden zu finden?«
»Das Haus durchstöbert? Gingen Sie hinein? Was haben Sie gesehen?«
»Ich ging gar nicht hinein und sprach auch mit niemandem.«
Weshalb wich sie aus? Sie konnte doch einfach sagen: >Ich sah alles durchs Fenster.< Nicht, weil sie sich schämte, daß sie spioniert hatte. Der Doktor war nicht der Mensch, vor dem man sich schämen mußte... Nein, nur die unbehagliche Erinnerung an Douglas’ Gesicht und das in der Hand verborgene Glas.
Aber Horton sprach schon wieder: »Ich bin froh, daß Sie niemanden sahen. Dann ist es auch nicht nötig, daß Sie in die Geschichte hineinverwickelt werden.«
»Hineinverwickelt? Was meinen Sie damit?«
»Das klingt spannend«, rief Pam dazwischen. »Ein düsteres Geheimnis in einem verlassenen Haus. Bitte, erzählen Sie weiter.«
Etwas im Gesichtsausdruck des Arztes ließ ihr Lächeln erstarren.
Er erklärte ruhig: »Der arme Nelson starb an einer Überdosis seines Schlafmittels.«
Aus Pippas Mund kam ein erstickter Laut, und ihr Gesicht wurde so weiß, daß Horton sagte: »Sie sind wirklich überanstrengt. Setzen Sie sich lieber, das könnten wir übrigens alle tun. Kein Grund, die Sache zu tragisch zu nehmen, der arme Mann hat’s jetzt viel besser. Aber es überraschte mich im ersten Moment, weil man immer behauptet, Menschen, die damit drohen, sich das Leben zu nehmen, tun es nie. Nun, es war eben eine Ausnahme.«
»Soll das heißen — « Pippa hörte ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne, »- soll das heißen, daß er — Selbstmord beging?«
»Ja. Ich glaube nicht, daß es ein verhängnisvoller Irrtum war, obwohl die Möglichkeit natürlich immer besteht. Aber es war gerade in letzter Zeit eine auffallende Verschlechterung in seinem Zustand eingetreten, und Hoffnung auf Besserung gab es für ihn nicht. Erst vor drei Tagen sagte er zu mir, sein Leben sei die Hölle auf Erden, und wenn ich wirklich sein Freund wäre, würde ich ihm hinüberhelfen.«
»Warum in aller Welt taten Sie’s nicht?« fragte die unverantwortliche Pam.
»Ärzte töten ihre Patienten nicht vorsätzlich«, erwiderte er mit stoischer Gelassenheit, ließ aber, während er sprach, kein Auge von Pippa. Bei jedem anderen Mädchen hätte er geschworen, sie würde im nächsten Moment umkippen, bei ihr bestand zumindest kein Zweifel, daß sie einen Schock erlitten hatte. Wer hätte auch vermutet, daß sie Nelson Warrens Tod so schwernehmen würde? Er fragte sanft: »Weshalb regen Sie sich so auf? Er hat ein leichtes Ende gehabt, sein Leben war elend genug.«
»Ich — ich weiß nicht, vielleicht weil wir da waren und das Haus so kalt und einsam und traurig aussah.«
»Vom Personal war niemand da, ein ungewöhnlicher Umstand. Douglas war ganz allein bei seinem Bruder, und das ist das Unangenehme an der Sache.«
»Weshalb? Was meinen Sie?« Pippa hatte das Gefühl, in ganz natürlichem Ton gefragt zu haben, aber Pam schoß ihr einen überraschten Blick zu.
»Na, ja, der gute Douglas macht sich jetzt Vorwürfe, gerade im entscheidenden Augenblick versagt zu haben, und das nach all den Jahren. Er war übermüdet, hatte beinah die ganze letzte Nacht bei Nelson gewacht und wahrscheinlich die vorangegangene ebenfalls. Er wußte, daß sein Bruder Aufsicht und Pflege brauchte, schlief aber ein und versäumte dadurch, was geschah. Als die Hausleute um zehn Uhr zurückkamen und einer von ihnen nachschauen wollte, ob noch etwas nötig sei, fand man Nelson tot und den armen Douglas in festem Schlaf. Das kann er sich nicht verzeihen.«
In festem Schlaf. Pippa sah wieder das ängstlich verstohlene Gesicht vor sich und das Glas, das er so sorgsam mit der Hand schützte. Er hatte sich zum Bett umgewendet, als sie wegrannte — und nicht geschlafen. Er war endlich unter der dauernden Belastung zusammengebrochen und hatte seinen Bruder getötet... und sie war die einzige, die davon wußte...
Die Stimme des Doktors schreckte sie aus ihren Grübeleien.
»Ich würde an Ihrer Stelle wieder ins Bett gehen. Versuchen Sie, anderer Leute Angelegenheiten nicht so furchtbar tragisch zu nehmen. Glücklicherweise trafen Sie niemanden, und so haben Sie auch nichts mit der Geschichte zu tun.«
Um ein Haar hätte sie gesagt: >Ich sprach allerdings mit keinem, aber ich sah alles. Ich beobachtete, wie Douglas seinem Bruder das Schlafmittel gab.< Der Doktor war der einzige Mensch, dem sie sich hätte anvertrauen können. Aber sie preßte die Lippen fest aufeinander. Nein, das wäre nicht anständig. Sie wollte niemandem eine derartige Last auf die Schultern wälzen, auch wenn sie nicht so stark waren. Und Douglas verraten — niemals!
Ach, warum hatte ausgerechnet sie dort sein müssen; Pippa war einmal zu oft vorübergegangen.